Vor 50 Jahren starb Martin Buber
Neuausgabe seiner Erzählungen der Chassidim
vorgestellt von Hans Maaß

Schon der Einband mit der Wiedergabe eines Chagall-Bildes weckt Interesse und lässt gerne zu diesem eindrucksvollen Buch greifen.

In seinem Nachwort gibt Michael Brocke einen kurzen Überblick über Bubers Begegnung mit den Zeugnissen chassidischen Judentums in der heutigen Ukraine vom 18. Jh. bis zum Ausgang des 19. Jh., wie es u.a. in Joseph Roths „Juden auf Wanderschaft“ sichtbar wird. Immer wiederkehrende zentrale Begriffe werden dabei als bekannt vorausgesetzt bzw. im Verzeichnis „Wichtige Namen und Begriffe“ erklärt. Zum besseren Verständnis sollen allerdings zwei zentrale Begriffe hier kurz erläutert werden. „Chassidim“ bedeutet die „Frommen“ und ist Bezeichnung der Anhänger ihres geistigen Führers, des „Zaddik“, eigentlich „Gerechter“, Buber bevorzugt aber wie in seiner Bibelübersetzung die Bezeichnung „Bewährten“.

Seine Anthologie zeichnet nach Brocke die Tatsache aus, dass hier nicht nur der frühe Chassidismus oder religionsphilosophische Erörterungen zu Wort kommen, sondern auch Vertreter „des mehr und mehr dynastisch vererbten »Zaddikismus«. Wir erfahren dabei, dass Buber nur etwa zehn Prozent seiner reichhaltigen Sammlung ausgewählt und stilistisch bearbeitet hat und zeitlebens da­rauf bestand, „dass nicht die »esoterische Lehre«, sondern die vitale Erzählliteratur das innerste Leben der Gemeinschaften und ihrer Generationen widerspiegelt.“ Brocke verschweigt auch nicht, dass Buber mit seiner Art der Weitergabe auf Kritik stieß, u.a. auch weil er seine Quellen nicht in allen Fällen „preisgab“. Kennzeichnend für diese Erzählungen sei: „Buber entlastet die Geschichten vom »Ballast« des historischen Kontextes und stutzt sie auf die wesentliche Aussage zurecht.“ Dies macht Brocke an Beispielen deutlich, teilweise auch in Gegenüberstellung zu Bubers Vorlagen. Dabei bleibe die „kabbalistische Komplexität“ oft auf der Strecke bzw. dem Leser „erspart“. So kommt Brocke zu dem Urteil, bei Buber trete „der Chassidismus als stärker der Welt geneigt und ihr zuge­wandt auf, als es der vehemente religiöse Ausbruch einst wollte und weiterhin will“, aber er habe es geschafft, „die heilsame Kraft der Erzählung herauszu­stellen.“

Entsprechend beginnt auch Bubers eigenes Vorwort: „Dass Chassidim sich von ihren »Zaddikim«, von den Führern ihrer Gemeinschaften, Geschichten erzählen, das gehört zum innersten Leben der chassidischen Bewegung. Man hat Großes gesehen, man hat es mitgemacht, man muss es berichten, es bezeugen.“ Wie er sich den Entstehungsprozess vorstellt, beschreibt Buber: „Wir können am Beispiel der Baalschem-Legende verfolgen, wie die legendäre Überlieferung im Chassidismus sich entwickelt. Familienlegende und Schülerlegende umfließen geheimnisvolle Vorgänge als Andeutungen schon den Lebenden und verfestigen sich nach seinem Tode zu Erzählungen,“ – eine durchaus rationale Betrachtungsweise. Entsprechend ordnet er auch die einzelnen Erzählungen an, beginnend mit Israel ben Elieser, dem „Baal-Schem-Tow“, seinen Schülern, dem engeren Kreis und den Nachkommen; ähnlich auch bei anderen Zaddikim.

Für Bubers Sicht des ihm vorliegenden Materials ist sein Urteil bezeichnend: „In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt dann die literarische Korruption, die überlieferte Motive geschwätzig verarbeitet und mit erdichteten zu einer niedrigen Art volkstümliche Belletristik zusammenflickt.“ So erklärt sich auch die von Brocke festgestellte Auswahl und stilistische Überarbeitung durch Buber. Er unterzog sich der Mühe, den ursprünglichen Kern „so genau wie mög­lich zu rekonstruieren und ihn in der ihm seiner Art nach angemessenen Form so klar wie möglich zu erzählen“. Buber unterscheidet sich hierbei methodisch nicht von der zeitgleichen historisch-kritischen Bibelexegese. Dabei sieht er die Anekdote im „jüdischen Diaspora-Geist“ verwurzelt; alles Psychologische und Ornamentale soll dabei ferngehalten werden; „je nackter sie ist, umso mehr er­füllt sie ihre Aufgabe“. Ein Beispiel: „Rabbi Michal sprach: »Wie der böse Trieb den Menschen zur Sünde zu verführen sucht, so sucht er ihn zu verführen, dass er allzu gerecht werde.“

Bubers Vorwort ist allerdings mehr als übliche Vorworte: eine methodische Einführung in den Umgang mit religiösen Legenden.

Die anschließende Einleitung nennt dann als Ziel des Buches, es wolle seine „Leser in eine legendäre Wirklichkeit einführen“, legendär, weil die Erzählungen „auf begeisterte Menschen“ zurückgehen, die nicht von sich berichten, „sondern von dem, was auf sie gewirkt hat.“ Wo er Wundergeschichten wiedergibt, die „Irreales“ enthalten, leitet er diese ein mit dem „Vermerk: »Es wird er­zählt«. Bereits an einer der ersten Erzählungen über Baal-Schem-Tow lässt sich dies erkennen, die hier als einziges Beispiel dafür wiedergegeben werden soll:

„Es wird erzählt: Elieser, der Vater des Baalschem, wohnte in einem Dorfe. Er war ein so gastfreier Mann, dass er am Dorfrand Wächter aufstellte, die mussten die armen Wanderer auffangen und zu im bringen, dass er sie verpflege und versorge. Im Himmel freute man sich seines Tuns, und einmal kam man überein, ihn zu prüfen. Der Satan machte sich dazu erbötig; aber der Prophet Elija bat, man möge lieber ihn gehen lassen. In der Gestalt eines armen Wanderers mit Ranzen und Stab trat er an einem Sabbatnachmittag an Eliesers Haus und sprach den Gruß. Elieser achtete der Sabbatverletzung nicht, denn er wollte den Mann nicht beschämen; er lud ihn sogleich zum Mahl und behielt ihn  bei sich. Auch am nächsten Morgen, als der Gast Abschied nahm, sprach Elieser keine Rüge aus. Da offenbarte sich ihm der Prophet und verhieß ihm einen Sohn, der die Augen Israels erleuchten werde.“

Buber will von Menschen erzählen, die „in Begeisterung, in begeisterter Freude“ lebten; denn Begeisterung zu erzeugen, sieht er als Grundmotiv aller großen Religionen an. Dem Judentum bescheinigt er, trotz der großen „messianische(n) Konzeption einer kommenden Vollendung auf Erden“ nie die Tendenz aufgegeben zu haben, „der Vollkommenheit eine irdische Stätte zu schaffen.“ Und „Die Entstehung des Chassidismus bedeutet das Bestehen dieser Probe.“ Dem Chassidismus geht es um einfache Menschen in ihrer Not und Armut. Wie er ihre existenziellen religiösen Fragen beschreibt, kann hier nur angedeutet werden, die bildhafte Ausdruckskraft seiner Worte muss man selbst lesen! Wie er stellvertretendes Leiden versteht, macht er an R. Nachman von Bratzlaw deutlich. So ist auch Bubers Feststellung zu verstehen, nicht nur bewusstes Einwirken des Zaddik auf seine Chassidim wirke sich auf diese aus, sondern „seine leibliche Nähe: Dadurch, dass man ihn betrachtet, vollendet sich der Sinn des Gesichts, und dadurch, dass man ihm lauscht, der Sinn des Gehörs. Nicht die Lehre des Zaddiks, sondern sein Dasein übt die entscheidende Wirkung“. Dennoch sind die einzelnen Anekdoten und Weisheitssprüche, die Buber in dieser umfang­reichen Sammlung wiedergibt, voller nachdenkenswerter Anregungen – nicht nur für Chassidim!

Dass außer Baalschem nur wenige aus seinem näheren Umkreis Gegenstand der chassidischen Erzählungen sind, erklärt Buber mit dessen Faszination; „erst in der dritten Generation sehen wir, um das zentrale Lehrhaus, das des großen Maggids, geschart, eine große Reihe von Zaddikim, jeder von eigner Art, deren Gedächtnis die Legende mit bildnerischer Liebe pflegt.“ Diese werden auf den folgenden Seiten der Einleitung charakterisiert, so stellt dass diese zugleich eine Geschichte des Chassidismus dar. Leider nennt Buber weder hier noch an anderer Stelle die Lebensdaten dieser religiösen Führergestalten. Dass diese Epoche oft als „eine des beginnenden Niedergangs“ bezeichnet wird, hält Buber für eine „Vereinfachung des Sachverhalts“. Allerdings sieht er eine Problematik dieser Epoche in „der Vielheit der Zaddikim ohne übergeordnete Instanz“, die aber „als eine wesentliche Grundlage der chassidischen Bewegung begriffen werden muss.“ Diese kann in Einzelfällen sogar „in grotesker Verwilderung“ dazu führen, dass man den „letzten Sprung tat, mit beiden Füßen in einen mythologisch ausstaffierten Nihilismus hinein“.

Manche Erzählungen weisen eine Nähe zum gleichzeitigen Pietismus auf, andere erinnern an Johann Peter Hebels Kalendergeschichten.

Verschiedene Register zu wichtigen Namen und Begriffen sowie zu Bibelstellen erleichtern den Zugang und machen das Buch zu einem echten Arbeitsbuch. Allerdings wünschte man sich, das Stichwortregister wäre noch ausführlicher, um die verborgenen Schätze heben zu können.

Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim. Mit einem Nachwort von Michael Brocke. 780 S., Leinen, Manesse-Verlag, Zürich 2014, ISBN 978-3-7175-2368-0

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