Die Erzählungen der Chassidim
übersetzt von Martin Buber

Israel ben Elieser, der Baal Schem Tow

Der Ruf
Als dem Baalschem vom Himmel her kundgetan wurde, dass er der Führer Israels sein solle, ging er zu seinem Weibe und sprach zu ihr: „Wisse, es ist über mich verhängt worden, dass ich der Führer Israels sein soll.“ Sie sprach zu ihm: „Was sollen wir tun?“ Er sprach: „Wir sollen fasten.“ Sie fasteten drei Nächte und Tage ohne Unterbrechung, und einen Tag und eine Nacht lagen sie auf der Erde mit ausgestreckten Händen und Füßen. Am dritten Tag gegen Abend hörte der Baalschem einen Ruf von oben: „Mein Sohn, geh und führe das Volk!“ Er stand auf und sprach: „Ist es der Wille Gottes, dass ich Führer sei, so muss ich es auf mich nehmen.“

Selber
Der Baalschem sprach: „Wir sagen: ‘Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs’, und sagen nicht: ‘Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs’; denn Isaak und Jakob stützten sich nicht auf Forschung und Dienst Abrahams, sondern selber forschten sie nach der Einheit des Schöpfers und seinem Dienst.“

Wenn der Sabbat nahte
Die Schüler eines Zaddiks, der ein Schüler des Baalschem gewesen war, saßen mittags vor Sabbat beisammen und erzählten sich Wundertaten des Baalschem. Der Zaddik, der daneben in seiner Stube saß, hörte sie. Er öffnete die Tür und sprach: „Was habt ihr euch Wundergeschichten zu erzählen. Erzählt euch von seiner Gottesfurcht! An jedem Sabbatvortag begann ihm das Herz so gewaltig zu pochen, dass wir alle, die bei ihm waren, es hörten.“

Ohne kommende Welt
Einmal war der Sinn des Baalschem so gesunken, dass ihm schien, er könne keinen Anteil an der kommenden Welt haben. Da sprach er zu sich: „Wenn ich Gott liebe, was brauche ich da eine kommende Welt?“

Der Tanz der Chassidim
Am Fest der Freude an der Lehre vergnügten sich die Jünger im Haus des Baalschem; sie tanzten und tranken und ließen immer neuen Wein aus dem Keller holen. Nach etlichen Stunden kam die Frau des Baalschem in seine Kammer und sagte: „Wenn sie nicht aufhören zu trinken, wird bald für die Sabbatweihe kein Wein mehr übrig sein.“ Er antwortete lachend: „Recht redest du. Geh also zu ihnen und heiße sie aufhören.“ Als sie die Tür der großen Stube öffnete, sah sie: Die Jünger tanzten im Kreis, und um den tanzenden Kreis schlang sich lodernd ein Ring blauen Feuers. Da nahm sie selber eine Kanne in die rechte und eine Kanne in die linke Hand und eilte, die Magd hinwegweisend, in den Keller, um alsbald mit den gefüllten Gefäßen zurückzukehren.

Die Schlacht gegen Amalek
Einst fand Rabbi Pinchas von Korez sich in seinem Gottesglauben verwirrt und wusste sich keinen Rat, als zum Baalschem zu fahren. Da hörte er, dass der eben in seinen Wohnort gekommen sei. In großer Freude lief er in die Herberge. Dort waren etliche Chassidim um den Meister versammelt, und der sprach eine Lehrrede über den Schriftvers, wo von den ausgestreckten Händen Mose in der Stunde des Kampfes gegen Amalek gesagt wird, sie seien emuna, das heißt Vertrauen, Glauben, gewesen. „Es geschieht einem zuweilen“, sagte der Baalschem, „dass man in seinem Gottesglauben verwirrt wird. Die Abhilfe dafür ist, Gott zu bitten, dass er einem den Glauben stärke. Denn das eigentliche Übel, das Amalek Israel zufügte, war, dass er durch seinen geglückten Überfall sie in ihrem Glauben an Gott erkalten ließ. Darum lehrte sie Mose durch seine zum Himmel ausgestreckten Hände, die wie das Vertrauen und der Glaube selber waren, Gott um die Stärkung des Glaubens bitten, und dies allein ist es, worauf es in der Stunde des Kampfes gegen die böse Macht ankommt.“ Rabbi Pinchas hörte es, sein Hören selber war ein Gebet, und schon im Gebet fühlte er seinen Glauben erstarken.

 

Jechiel Michal von Zloczow

Von allen lernen
Man fragte Rabbi Michal: „Es heißt in den Vätersprüchen: ‘Wer ist ein Weiser? Der von allen Menschen lernt, wie geschrieben steht:* Von all meinen Lehrern habe ich Einsicht erlangt.’ Warum heißt es dann nicht: Der von jedem Lehrer lernt?“ Rabbi Michal erklärte: „Es ist dem Meister, der diesen Spruch gesprochen hat, darum zu tun, dass deutlich werde: nicht von denen allein ist zu lernen, die als Lehrer wirken, sondern von jedem Menschen. Auch von dem Unwissenden, ja auch von dem Bösen, kannst du eine Einsicht erlangen, wie du dein Leben zu führen hast.“

* Die richtige Übersetzung der Stelle (Psalm 119,99) ist: „Mehr als all meine Lehrer ...“; aber der Text lässt auch die obige Deutung zu.

 

Schmelke von Nikolsburg

Der Ring
Einem Armen, der an Rabbi Schmelkes Tür kam, als kein Geld im Hause war, gab er einen Ring. Einen Augenblick darauf erfuhr es seine Frau und überstürzten ihn mit heftigen Vorwürfen, dass er ein so kostbares Schmuckstück, das einen so großen und edlen Stein trug, einem unbekannten Bettler hingeworfen habe. Rabbi Schmelke hieß den Armen zurückrufen und sagte ihm: „Ich habe soeben erfahren, dass der Ring, den ich dir gab, einen hohen Wert hat; achte darauf, ihn nicht allzu wohlfeil zu verkaufen.“

 

Abraham Jaakob von Sadagora

Von den modernen Erfindungen
„Von allem vermag man zu lernen“, sagte einmal der Rabbi von Sadagora zu seinen Chassidim, „alles vermag uns zu lehren. Nicht bloß alles, was Gott geschaffen hat, auch alles, was der Mensch gemacht hat, vermag uns zu lehren.“ - „Was können wir“, fragte ein Chassid zweifelnd, „von der Eisenbahn lernen?“ - „Dass man um eines Augenblicks willen alles versäumen kann.“ - „Und vom Telegrafen?“ - „Dass jedes Wort gezählt und angerechnet wird.“ „Und vom Telefon?“ - „Dass man dort hört, was wir hier reden.“

Das Vogellied
Man fragte den Sadagorer am „Sabbat des Lieds“, dem Sabbat, an dem das Lied aus der Thora verlesen wird, das Mose und Israel am Schilfmeer sangen: „Warum ist es an diesem Tage Brauch, den Vögeln Buchweizengrütze zu streuen?“ - „Ein König“, antwortete er, „ließ sich abseits von allen seinen Palästen ein kleines Lusthaus bauen, wo er allein sein konnte. Da hatte niemand Zutritt zu ihm, und auch keiner seiner Diener durfte darin verweilen. Einzig ein Singvogel teilte den Raum mit ihm, und der König lauschte seinem Lied, das ihm lieber war als alles Spiel der Spielleute. In der Stunde, da das Schilfmeer gespalten wurde, lobsangen alle Engel und Seraphim dem Herrn. Er aber lauschte dem Lied des Vögleins Israel. Darum wird heute den Vögeln Speise bereitet.“

Leiden und Wehen
Der Sadagorer Rabbi saß einst beim Mittagsmahl seufzend und ohne zu essen. Seine Schwester fragte ihn mehrmals, was ihn so bekümmere. „Hast denn nicht auch du“, fragte er endlich zurück, „vernommen, was von dem schlimmen Stand unsrer Brüder im Russischen Reich berichtet worden ist?“ - „Mich dünkt“, antwortete sie, „dass diese Leiden schon zu den Wehen der Messiaszeit** gehören könnten.“ Der Zaddik besann sich. „Wohl, wohl“, sagte er dann. „Aber wenn die Not zu ihrer Höhe wachsen will, schreit Israel zu Gott, es könne sie nicht länger tragen, und der Erbarmer hört darauf, er lindert das Leid und verschiebt die Erlösung.“

** Nach talmudischer Überlieferung (Sanhedrin 98).

Das Zeugnis
Eine Bande sogenannter Aufklärer kam einst am Freitagabend ungebeten ins Haus des Sadagorer Rabbis, um sich seinen Weihesegen anzuhören und sich sodann darüber lustig zu machen. Als der Zaddik es merkte, sagte er: „Die Worte aus der Geschichte der Schöpfung, mit denen wir die Einweihung des Sabbats beginnen, ‘Vollendet waren Himmel und Erde’, werden hier bekanntlich als Zeugnis für Gottes des Einzigen Schöpferwerk gesprochen, und wo wäre Zeugnis so sehr an seinem Platz, wie wo Leugnung ist? So lasst uns denen ins Angesicht bezeugen, dass Gott die Welt schafft und führt.“ Er stand und sprach den Weihesegen.

aus: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim © 1949/2014 by Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

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