Evangelisch getauft, als »Juden« verfolgt
Einleitung von Hartmut Ludwig

Durch Emanzipation und Assimilation näherten sich Juden im 19. Jahrhundert der christlichen Mehrheitsgesellschaft an. Manche brachen mit dem Judentum, ließen sich taufen und nahmen als Zeichen dafür einen neuen Namen an. Einige konvertierten zum Christentum, weil sie dadurch auch rechtlich gleichgestellt wurden und Berufe, von denen sie ausgeschlossen waren, ergreifen konnten. Nachdem sie 1919 durch die Verfassung der Weimarer Republik gleichberechtigte Bürger geworden und alle Beschränkungen aufgehoben waren, war dieser Umweg über die Taufe nicht mehr erforderlich.
Obwohl Hitler und die NSDAP den Kampf zwischen der »arischen« und der »jüdischen Rasse« von Anfang an als Grundprinzip ihrer Weltanschauung vertreten hatten, überraschte es 1933 viele, dass die NSDAP die Juden allein wegen ihrer angeblichen Rassenzugehörigkeit unter Ausnahmerecht stellten. Und obwohl die Nazis behaupteten, Religion und Taufe der Juden interessiere sie nicht, war zum Nachweis »arischer« Herkunft der Taufschein der Vorfahren erforderlich. Ohne die Kirchen war dieser Nachweis aus den kirchlichen Tauf- und Familienregistern nicht zu erbringen. Waren die Vorfahren – rückwirkend bis zu den Großeltern – zum Christentum konvertiert, erklärten die Nazis die Nachkommen wieder zu »Juden«, d.h. sie sprachen ihnen auch ihr Deutschsein ab. Das traf auch solche, die gar nicht mehr wussten, dass ihre Vorfahren einmal Juden waren.1 So entstand die Gruppe der Christen jüdischer Herkunft, die christlich getauft waren, aber als »Juden« verfolgt wurden. Nach vorsichtigen zeitgenössischen Schätzungen waren etwa 400.000 Christen und Konfessionslose in Deutschland von der nationalsozialistischen Judenverfolgung betroffen.2

Nur wenige evangelische Christen erhoben umgehend ihr Wort
»Gilt die Taufe der Juden nicht, so erklären auch wir unsere Taufe für ungültig, denn wer in Christi Namen getauft ist, ist Christ, gleich, ob jüdischer oder christlicher Herkunft«, schrieben Glieder der Apostel-Paulus-Gemeinde in Berlin-Schöneberg am 8. April 1933, nur einen Tag nach der Verkündung des ersten Ausnahmegesetzes: »Es ist doch wohl unmöglich, dass unsere evangelische Kirche tatenlos zusieht! […] Die Grundlage eines Volkes ist die Religion, nicht die Rasse, auf Glaube und Religion baut sich der Staat auf!«3 Zu einer so mutigen Solidaritätserklärung mit den Betroffenen waren Kirchenleitungen offenbar nicht in der Lage. Am 4. April 1933 warf Kirchenrat Johannes Kübel aus Frankfurt am Main der Kirchenbehörde vor, sie verleugne die Pflicht des barmherzigen Samariters, wenn sie ihre Glieder nicht gegen die Ressentiments unchristlicher Fanatiker schütze.4 Der Berliner Privatdozent Dietrich Bonhoeffer setzte sich in einem Kreis jüngerer Berliner Theologen mit der »Ariergesetzgebung« auseinander: »Zweifellos ist die reformatorische Kirche nicht dazu angehalten, dem Staat in sein spezifisch politisches Handeln direkt hineinzureden. Sie hat staatliche Gesetze weder zu loben noch zu tadeln.« Sie ist aber »den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören.«5 Erschüttert über das Schweigen der Kirche zur Judenverfolgung wandte sich die Berliner Studienrätin Elisabeth Schmitz am 18. April 1933 an den Theologen Karl Barth: »Sieht die Kirche nicht die Gefahr, die von den ›deutschen Christen‹ und der ›Gleichschaltung mit dem Staate‹ droht? […] Jedenfalls sind die lahmen, über u. über in Watte gepackten Äußerungen der evangelischen Kirchenbehörden nur dazu angetan, einen völlig verzweifeln zu lassen. […] Hätte die Kirche denn nicht wenigstens die elementare Pflicht, sich um ihre eigenen verfolgten Glieder zu kümmern? […] Nimmt sie die Schuld an all den vielen Selbstmorden, die bereits durch diese Verfolgung vorgekommen sind, so leicht? […] Hat sie nicht wieder mehr Furcht vor den Menschen als vor Gott?«6
Diese vier Stellungnahmen aus den Anfängen der NS-Judenverfolgung haben zweierlei gemeinsam. Erstens: Alle erwarteten, dass die Kirche für die Entrechteten eintritt. Zweitens: Alle verhallten ungehört. Die Kirche und ihre leitenden Persönlichkeiten blieben stumm. Bestenfalls argumentierten sie: Der Staat sei berechtigt, auch in der »Judenfrage« neue Wege zu gehen, in der Kirche aber gelte allein die Taufe, nicht die Rasse. Deutlicher konnte sie ihre Ohnmacht gegenüber der »Ariergesetzgebung« nicht demonstrieren: Sie ließ ihre getauften Glieder jüdischer Herkunft dort, wo sie verfolgt wurden, allein.

Die Kirchen protestierten nicht
Die Judenverfolgung geschah in aller Öffentlichkeit und erreichte mit dem Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte am 1. April 1933 einen ersten Höhepunkt. Obwohl sich die Welle des Terrors der Nationalsozialisten seit Beginn des »Dritten Reiches« immer weiter ausbreitete, erschien einem wachsenden Teil der Deutschen der Terror nicht als Terror, die Verfolgung nicht als Verfolgung, sondern als berechtigte Abwehr eines angeblich geplanten kommunistischen Umsturzes. Weil sie dieser Lüge Hitlers glaubten, meinten sie, die Aussetzung bürgerlicher Rechte, die Aufhebung der Gleichberechtigung, die Verfolgung und Vertreibung Andersdenkender, den Terror in den Folterhöllen der SA und die entstehenden Konzentrationslager dulden zu müssen. Als im Ausland diese Entwicklung heftig kritisiert wurde, wiesen auch Vertreter der Kirchen diese »Greuelpropaganda« zurück. Generalsuperintendent Otto Dibelius appellierte über den Rundfunk an die Amerikaner: »Das Bild des öffentlichen Lebens in Deutschland ist ein Bild der Ordnung und der Disziplin geblieben. […] Die christliche Kirche […] hat den dringenden Wunsch, daß bald […] eine neugefestigte Ordnung im Staatsleben Raum läßt für Liebe und Gerechtigkeit. Das wird davon abhängen, ob draußen in der Welt die Agitation gegen Deutschland aufhört oder nicht. […] Sie werden es erleben, daß das, was jetzt in Deutschland vor sich geht, zu einem Ziel führen wird, für das jeder dankbar sein kann, der deutsches Wesen liebt und ehrt!«7

Der »Arierparagraph«
Mit dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 begann die erste Phase des gesetzlichen, planmäßigen Ausschlusses der Juden aus der deutschen Gesellschaft. Der Titel des Gesetzes war verlogen, denn es ging nicht um Wiederherstellung, sondern um das Ende des politisch unabhängigen Berufsbeamtentums. Es ging um die Entrechtung einer Bevölkerungsgruppe (§ 3) und um die politische Gleich- bzw. Ausschaltung Andersdenkender (§ 4). Neu war der rassische Antisemitismus. In § 3 hieß es: »Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.«8 Davon waren auch viele Christen betroffen, deren Eltern oder Großeltern einmal der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hatten, inzwischen aber durch die Taufe Glieder der christlichen Kirchen geworden waren und die nun wieder zu »Juden« bzw. »Nichtariern« erklärt wurden. In der ersten Phase der Judenverfolgung trieben die Nazis mit einer Fülle antijüdischer Verordnungen und Gesetze die Isolierung der Betroffenen voran.9
Die Kirchen waren in doppelter Weise von dem neuen Gesetz betroffen und gefordert: Als Wächter über Recht und Gerechtigkeit und als Vertreter all derjenigen, die dadurch unter Ausnahmerecht gestellt wurden. Diese besondere Verantwortung wurde jedoch nur von einer Minderheit erkannt. Die Feststellung der dritten Verordnung zum Berufsbeamtengesetz vom 6. Mai 1933, dass es auf die Religionsgesellschaften keine Anwendung finde10, leistete dem Missverständnis Vorschub, die Kirchen seien nicht betroffen, weil Pfarrer und kirchliche Beamte nicht explizit einbezogen wurden. Doch mit dieser Formulierung respektierte der NS-Staat nur zum Schein die Trennung von Staat und Kirche, zumal bekannt war, dass die Deutschen Christen auf die Übertragung des »Arierparagraphen« (§ 3) auf den kirchlichen Bereich drängten.11 Hinzu kam, dass die Kirchen sich als Erfüllungsgehilfen bei der Durchführung des Gesetzes missbrauchen ließen, indem sie tausende Auszüge aus den Kirchenbüchern fertigten, die belegten, ob die Vorfahren »Arier« oder »Juden« waren.12 Eine Folge der missverstandenen lutherischen Zweireichelehre, hinter der sich Theologen und Kirchen gern versteckten, war die Behauptung, dass die Kirche für das Geschehen in der Gesellschaft keine Verantwortung trage.

Die Einführung des »Arierparagraphen« spaltet die Kirchen
Ob der »Arierparagraph« des Berufsbeamtengesetzes auf den Bereich der Kirche übertragen werden sollte oder nicht, war 1933 heftig umstritten und trug zur Spaltung der DEK bei. Pfarrer Hans Ehrenberg aus Bochum (siehe Seite 86f.) schrieb: »Die Kirche der Reformation in Deutschland steht oder fällt 1933 bei der Versuchung, die Judenchristen – ganz oder teilweise – aus sich auszusondern.«13 Den Deutschen Christen ging die Begrenzung auf die Beamten nicht weit genug. Einige wollten alle Christen jüdischer Herkunft aus der Kirche aussondern und zu einer »judenchristlichen« Kirche zusammenschließen. Die nicht-deutschchristliche Opposition lehnte diese Forderung ab, war aber zu Kompromissen bereit.14 Vergeblich forderte Dietrich Bonhoeffer von den altpreußischen Pfarrern, ihre Ämter niederzulegen und aus einer Kirche, die den »Arierparagraphen« einführt, auszutreten, weil damit der status confessionis gegeben war.15 Nachdem die Deutschen Christen die Macht in der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union erobert hatten, beschloss die 10. Generalsynode am 5./6. September 1933 das »Kirchengesetz betreffend die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Kirchenbeamten« mit dem »Arierparagraphen«.16 Innerhalb weniger Tage übernahmen auch die meisten anderen Landeskirchen, die von Deutschen Christen beherrscht wurden, den »Arierparagraphen« (Schleswig-Holstein, Braunschweig, Nassau-Hessen, Thüringen, Mecklenburg, Freistaat Sachsen, Lübeck).17 Die geplante reichseinheitliche Einführung des »Arierparagraphen« scheiterte, weil auf Anraten des Auswärtigen Amtes auf der Nationalsynode am 27. September 1933 in Wittenberg das Thema von der Tagesordnung gestrichen wurde, nachdem ökumenische Gremien und Kirchen des Auslandes dagegen protestiert hatten.18
Am 11. September wurde auf Vorschlag von Günter Jacob, Pfarrer in Noßdorf (Forst/Lausitz), der »Pfarrernotbund« gegründet. Seine Mitglieder verpflichteten sich schriftlich, dass die »Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche Christi« den Bekenntnisstand verletze.19 Der Pfarrernotbund fand große Zustimmung und wurde eine Wurzel der 1934 entstehenden Bekennenden Kirche. Er unterstützte die Pfarrer finanziell, wenn sie im Kampf gegen die Deutschen Christen in Not gerieten. Dagegen ist ein Wort des Notbundes für die bereits 1933 beurlaubten Pfarrer jüdischer Herkunft nicht bekannt. Die Bekennende Kirche übernahm die Verpflichtungserklärung des Notbundes für ihre Mitglieder nicht.20 In ihren Beschlüssen und Bekenntnissen, auch in der Barmer Theologischen Erklärung, wurde der »Arierparagraph« schweigend übergangen. Die Appelle, mit den Opfern solidarisch zu sein, wurden durch theologische Argumentationen überdeckt. Als 1936 die gewaltsame Vertreibung von Pfarrern jüdischer Herkunft aus ihren Gemeinden begann, erwiesen sich Pfarrernotbund und Bekennende Kirche als zu schwach, um für die Verfolgten einzutreten.
Mit einem volksmissionarischen Feldzug wollten die Deutschen Christen für ihr Programm werben. Als bei der Auftaktveranstaltung am 13. November 1933 im Berliner Sportpalast Studienrat Reinhold Krause vor 20.000 Zuhörern die radikalen Forderungen – »Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhältergeschichten«, Verzicht »auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbiners Paulus«, keine »übertriebene Herausstellung des Gekreuzigten« – vorgetragen hatte, kam es zu einer schweren Krise, an deren Ende der Zerfall der »Glaubensbewegung Deutsche Christen« stand. Durch ein Ultimatum erreichte der Pfarrernotbund, dass Reichsbischof Ludwig Müller am 16. November 1933 die Durchführung des »Arierparagraphen« vorübergehend aussetzte. Im kirchenpolitischen Ringen wurde er in der Folgezeit mehrfach in Kraft und wieder außer Kraft gesetzt. Am 21. August 1934 wurde er in den Landeskirchen, die ihn eingeführt hatten, wieder in Kraft gesetzt.21 In den folgenden Jahren haben die Kirchenbehörden mit Fragebögen zum »Ariernachweis« der Pfarrer und Theologiestudenten besonders die Opposition unter Druck gesetzt. Auch den Landeskirchen, die den »Arierparagraphen« formal nicht eingeführt hatten (z.B. Württemberg, Bayern, Hannover, Baden, Hamburg), boten sich im Lauf der Jahre genügend Möglichkeiten, Pfarrer und Beamte jüdischer Herkunft zu vertreiben bzw. junge Theologen jüdischer Herkunft vom Pfarramt auszuschließen.

Das Hemmnis des Antijudaismus
Der durch die Jahrhunderte gefestigte christliche Antijudaismus hinderte Christen und Kirchen in Deutschland daran, ihre besondere Verantwortung gegenüber den Christen jüdischer Herkunft zu erkennen. Mahnungen einzelner konnten nichts ausrichten. Am 2. April 1934 trat Wilhelm Freiherr von Pechmann (München) aus der DEK aus, da sie aufgehört habe, Kirche zu sein. Ein Jahr habe er vergeblich protestiert »gegen die Vergewaltigung der Kirche, gegen ihren Mangel an Widerstandskraft, auch gegen ihr Schweigen zu viel Unrecht und zu all’ dem Jammer und Herzeleid, das man […] in ungezählte ›nichtarische‹ Herzen und Häuser, christliche und jüdische, getragen hat. […] Es ist Zeit, einen Schritt weiterzugehen.«22 Dietrich Bonhoeffer zitierte mehrfach den Vers Sprüche 31,8: »Tu den Mund auf für die Stummen«: »Wer weiß denn das heute noch in der Kirche, daß dies die mindeste Forderung der Bibel in solchen Zeiten ist?«23 Marga Meusel, die Leiterin des kirchlichen Bezirkswohlfahrtsamtes in Berlin-Zehlendorf appellierte zuerst an die Verantwortlichen in der Inneren Mission und danach an die Synodalen der Bekennenden Kirche, sich wenigstens für die Christen jüdischer Herkunft einzusetzen. Ihre Initiative blieb beide Male ohne praktische Folgen. Deshalb half sie heimlich, trotz der Gefahr für Leib und Leben.24 Am 30. Juni 1935 schrieb Karl Barth an den reformierten Pastor Hermann Albert Hesse in Wuppertal-Elberfeld über die Bekennende Kirche: »Sie hat für Millionen von Unrecht Leidenden noch kein Herz. Sie hat zu den einfachsten Fragen der öffentlichen Redlichkeit noch kein Wort gefunden. Sie redet – wenn sie redet – noch immer nur in ihrer eigenen Sache. Sie hält noch immer die Fiktion aufrecht, als ob sie es im heutigen Staat mit einem Rechtsstaat im Sinne von Röm 13 zu tun habe.«25

Die Nürnberger Gesetze verschärften die Lage
Christen jüdischer Herkunft blieben auch 1935 in doppelter Weise allein: In der Gesellschaft und in den Kirchengemeinden wurden sie als »Juden« abgelehnt und ausgegrenzt. Im Sommer bereitete eine Hetzkampagne auf die zweite Phase der Ausgrenzung und Isolation vor. Mit den beiden am 15. September 1935 auf dem Reichsparteitag der NSDAP erlassenen Nürnberger Gesetzen – dem »Reichsbürgergesetz« und dem »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes« – begann die zweite Phase der NS-Rassenverfolgung.26 Künftig unterschieden die Nazis je nach der Zahl »jüdischer« Großeltern: »Volljuden«, »Halbjuden« [»Mischling 1. Grades«], »Vierteljuden« [»Mischling 2. Grades«] und »jüdisch versippte« Ehepartner.27 Die neue Gesetzgebung führte zu innerfamiliären Ausgrenzungen und zerstörte die Familien. Wer sich vom jüdischen Ehepartner nicht scheiden ließ oder noch immer zu jüdischen Mitbürgern hielt, wurde als »Judenknecht« diffamiert. Die Bekennende Kirche schwieg auf der Steglitzer Bekenntnissynode der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union im September 1935 zu den Nürnberger Gesetzen und beschloss trotzig, weiter Juden taufen zu wollen, die sie dann aber in der Verfolgung allein ließ. Das Schweigen und die verweigerte Hilfe auch der Bekennenden Kirche kritisierte Elisabeth Schmitz in ihrer Denkschrift »Zur Lage der deutschen Nichtarier« im September 1935 scharf: »Was soll man antworten auf all die verzweifelten, bitteren Fragen und Anklagen: Warum tut die Kirche nichts? Warum läßt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richtet?«28 Obwohl die Bekennende Kirche sich öffentlich mit den verfolgten Juden und Christen jüdischer Herkunft nicht solidarisierte, sahen die jungen Theologinnen und Theologen, die vom NS-Rassismus entrechtet wurden, ihren Platz allein in der Bekennenden Kirche (vgl. zum Beispiel U. Leupold, Seite 216f.).

Hilfe kommt von der Ökumene
Bei der Sitzung der Minderheitenkommission des Weltbundes für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen im August 1935 referierte Pfarrer Hermann Maas (Heidelberg) über »Die Frage der christlichen Nichtarier« und setzte damit die ökumenische Hilfe für die Verfolgten erneut auf die Tagesordnung. Er knüpfte an Pläne an, die Friedrich Siegmund-Schultze schon im April/Mai 1933 entwickelt hatte, jedoch wegen seiner Verhaftung und Ausweisung aus Deutschland nicht mehr verwirklichen konnte. Nach vielen Verhandlungen wurde das »Internationale kirchliche Hilfskomitee für deutsche Flüchtlinge« am 31. Januar 1936 in London gegründet. Den Vorsitz übernahm Bischof George Bell von Chichester. Das Komitee sollte die Hilfsarbeit in den einzelnen Ländern koordinieren. Die Konstituierung eines deutschen Pendants scheiterte.29 Im Januar 1937 traf Bischof Bell in Berlin den Vorsitzenden des »Paulusbundes«, der Selbsthilfe-Organisation der Christen jüdischer Herkunft, Heinrich Spiero, und Charlotte Friedenthal, die Mitarbeiterin von Superintendent Martin Albertz in der Leitung der Bekennenden Kirche, um sich aus erster Hand über die Lage der Christen jüdischer Herkunft in Deutschland zu informieren. Danach entsandte Bell Ende August 1937 seine Schwägerin Laura Livingstone nach Deutschland, um im Auftrag des »Church of England Committee for Non-Aryan Christians« die notwendige Hilfsarbeit zu intensivieren.30 Unter den zahlreichen Hilfskomitees in England war diese neue Organisation zwar klein, aber sehr effektiv.
Als der Weltbund für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen erneut in Larvik bei Oslo im August 1938 zusammenkam, hatte sich die Lage der Christen jüdischer Herkunft in Deutschland dramatisch verschlechtert. Wahrscheinlich gab wieder Hermann Maas den Anstoß, sich besonders mit der Lage der Pfarrer jüdischer Herkunft zu befassen. In einem internen Aufruf an die Nationalräte wurde als »besondere Bitte« formuliert: »Das traurige Geschick derer, die nach den Nürnberger Gesetzen als ›Juden‹ gelten, trifft in vollem Masse auch alle nichtarischen Theologen und Pfarrer […]. In Deutschland kann ihnen keine Kirche, auch keine Missionsgesellschaft oder andere christliche Einrichtung einen Platz sichern, da sofort unübersehbare Schwierigkeiten auftreten […]. Noch sind etwa 50 solcher Männer in grösster Not und Sorge, was mit ihnen in der allernächsten Zeit geschehen soll […]. Helft uns, für diese Brüder in Christus Raum und Wirkungsmöglichkeiten zu schaffen«.31 Bei einer Besprechung in Genf Ende September 1938 wurde beschlossen, Franz Hildebrandt (siehe Seite 152f.) zu beauftragen, eine Liste mit den Namen der in Frage kommenden Pfarrer zu erstellen. Auf deutscher Seite waren Hermann Maas und Heinz Golzen (siehe Seite 128f.) die Kontaktpersonen.32
Auch die Bekennende Kirche in Deutschland erkannte endlich, dass sie gegenüber den Christen jüdischer Herkunft eine Aufgabe und Verantwortung hat, die sie nicht länger leugnen konnte. Im Auftrag der Leitung bereitete Pfarrer Heinrich Grüber (Berlin-Kaulsdorf) seit Juni 1938 die Einrichtung einer Hilfsstelle vor, die am 7. Dezember 1938 in Berlin-Mitte, Oranienburger Straße 20, ihre Arbeit aufnahm und rasch expandierte. Bereits im Januar 1939 benötigte das »Büro Pfarrer Grüber« für die »Auswanderungsabteilung« ein zweites Büro: An der Stechbahn 3 –4. Hinzu kam ein Netz von Zweig- bzw. Vertrauensstellen in größeren deutschen Städten. So konnten bis Dezember 1940, als die Gestapo das Büro schloss und Grüber ins KZ verschleppte, 1700 bis 2000 Christen jüdischer Herkunft ins Ausland gebracht werden.33 Hans Werner Jordan (siehe Seite 172f.), Leiter der Nürnberger Zweigstelle des Büro Pfarrer Grüber und selber rassisch Verfolgter, forderte Bischof Meiser mehrfach auf, öffentlich für die Christen jüdischer Herkunft einzutreten. Vergeblich! Enttäuscht fragte er, ob die Betreuung durch die Hilfsstelle »nur Morphium für das Gewissen der Kirche« sei, weil sie in ihrer Mehrheit tatenlos zusah.

Phase der forcierten Vertreibung
Die brennenden Synagogen, verwüstete Geschäfte und Ausschreitungen gegen die Juden am 9./10. November 1938 waren keine spontane Reaktion des Volkes, sondern ein von der NSDAP lange vorbereiteter, inszenierter und provozierter Pogrom. Er leitete die dritte Phase der NS-Judenverfolgung ein: die forcierte Vertreibung, um Deutschland kurzfristig »judenrein« zu machen. Um die Vertreibung intensivieren, koordinieren und kontrollieren zu können, schuf die NSDAP die »Reichsvereinigung der Juden«.34
In blinder Gefolgschaft reagierten die Nazis: Der Nationalsozialistische Lehrerbund teilte mit, dass viele Lehrer mit sofortiger Wirkung den Religionsunterricht niederlegten, da sie »eine Verherrlichung des jüdischen Verbrechervolkes« nicht länger dulden könnten. Der deutschchristliche Landeskirchenrat Thüringens ordnete an, dass Pfarrer »kirchliche Amtshandlungen an Nichtariern selbstverständlich nicht mehr« vollziehen. Im Februar 1939 schlossen mindestens sechs deutschchristliche Landeskirchen »evangelische Juden« aus der Kirchengemeinschaft aus.35 Und im Mai 1939 wurde das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« in Eisenach gegründet.36

Schweigen auf die  Pogromnacht
Die Kirchen, auch die Leitungen der Bekennenden Kirche, schwiegen, billigend oder bedrückt.37 Von 18.000 evangelischen Pfarrern wagte nur ein reichliches Dutzend in Predigten auf den Pogrom einzugehen. Zu den mutigsten gehörte der württembergische Dorfpfarrer Julius von Jan, der ihn als Verbrechen bezeichnete. Ein SA-Trupp misshandelte ihn deshalb schwer und brüllte dazu »Judenknecht«. Er wurde mit seiner Familie aus Württemberg ausgewiesen und mehrfach inhaftiert. Landesbischof Theophil Wurm warnte in einem Erlass am 6. Dezember 1938: In der Predigt sei selbstverständlich alles zu vermeiden, »was einer unzulässigen Kritik an konkreten politischen Vorgängen gleichkommt.«38 Dietrich Bonhoeffers Verzweiflung über das Schweigen der Bekennenden Kirche belegt eine Notiz in seiner Bibel. Er unterstrich Psalm 74 Vers 8b: »Sie verbrennen alle Häuser Gottes im Lande« und versah die folgenden Verse 9 und 10 mit Randstrich und Ausrufungszeichen: »Unsere Zeichen sehen wir nicht, und kein Prophet predigt mehr, und keiner ist bei uns, der weiß, wie lange. Ach Gott, wie lange soll der Widersacher schmähen und der Feind deinen Namen so gar verlästern?«39

Zwang zur Emigration
Zu den 30.000 Juden, die nach dem 10. November 1938 in Konzentrationslager verschleppt wurden, gehörten auch einige Pfarrer. Für sie kam die ökumenische Hilfsaktion gerade zur rechten Zeit. Sie kamen erst frei, als sie Papiere für ihre unmittelbare »Auswanderung«, richtiger: ihre Flucht aus Deutschland vorlegen konnten. Bischof George Bell aus Chichester entschloss sich, die Pfarrer jüdischer Herkunft mit ihren Familien nach England einzuladen und gegenüber dem Home Office, dem britischen Innenministerium, für sie zu bürgen. Heinrich Grüber übernahm die Klärung der Modalitäten der »Auswanderung« der Pfarrer nach England mit den Ministerien und Kirchenbehörden in Berlin. So konnten bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges 31 bis 35 Theologen jüdischer Herkunft mit ihren Familien in England eine neue Heimat finden. 40 Einige nahmen – aus unterschiedlichen Gründen – die Einladung Bischof Bells nicht an. Andere emigrierten in andere Länder. Die Sicherheit vor den Nazis erkauften sie teuer: Sie verloren Heimat und Muttersprache, ließen Verwandte, Freunde, Eigentum zurück. Sie mussten meist die Sprache des Aufnahmelandes erlernen, berufliche Qualifikationen erneut erwerben. Sie bekamen oft keine feste Anstellung und entlegene große Gemeinden, die sie kaum bewältigen konnten. Einige von ihnen entschlossen sich, zur Anglikanischen Kirche überzutreten. An die Theologen, die ihre Heimat verlassen mussten, schrieb Martin Albertz für die Leitung der Bekennenden Kirche Abschiedsbriefe: »Sie sind und bleiben unser Bruder und mit uns Diener an seinem göttlichen Wort. Es ist uns ein tiefer Schmerz, dass Sie unter diesen Umständen von uns gehen. Wir bitten Sie, dass Sie alle Bitterkeit über die Vorgänge der letzten Jahre dahinten lassen. […] Sagen Sie auch bitte den christlichen Brüdern und Schwestern, die Sie irgendwo in der weiten Welt aufnehmen, unseren herzlichen Dank. Die Brüder tun, was wir leider nicht mehr tun können.«41
Der im Aufbau befindliche Ökumenische Rat der Kirchen übernahm 1938 vom Weltbund für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen die Flüchtlingshilfe. Die große Welle der Emigration nach dem Novemberpogrom erforderte es, dass ein Mitarbeiter gewonnen wurde, der in Nähe der anderen Hilfsstellen in London diese Aufgabe übernahm. Im Februar 1939 wurde dafür Adolf Freudenberg (siehe Seite 112f.) gewonnen, ein ehemaliger Diplomat, der mit einer Christin jüdischer Herkunft verheiratet war und noch Theologie studiert hatte. Als er nach Kriegsbeginn im September 1939 diese Arbeit in London nicht fortsetzen konnte, baute er den Ökumenischen Flüchtlingsdienst in Genf auf, den er bis 1947 betreute.42

Wehrunwürdig
Es gibt mehrere Beispiele dafür, dass Pfarrer sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht meldeten. Sie war eine Art Schutzraum, um den Anfeindungen fanatischer Deutscher Christen, einem kirchlichen Amtsenthebungsverfahren in der eigenen Gemeinde oder der Verhaftung durch die Gestapo zu entgehen. Vor den Toren der Wehrmacht endete deren Macht. Sie gab auch finanzielle Sicherheit. Ein besonderes Problem waren die Pfarrer, die als »jüdische Mischlinge« nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen wurden oder sich freiwillig meldeten. Bereits im April 1940 gab es einen Geheimerlass des Oberkommandos der Wehrmacht, dass »Mischlinge ersten Grades« als »wehrunwürdig« zu entlassen sind. Dieser Erlass wurde gelegentlich nicht sofort umgesetzt. Nach mehrfachen Wiederholungen konnte die Entlassung Ende des Jahres 1942 / Anfang 1943 nicht mehr verzögert werden.43 In diesem Gedenkbuch findet der Leser einige Beispiele dafür.

Vierte Phase: »Endlösung«
Da die forcierte Vertreibung die Nazis ihrem Ziel, Deutschland und die okkupierten Gebiete »judenrein« zu machen, nicht näher brachte, entschlossen sie sich zur »Endlösung«: Diese vierte Phase der Verfolgung begann am 15. Oktober 1941 mit der ersten Massen-Deportation ins Ghetto Litzmannstadt.44 Den Auftakt dazu bildete die Polizeiverordnung vom 1. September 1941, dass ab 19. September alle Juden ab dem sechsten Lebensjahr den »Judenstern« tragen mussten. Sie wurden damit öffentlich stigmatisiert und aus der Gesellschaft endgültig ausgestoßen.45 Die Breslauer Stadtvikarin Katharina Staritz bat am 12. September die Pfarrer, sich dieser Christen jüdischer Herkunft besonders anzunehmen: »Sie haben das gleiche Heimatrecht in der Kirche wie die anderen Gemeindeglieder.« Staritz wurde deshalb denunziert, verhaftet und bis Mai 1943 im KZ Ravensbrück gefangen gehalten.46 In wenigen Gemeinden konnten Christen mit dem »Judenstern« weiterhin am Gottesdienst teilnehmen. Andere Gemeinden brachten an der Kirchentür ein Schild an: »Juden sind hier unerwünscht«.

Ausschluss aus der Kirchengemeinschaft

Wie nicht anders zu erwarten war, haben sieben »Kirchenleiter« deutschchristlicher Landeskirchen am 17. Dezember 1941 die Christen jüdischer Herkunft endgültig aus der Kirchengemeinschaft ausgeschlossen. Und am 22. Dezember 1941 ordnete Günther Fürle, Vizepräsident der Kanzlei der DEK, an: »Der Durchbruch des rassischen Bewusstseins in unserem Volk […] habe eine Ausscheidung der Juden aus der Gemeinschaft mit uns Deutschen bewirkt. […] Wir bitten daher […] geeignete Vorkehrungen zu treffen, dass die getauften Nichtarier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben.« Zu den Protesten aus den Gemeinden gehörte das Schreiben der Leitung der Bekennenden Kirche vom 5. Februar 1942: »Wollten wir mit der Forderung […] wirklich ernst machen […], so würde sich daraus die Nötigung ergeben, sämtliche Apostel, und nicht zuletzt Jesus Christus selbst, den Herrn der Kirche, wegen ihrer rassischen Zugehörigkeit zum jüdischen Volk aus unserer Kirche zu verweisen.«47
Am 20. Januar 1942 informierte der Chef des RSHA, Reinhard Heydrich, hochrangige Vertreter der Reichsministerien über die »Gesamtlösung der Judenfrage in Europa«, d.h. das Deportationsprogramm. Die Konferenz ist als »Wannseekonferenz« in die Geschichte eingegangen.48 Zunächst glaubten viele Betroffene, sie würden »nur« in den Osten umgesiedelt. Deshalb fanden in einigen Gemeinden Abschiedsgottesdienste statt. In Berlin-Dahlem wurden einige Betroffene zu Laienpredigern ausgebildet und ordiniert, damit sie in den neuen Gebieten eine evangelische Gemeinde sammeln und betreuen könnten. Als immer deutlicher durchsickerte, dass sie nicht umgesiedelt, sondern ermordet werden sollten, versuchten einige mit Hilfe von Pfarrern und Gemeindegliedern unterzutauchen und mit zum Teil falscher Identität zu überleben.49

Der Münchener Laienbrief
Seit der Wannseekonferenz hing die Frage, wie lange die privilegierte Mischehe noch geduldet werden würde, wie ein Damoklesschwert über den Betroffenen.50 Die im Oktober 1942 beschlossene Zwangsscheidung wurde aus verschiedenen Gründen nicht durchgeführt. In dieser Situation wandten sich Vertreter eines BK-Bibelkreises in München im März 1943 an Landesbischof Hans Meiser und forderten von ihm, das Schweigen der Kirche zur Judenverfolgung zu brechen: »Was uns treibt, ist zunächst das einfache Gebot der Nächstenliebe […]. Jeder ›Nichtarier‹, ob Jude oder Christ, ist heute in Deutschland der ›unter die Mörder Gefallene‹, und wir sind gefragt, ob wir ihm wie der Priester und Levit, oder wie der Samariter begegnen.« Das sei keine politische, sondern eine primär evangelische Frage. Im »Münchener Laienbrief« wird erstmals nicht zwischen Juden und Christen jüdischer Herkunft unterschieden und der »christliche Antisemitismus«, der oft mit dem Fluch Gottes über Israel gerechtfertigt wurde, zurückgewiesen.51 Meiser lehnte es ab, sich zu diesem Thema in dieser Situation öffentlich zu äußern. Die 12. altpreußische Bekenntnissynode in Breslau im Oktober 1943 beschloss ein deutliches Wort, das aber mitten im Krieg kaum noch Gehör fand und die NS-Morde nicht mehr zu stoppen vermochte: »Wehe uns und unserem Volk, wenn das von Gott gegebene Leben für gering geachtet […] wird; wenn es für berechtigt gilt, Menschen zu töten, weil sie für lebensunwert gelten oder einer anderen Rasse angehören, wenn Hass und Unbarmherzigkeit sich breit machen.«52 Dieses Wort kam zu spät. Ob es in Gemeinden verlesen wurde, ist nicht bekannt.
In dieser Phase wurden einige Theologen jüdischer Herkunft in Konzentrationslager deportiert und ermordet. Es fanden auch zwei Pfarrfrauen, die als »jüdisch Versippte« verfolgt wurden, deren Männer schon länger gestorben waren, in Konzentrationslagern den Tod. In den letzten Kriegsjahren lebten Juden und Christen jüdischer Herkunft in ständiger Angst, doch noch von der NS-Endlösung erfasst zu werden. Viele mussten Zwangsarbeit leisten und damit den Vernichtungskrieg noch unterstützen. Zwei Pfarrer jüdischer Herkunft starben 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft.

Schwierige Nachkriegszeit
Obwohl die überlebenden Juden und Christen jüdischer Herkunft nach Kriegsende und Befreiung vom NS-Regime aufatmen konnten, änderte sich für sie kaum etwas: Die christliche Mehrheitsgesellschaft lehnte die Stuttgarter Schulderklärung des Rates der EKD vom 19. Oktober 1945 vehement ab. Das Bekenntnis einer Mitschuld an dem millionenfachen Leid und Mord, das Deutsche über viele Völker gebracht hatten, wurde verweigert. Von dem, was die Opfer der Judenverfolgung erlitten hatten, wollte niemand etwas hören. Auch in der Kirche interessierte sich niemand dafür. Die Christen jüdischer Herkunft waren weiterhin in Kirche und Gesellschaft isoliert, benachteiligt, Menschen zweiter Klasse. Während überlebende Juden umfangreiche ausländische Hilfe erhielten, blieben die Christen jüdischer Herkunft davon weitgehend ausgeschlossen. In der NS-Zeit hatten sie ohne eigenes Verschulden Berufsverbote erhalten. Nun hatten sie große Mühe, wieder in ihre Berufe zurückzukehren und sich ein neues Leben aufzubauen. Dagegen konnten Pfarrer, die NSDAP-Mitglieder waren, in ihren Gemeinden bleiben, wenn sie durch sogenannte »Persilscheine« nachwiesen, dass sie Amt und Evangelium ideologisch nicht missbraucht hätten. Nur wenige wurden strafversetzt oder entlassen. Viele derer, die die Verfolgung und Erniedrigung in den zwölf Jahren überstanden hatten, wollten nun so schnell wie möglich Deutschland verlassen. Die Mehrheit derer, die Deutschland vor 1939 noch rechtzeitig verlassen konnten, blieben in ihren Exilländern. Nur wenige der Pfarrer kehrten zurück. Wenn sie kamen, ließ man sie spüren, dass sie nicht willkommen waren. Die Rückkehr von Bruno Benfey (siehe Seite 48f.) nach Göttingen erzwangen 1946 politische Instanzen gegen den Willen der Landeskirche. Kurt Lehmann (siehe Seite 204f.) kämpfte bis 1948 mit dem badischen Bischof Bender vergeblich um seine Rehabilitierung, dann gab er resigniert auf. Andere Pfarrer lehnten das Angebot ihrer Kirchen, nach Deutschland zurückzukehren ab (Paul Leo, siehe Seite 210f.; Walter Mannweiler, siehe Seite 234, Reinhold Schmälzle, siehe Seite 308). Wie unsensibel zum Beispiel die Berliner Kirchenleitung mit den Opfern des NS-Rassismus umging, zeigt der Fall der Theologin Susanne Eycke (siehe Seite 96f.). Sie musste 1949/1950 das Lehrvikariat ausgerechnet bei Pfarrer Horst Schirmacher absolvieren, der in der NS-Zeit als NSDAP- und DC-Mitglied dafür verantwortlich war, dass Christen jüdischer Herkunft von den kirchlichen Ämtern ausgeschlossen wurden. Der Berliner BK-Vikar Ulrich Leupold (siehe Seite 216f.) flüchtete zuerst in die USA und dann nach Kanada. 1945 wurde er nicht zurückberufen. In Kanada war er ein bekannter und beliebter Theologieprofessor und Kirchenmusiker. Sein Osterlied steht in unserem Gesangbuch (Nr. 116). Aber in »seiner« Berliner Kirche ist er unbekannt.
Der traditionelle Antijudaismus und Antisemitismus blieb viele Jahre Gemeingut in unseren Kirchen. Keine Kirchenleitung oder Synode bekannte die Mitschuld an der Verfolgung und Vertreibung von Theologinnen und Theologen jüdischer Herkunft in der NS-Zeit. Das ist noch immer eine offene Wunde, die nur durch den Lauf der Zeit erledigt wird. Die Lebens- und Leidenswege der 180 Theologinnen und Theologen in diesem Buch fordern uns auf, sich dafür einzusetzen, dass in Kirche und Gesellschaft niemals mehr Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion und Kultur verfolgt werden und leiden müssen.

 

1 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 1, S. 37ff.
2 Vgl. Büttner / Greschat: Die verlassenen Kinder der Kirche, S. 20f.
3 Eingabe im Nachlass von Pfarrer Eitel-Friedrich von Rabenau. In: EZA Berlin, Best. 654, Ordner 5.
4 Vgl. Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, S. 340.
5 Dietrich Bonhoeffer: Die Kirche vor der Judenfrage. In: Bonhoeffer Werke, Bd. 12, S. 349 –358, Zitate: S. 350, 353.
6 Brief vom 18. April 1933. In: »Wir haben keine Zeit zu warten.« Der Briefwechsel zwischen Elisabeth Schmitz und Karl Barth in den Jahren 1934 –1966, hg. von Dietgard Meyer. In: Kirchliche Zeitgeschichte 22 (2009), S. 332f.
7 Evangelischer Appell an Amerika, zit. nach: Reichsanzeiger Nr. 82 vom 6. April 1933.
8 In: Reichsgesetzblatt Teil I, vom 7. April 1933, S. 175.
9 Vgl. Joseph Walk (Hg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat.
10 In: Reichsgesetzblatt Teil I, vom 6. Mai 1933, S. 245.
11 »Judenstämmlinge dürfen auf Kanzeln und in höheren kirchlichen Ämtern nicht länger geduldet werden«, forderte Pfarrer Fritz Kessel (Berlin-Spandau) auf der ersten Reichstagung der Glaubensbewegung Deutsche Christen vom 3. –5. April 1933, zit. nach Norden: Der deutsche Protestantismus im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung, S. 356.
12 Vgl. Kirchenbücher, Ariernachweise und kirchliche Beihilfen zur Judenverfolgung. In: Gailus: Kirchliche Amtshilfe, S. 7 –26. Von 1933 bis Mai 1935 sollen etwa 12,5 Millionen Kirchenbuchauszüge von Pfarrämtern ausgefertigt worden sein (S. 8).
13 Hans Ehrenberg: 72 Leitsätze zur judenchristlichen Frage. In: Schmidt (Hg.): Die Bekenntnisse des Jahres 1933, S. 66 –73, hier: Leitsatz 59. Vgl. insgesamt Gerlach: Als die Zeugen schwiegen, S. 46ff.
14 Vgl. Gerlach: Als die Zeugen schwiegen, S. 60ff.
15 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Der Arier-Paragraph in der Kirche. In: Bonhoeffer Werke, Bd. 12, S. 408 –415, S. 412, 414. Eine andere Position vertrat Martin Niemöller. In den »Sätzen zur Arierfrage in der Kirche« formulierte er, dass wir »von den Amtsträgern jüdischer Abstammung heute um der herrschenden ›Schwachheit‹ willen erwarten dürfen, daß sie sich die gebotene Zurückhaltung auferlegen, damit kein Ärgernis gegeben wird. Es wird nicht wohlgetan sein, wenn heute ein Pfarrer nichtarischer Abstammung ein Amt im Kirchenregiment oder eine besonders hervortretende Stellung in der Volksmission einnimmt«, zit. nach Schmidt (Hg.): Die Bekenntnisse des Jahres 1933, S. 97.
16 Vgl. Kirchliches Jahrbuch 1933 –1944, S. 33f.
17 Vgl. Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, S. 603ff.; Norden: Der deutsche Protestantismus, S. 358f.
18 Vgl. Scholder: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, S. 620f.; Gerlach: Als die Zeugen schwiegen, S. 106ff.
19 Zit. nach Schmidt (Hg.): Die Bekenntnisse des Jahres 1933, S. 77f. Vgl. Kupisch: Zur Genesis des Pfarrernotbundes, S. 721 –730.
20 Vgl. Schmidt: Martin Niemöller im Kirchenkampf, S. 314f.
21 Vgl. Gerlach, Als die Zeugen schwiegen, S. 115, S. 134; vgl. Junge Kirche 2 (1934), 720f.
22 Brief an Reichsbischof L. Müller. In: Kantzenbach: Widerstand und Solidarität, S. 79f.
23 Brief vom 11. September 1934 an Erwin Sutz. In: Bonhoeffer: Werke, Bd. 13, S. 204.
24 Vgl. Hartmut Ludwig: Rede aus Anlass der Ehrung von Marga Meusel als ›Gerechte unter den Völkern‹ am 30. Mai 2007 in Berlin-Zehlendorf (bisher unveröffentlicht).
25 Zit. nach Prolingheuer: Der Fall Karl Barth, S. 349.
26 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2/I, S. 19ff.; Büttner: Die Auswirkungen der ›Nürnberger Gesetze‹ für die Christen jüdischer Abstammung.
27 Vgl. die ersten Durchführungsverordnungen zu beiden Nürnberger Gesetzen vom 14. November 1935 in: Reichsgesetzblatt I, S. 1333 –1336. Zum Widersinn der Rassegesetze vgl. Röhm / Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2/I, S. 32 –41.
28 Text der Denkschrift in Gailus (Hg.): Elisabeth Schmitz und ihre Denkschrift, S. 191 –223, Zitat: 210f. Vgl. auch Ludwig: Die Denkschrift von Elisabeth Schmitz‚ ebd. S. 93 –127. Auch Lili Simon (siehe Seite 324f.), die wegen ihrer jüdischen Herkunft bereits im Oktober 1933 Deutschland verlassen hatte, schrieb am 1. Januar 1935 an ihren Lehrer Karl Barth: »Es erschüttert mich und ich kann es nicht verstehen, warum unsere als ›bekennende‹ [Kirche] in Erscheinung getretene Kirche so schweigt und zögert.«
29 Vgl. Grotefeld: Friedrich Siegmund-Schultze, S. 102ff., S. 217 –249; Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2/I, S. 113ff.
30 Vgl. Röhm / Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2/2, S. 252ff.
31 Röhm / Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 2/2, S. 206 –211, Zitat: S. 208.
32 Franz Hildebrandt, Freund Bonhoeffers und illegaler Vikar Martin Niemöllers in Berlin-Dahlem, war nach seiner Haftentlassung im September 1937 nach London geflohen. Als Hilfsprediger von Julius Rieger an der deutschen St. Georgskirche in London erlebte er das ganze Ausmaß des Flüchtlingselends und kritisierte nun »die ganze BK, die dafür doch nie ein Wort gefunden hat«, scharf. Sie wurde ihm »fragwürdig und egal«. Rieger und Hildebrandt waren aktive Helfer der nach England emigrierten deutschen Christen jüdischer Herkunft. Vgl. Roggelin: Franz Hildebrandt, S. 130f.
33 Vgl. Ludwig: An der Seite der Entrechteten und Schwachen. Zur Geschichte des ›Büro Pfarrer Grüber‹.
34 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 3/I, S. 161 –173, S. 197 –205.
35 Vgl. die kirchlichen Gesetz- und Mitteilungsblätter von Anhalt, Thüringen, Sachsen, Mecklenburg, Lübeck und Schleswig-Holstein.
36 Vgl. Arnhold: »Entjudung« – Kirche im Abgrund, Bd. 2, S. 455 –782. Mitarbeiter des Institutes erarbeiteten ein Neues Testament mit dem Titel »Botschaft Gottes«, in dem alle Hinweise auf das Judesein Jesu getilgt wurden.
37 Vgl. Schaller: Der Reichspogrom 1938 und unsere Kirchen, S. 123 –148.
38 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 3/I, S. 69 –92. Am 6. Dezember 1938 schrieb Wurm an Reichsjustizminister Franz Gürtner: »Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als ein gefährliches Element zu bekämpfen« (ebd., 79).
39 Am Rande notierte Bonhoeffer »9.11.38!«. Zit. nach Bethge: Dietrich Bonhoeffer und die Juden, S. 171 –214, Zitat: S. 198.
40 Eine offizielle Liste mit den Namen ist bisher nicht bekannt. Rev. C. C. Griffiths, der Beauftragte von Bischof Bell für diese Aktion, nannte im Dezember 1939 im Rückblick die Zahl einunddreißig plus vier. Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 3/I, S. 280. In der Literatur differieren die Zahl und die Namen. Es sind alles nur Versuche einer nachträglichen Rekonstruktion.
41 Martin Albertz an Hans Ehrenberg, Brief vom 11. Mai 1939, in: EZA Berlin 50/124/5. Briefe vom Januar 1939 an C. G. Schweitzer, H. H. Arnold, B. Benfey, P. Leo, W. Oelsner, E. Flatow, O. Schwannecke, W. Süssbach, in: EZA Berlin 50/124ff. Vgl. Peter Noss: Martin Albertz, S. 346ff.
42 Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 3/I, S. 260 –279.
43 Vgl. Berger, Eisernes Kreuz und Davidstern; Meyer, »Jüdische Mischlinge«, S. 230–237 (»Mischlinge« in der Wehrmacht).
44 Vgl. Gottwaldt / Schulle: Die »Judendeportationen« aus dem Deutschen Reich 1941 –1945, S. 52ff. Am 23. Oktober 1941 verbot Heinrich Himmler die weitere Emigration von Juden während des Krieges.
45 Reichsgesetzblatt Teil I, vom 5. September 1941, S. 545.
46 Vgl. Röhm / Thierfelder, Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/I, S. 35 –59.
47 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/I, S. 102 –119. Zitate: S. 102, S. 113.
48 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/I, S. 120 –136.
49 Vgl. zur württembergischen Pfarrhauskette: Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/I, S. 182 –212. Ähnliche Pfarrhausketten gab es in Pommern und Ostpreußen. Auch Paul Braune nahm in Lobetal Christen jüdischer Herkunft, die sich der Deportation entzogen, auf. Vgl. auch Katrin Rudolph: Hilfe beim Sprung ins Nichts.
50 Vgl. Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/I, S. 137 –147; Vgl. Benz: Die Juden in Deutschland 1933 –1945, S. 752.
51 Vgl. Wurster: Der Münchner Laienbrief (1943), S. 77 –102; Gerlach: Als die Zeugen schwiegen, S. 366 –373; Röhm / Thierfelder: Juden – Christen – Deutsche, Bd. 4/II, S. 283 –302.
52 Zit. nach Niesel: Um Verkündigung und Ordnung der Kirche, S. 110.

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