Markion and die Wissenschaft der Dogmatik
von Barbara U. Meyer

Ein christlicher Dogmatiker, der die Kanonizität des Alten Testamentes in Frage stellt, positioniert sich außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses christlicher Dogmatik.  Seine Thesen mögen bei postchristlichen Feministinnen, israelischen Studierenden der Religionswissenschaften oder manchen Möchtegern-Harnacks Anklang finden. Der Wissenschaftsdiskurs christlicher Dogmatik ist offen für die Diskussion christologischer und trinitätstheologischer Häresien – Minderheitsmeinungen, die die Mehrheit der Kirchenväter abgelehnt hat. Zwar haben diese Minderheitsmeinungen keinen festen Ort in der kanonischen Schrifttradition – wie z.b. in der Gesetzesliteratur des Judentums, in der abweichende Meinungen weiter tradiert werden – doch werden sie auch in der patristischen Literatur als wichtig und z.B. von Augustinus als identitätsbildend eingeschätzt.

Die Idee, das Alte Testament zu dekanonisieren gehört nicht zu den christlichen, sondern zu den nichtchristlichen Häresien. Die Diskussion nichtchristlicher Ideen ist aber nicht Gegenstand der Dogmatik.  Als kritisches Diskussionsforum christlicher Glaubensinhalte verfügt die Dogmatik über einige, wenige Kriterien, die immer wieder neue Diskurse ermöglichen. Die christlich dogmatische Wissenschaft beruht allerdings auf bestimmten Axiomen, wie Dietrich Ritschl in seiner Logik der Theologie dargelegt hat. Grundlegend ist die Identität, also die Selbigkeit Gottes, im ersten und zweiten Teil des christlichen Kanons, traditionell als Altes und Neues Testament bezeichnet. Es ist derselbe Gott, der die Welt geschaffen hat, Abraham auf den Weg geschickt und Mose das Gesetz gegeben hat, derselbe Gott der die Propheten gesandt hat und Jesus Christus. Im Glaubensbekenntnis, das die weltweite Christenheit eint, und das auf die Formulierungen der Konzilien im vierten Jahrhundert beruht, ist Gott eindeutig als Schöpfer des Himmels und der Erde qualifiziert: Der Gott der beiden Schöpfungsnarrative, und eben nicht ein schlicht und einfach guter Gott der mit der Schöpfung und mit Israel nichts zu tun hat und aus heiterem Himmel (im wahrsten Sinne des Wortes!) den guten Jesus schickt.

Diese markionitische Fiktion eines Gottes, der nicht die Welt geschaffen und Israel nicht erwählt hat und einfach nur gut ist, mit der Vorstellung der Erde als Scheibe zu vergleichen, ist nicht nur gelungene Rhetorik sondern wissenschaftliche Präzision der Analogie. Die neomarkionitische Gottesvorstellung, die mit der Idee einer “christlichen Dekanonisierung” des Alten Testaments impliziert wird, ist flach wie eine Scheibe, ohne Komplexität und ohne Geschichte.

Eine Präferenz für Markion ist nicht per se antijüdisch. Zu den Provokationen des berühmten israelischen Wissenschaftlers und Philosophen Yeshayahu Leibowitz gehörte auch eine historische Präferenz für Markion – statt des Christentums, allerdings. Die Idee, dass ein von Israels Religion und Geschichte klar abgetrennter Markionismus weniger Antijudaismus produziert hätte als das Christentum, ist eine nachvollziehbare Spekulation. Als Idee gehört sie zur Kritik des christlichen Antijudaismus und stellt dort eher originelle Polemik als historische Wissenschaft dar. In der neutestamentlichen Erforschung des Markionismus macht vor allem der Amerikaner John Tyson darauf aufmerksam, dass Markion den Gott Israels immerhin als Gott anerkannt hat.
Komplementär zeigt der Neutestamentler Lloyd Gaston, dass die Entscheidung für das Alte Testament mit dem Preis seiner Abwertung gegenüber dem Neuen einherging. Antijüdisch konnte man zur Zeit der Alten Kirche mit oder ohne Markion, mit oder ohne die Schriften Israels sein.

Im deutschen theologiegeschichtlichen Kontext ist die kanonische Entwertung des Alten Testaments weniger zweideutig. Daher hat Peter Schäfer, der sich als Judaist auf eine neutrale Position hätte zurückziehen können, Recht mit seiner Distanzierung von einem anti-alttestamentlichen Affront an einer theologischen Fakultät in Deutschland.

Weltweit können in den vergleichenden Religionswissenschaften viele Götter mit ihren verschiedenen Attributen oder auch Mangel an Attributen diskutiert werden. Die christliche Dogmatik jedoch hat nicht die Götter sondern Gott als Aufgabe kritischer Reflektion. Die Dogmatik versteht sich als Wissenschaft und verfügt über enorme Kapazitäten, verschiedene christliche Gottesauffassungen zu diskutieren. Gegenwärtig zeigt sich dies besonders im theologischen Dialog mit dem Judentum. In den siebziger Jahren wurde die Gottesfrage erweitert um die Frage nach dem Tod Gottes, und auch das Verständnis der Autorität Gottes wurde vielfach neu formuliert. Wie von Gott zu reden ist, die Probleme sprachlicher Grenzen und die Bedeutung von Metaphern beschäftigen Dogmatiker und Dogmatikerinnen seit den sechziger Jahren. In all diesen Diskursen gibt es offene und komplizierte Fragen, so z.B. ob männliche Sprache in Bezug auf Gott Götzendienst befördert; Meinungsverschiedenheiten bleiben und ändern sich. Diskutiert aber wird der Gott der hebräischen Bibel und der Jesus-Schriften, der Gott des Alten und des Neuen Testaments, und nicht eine flache Gottscheibe. Sie war den Kirchenvätern nicht interessant genug und bietet auch unseren Theologiestudierenden zu wenig Reibungsfläche.

Die Autorin ist Dozentin für christliche Theologie an der Universität Tel Aviv (Religious Studies Program, School of Philosophy)

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