Streit ums Alte Testament
von Hanspeter Heinz

Die im April urplötzlich aufgebrochene Auseinandersetzung an der Berliner Humboldt-Universität hat bald die Grenzen der Evangelisch-Theologischen Fakultät überschritten. Von den Medien wurde der Streit in unverminderter Schärfe aufgegriffen. Er dreht sich um die provozierende These von Prof. Notger Slenczka, das Alte Testament solle nicht länger zur christlichen Bibel gerechnet werden. Nach vielen polemischen und verletzenden Angriffen fordert der Kollege eine offene und faire Diskussion. Daran will ich mich als katholischer Theologe beteiligen. Denn die Problematik betrifft nicht weniger meine Kirche sowie den christlich-jüdischen Dialog, in dem ich seit Jahrzehnten engagiert bin.

1. Ist das Alte Testament in der kirchlichen Praxis wirklich ebenbürtig mit dem Neuen Testament? Nach der seit dem 2. Jahrhundert fast nie bestrittenen Lehre der Kirche ruht das Christentum wie eine Brücke auf zwei Pfeilern, dem Alten und Neuen Testament. Gemeinsam bilden sie die eine Heilige Schrift, das Zeugnis von Gottes Offenbarung, die verbindliche Richtschnur für Leben und Lehre der Kirche. Dagegen führt Slenczka ins Feld, im kirchlichen Leben sei es doch „faktisch so, dass wir den Texten des AT in unserer Frömmigkeitspraxis einen minderen Rang im Vergleich zu den Texten des NT zuerkennen“. Diesen Gegensatz zwischen Lehre und Leben kann ich bestätigen. In der Liturgie, den heiligen Handlungen der Kirche, bleiben wir Katholiken bei den Lesungen des Alten Testaments sitzen und stehen auf beim Evangelium. Die Leseordnung spiegelt dasselbe Gefälle, wenn sie die Texte des Alten Testaments jeweils nur als Verheißung, die des Neuen hingegen als Erfüllung positioniert. Liegt die kirchliche Praxis oder das kirchliche Lehramt hier falsch?

2. Was ist für Zeitgenossen besonders fremd oder anstößig im Alten Testament? Slenczka bemerkt zu Recht, die heutigen Menschen „fremdeln“ mit vielen Texten, können mit ihnen nichts anfangen für ihr Leben. Er weist etwa auf die Gewalttexte hin. Doch ich gebe zu bedenken, dass die Bibel in einem Zeitraum von 1.500 Jahren entstanden ist und diese Texte aus der frühen Zeit der Stammesgesellschaft stammen. Fortgeschrieben wurden sie später in einer Humanisierung der Ethik durch die Propheten („Schwerter zu Pflugscharen“ aus Jes 2,4 – Motto der Friedensbewegung in den 1980er Jahren). Und die bekannten Fluchpsalmen überlassen stets Gott die Erfüllung des Schreis nach Gerechtigkeit und Vergeltung, sie verzichten bewusst auf menschliche Rache und Gewalt. Sind übrigens die Höllendrohungen Jesu weniger grausam? Heutige Menschen fremdeln ferner mit den vielen Gesetzen im Alten Testament. Aber auch die Kirche braucht nicht weniger Regeln und Gesetze, um die Weisungen des Neuen Testaments in den vielfältigen Alltag zu übersetzen. Mit der Bergpredigt allein kann man keine Politik machen. Sind die aufgeklärten Menschen gut beraten, wenn wir die anstößigen Passagen als belanglos beiseiteschieben? Das Vergessene könnte uns wieder in den Rücken fallen.

3.    Ist das Alte Testament Zeugnis einer archaischen Stammesreligion? Natürlich, so hat es begonnen. Aber Judentum und Christentum sind nicht zeitlose Naturreligionen, sondern geschichtliche Religionen mit einer bis heute nicht abgeschlossenen Entwicklung. Mit dem Neuen Testament verhält es sich nicht anders. Dort findet man ja auch nicht die zentrale christliche Glaubenslehre von der Dreifaltigkeit. Zudem beginnt das Alte Testament nicht mit dem Stammvater Abraham, sondern mit der Schöpfung der Welt und der Zusage Gottes für das Heil der ganzen Menschheit im Noe-Bund. Ferner: die Botschaft der Propheten ist nicht weniger universal als die Verkündigung Jesu. Die partikulare Erwählung des Volkes Israel und die universale Erwählung der Völker schließen sich nicht aus. Wie verhält sich beides zueinander?

4. Ist Jesus Christus schon im Alten Testament zu finden? Nein behaupte ich mit Slenczka und einer wachsenden Mehrheit meiner Kollegen, vor allem der Exegeten. Man kann Jesus Christus nicht aus dem Alten Testament herauslesen, sondern ihn nur hineinlesen (mit der christlichen Brille). Das bedeutet einen Bruch mit der Tradition, die insbesondere die prophetischen Schriften als Zeugnis für den kommenden Messias deutete. Das sei doch ihr eigentlicher, geistlicher Sinn, für den die Juden, die am bloßen Buchstaben hängen, blind seien. Die intensive Zusammenarbeit mit jüdischen Gelehrten haben christliche Theologen die Augen geöffnet, dass diese Vereinnahmung des Alten Testaments für den Christus-Glauben dem ursprünglichen Sinn der Texte widerspricht. Daraus zieht Slenczka die Konsequenz: Da Jesus Christus, wie Martin Luther stets betont, die „ Mitte der Schrift“ ist, soll das Alte Testament nicht länger zur christlichen Bibel gehören. Er will es nicht „abschaffen“, sondern nur in seiner Bedeutung herabstufen als religionsgeschichtlich bedeutsames Zeugnis. Mit meinen jüdischen und christlichen Freunden erhebe ich entschieden Einspruch: Die Mitte des Alten wie des Neuen Testaments ist nicht Jesus Christus, sondern Gott! Deshalb ist das Alte Testament nicht weniger als das Neue Grund und Norm des Christentums. Darüber lohnt sich wahrhaft ein wissenschaftlicher Streit.

5. Ohne die jüdische Wurzel wäre das Christentum eine Schnittblume! Laut der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils gehört die jüdische Wurzel zur Identität der Kirche. Das ist eine klare Absage an die Tradition, die die Kirche als legitime Erbin des von Gott verworfenen Israel behauptete. Diese Einsicht mit ihren weitreichenden Konsequenzen ist mir erst im christlich-jüdischen Dialog allmählich aufgegangen. Zum einen hätte Jesus in keiner anderen Weltgegend mit seinem Anspruch auftreten können als inmitten seines Volkes Israel. Denn er verehrt und verkündet ja nicht ganz allgemein den Weltschöpfer, sondern den Gott Israels, der eine einzigartige und wechselvolle Geschichte mit seinem Volk eingegangen ist. Die Herrschaft Gottes, die er ansagte, konnte Jesus nur in der Vorstellungswelt Israels verständlich machen. Zum anderen wären die Evangelien ohne die Verbindung zum Alten Testament harmlos, nur die erbaulichen Erzählungen von einem begnadeten Prediger und Wundertäter, der schließlich gescheitert ist. Ohne die Erfahrung des jüdischen Volkes in biblischer Zeit und bis heute wäre etwa die Rede von der Treue Gottes, die sich im Jesusereignis aufs Neue offenbart, nur eine fromme Floskel. Doch die Erfahrung von der erschreckenden Nähe und der noch mehr erschreckenden Ferne Gottes im Leben und Leiden seiner Zeugen und seines Volkes macht die Botschaft von Gottes Treue erst aufregend, geheimnisvoll und anstößig. Und ohne die radikale Leidenschaft Gottes für die ganze Menschheit und seine ganze Schöpfung, wie sie das Alte Testament bezeugt, mitsamt dem leidenschaftlichen Einsatz gerade jüdischer Protagonisten für Gerechtigkeit in Gesellschaft und Welt wäre der Weltauftrag des Neuen Testaments kraftlos. Auch über diese These muss gestritten werden.

6. Die Herabstufung des Alten Testaments würde das christlich-jüdische Verhältnis schwer beschädigen!  Slenczka verwahrt sich gegen den Vorwurf des Antijudaismus. Er will vielmehr zur Entspannung des gespannten christlich-jüdischen Verhältnisses beitragen, indem er keinen theologischen Anspruch mehr auf das Alte Testament erhebt, es endgültig von der traditionellen Vereinnahmung durch die Kirche befreien will, welche den Juden so viel Leid gebracht hat. Dennoch beschädigt er mit seiner These das sich erst nach der Schoa langsam entwickelnde christlich-jüdische Miteinander. Die Herabstufung des Alten Testaments und die Charakterisierung der israelitischen Religion als anarchische Stammesreligion ist in Wahrheit eine klare Abwertung des Judentums im Vergleich zum Christentum als Offenbarungsreligion. Es wäre ein Rückfall in die „Lehre der Verachtung“, die der jüdische Historiker Jules Isaak als Einfallstor der christlichen Judenfeindschaft bezeichnet hat. Sie habe auch das Immunsystem der Kirche zur Abwehr des nationalsozialistischen Rassenwahns schwer beschädigt. Ein Dialog auf Augenhöhe sieht anders aus.

Der Autor ist katholischer Theologe und leitet seit 1974 den Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Sein Beitrag ist auch erschienen in Publik-Forum 9/2015

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