Streit um den christlichen Kanon
Zur Auseinandersetzung mit Professor Dr. Notger Slenczka
von Friedhelm Pieper

Im Oktober 2013 erschien die Abhandlung „Die Kirche und das Alte Testament“ des Berliner Professors für Systematische Theologie Dr. Notger Slenczka im „Marburger Jahrbuch Theologie XXV“ - im folgenden „MJb“ (1). Seine darin enthaltene irritierende These zum Alten Testament wurde in 2014 zunächst wenig wahrgenommen. Dabei verlässt Slenczka mit seinem Beitrag einen Grundkonsens christlicher Theologie: Er glaubt, die These des Kulturprotestanten Adolf von Harnack aus dem Jahr 1921 neu empfehlen zu sollen, wonach das Alte Testament (AT) für die Kirche aus dem Kanon der christlichen Bibel zu entfernen sei und nur noch den Rang einer apokryphen Schrift einnehmen könne. (2)

Die öffentliche direkte Kritik an der These Slenczkas setzte zu Beginn 2015 ein, u.a.: in Auseinandersetzungen mit dem Autor auf Tagungen von „Studium in Israel“ (Januar 2015) und der Evangelischen Akademie Bad Boll (Februar 2015) sowie mit der Kritik an der Harnack-Rezeption Slenczkas durch Prof. Dr. Martin Stöhr (Blickpunkt.e 01/2015). Von Seiten der wissenschaftlichen Theologie (3) und der Kirchen aber gab es zunächst keine vernehmbaren Reaktionen.

Das änderte sich mit einer Pressemitteilung des „Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit“ (DKR) vom 7. April 2015, in der der DKR eine Stellungnahme meinerseits als evangelischem Präsidenten veröffentlichte (4), in der  in einer umfangreichen Kritik der These von Professor Slenczka deutlich widersprochen wurde. Danach wuchs der Disput über Slenczka zu einem heftigen Streit insbesondere an der evangelischen Fakultät in Berlin aus. Inzwischen haben Bischöfe verschiedener evangelischer Landeskirchen die These von Notger Slenczka zur Entfernung des Alten Testaments aus dem Kanon der christlichen Bibel als unvereinbar mit den theologischen Grundlagen der Evangelischen Kirchen erklärt (5).  Der EKD-Ratsvorsitzende Bischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm betonte auf der EKD-Synode 2015 in Würzburg mit Blick auf die Texte der Hebräischen Bibel zum Thema „Flüchtlinge“:  „Man kann an der theologischen Reflexion unseres Umgangs mit Flüchtlingen sehen, wie abwegig der Versuch ist, das Alte Testament auf die Ebene von apokryphen Schriften herabzustufen“ (6).

Dr. Friedrich Wilhelm Graf, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethik, bescheinigt Notger Slenczka, dass dieser „Dinge behauptet, die schlicht nicht zutreffen“ und kritisiert einen „ahistorischen“ Zugang Slenczkas zu Schleiermacher, Harnack und Bultmann (7).

Die Diskussion über die These Slenczkas bewegt sich seit April auf zwei Ebenen. Zunächst entfaltet sie sich als Widerspruch zu der Darstellung und Begründung der angesagten Dekanonisierung des AT in dem Beitrag Slenczkas im Marburger Jahrbuch XXV. Sodann reagiert sie auf Stellungnahmen und Erklärungen von Professor Slenczka in dem laufenden Streit, in denen sich auch zumindest einige Klarstellungen abzeichnen. Mit Blick auf das Alte Testament allerdings hält Professor Dr. Notger Slenczka die Grundthese der Aberkennung eines kanonischen Status bislang aufrecht.

Im folgenden Artikel versucht DKR-Präsident Pfarrer Friedhelm Pieper einen Beitrag zur weiteren Klärung des Dissenses zu leisten. Dabei fließen Teile seiner Stellungnahme gegen die These Slenczkas ein.

1. Vorbemerkung
Professor Dr. Notger Slencka hatte mir am 18.03.2015 eine ausführliche Entgegnung der Erstfassung meiner Kritik zugesandt (8), wofür ich ihm danken möchte. Ich habe daraufhin meine Stellungnahme in wenigen nicht zentralen Stellen präzisieren können. Hier versuche ich nun auf weitere Teile der Entgegnung einzugehen. Das kann allerdings in dem mir hier gesteckten engen Rahmen nicht umfassend geschehen.

2. Religionsgeschichte als Geschichtskonstruktion – Universalismus und Partikularismus
Die Sicht Harnacks auf die Religionsgeschichte wertet Slenczka als wesentlichen Beitrag zum Verständnis des gegenwärtigen „christlichen Selbstbewusstseins“. Danach wäre der erste Teil der Bibel für die Kirche nur als eine religionsgeschichtliche Vorstufe des christlichen Glaubens wahrzunehmen. Mit Jesus wäre dann eine fundamentale Weiterentwicklung geschehen, deren grundsätzlicher Neuansatz auf „die Bedingungslosigkeit und damit auf die Universalität der Vaterliebe Gottes und seines Reiches“ ziele und in der Folge zu einer Ablösung von der Vorstufe der in Harnackscher Sicht nur partikularen Glaubenswelt im alten Israel geführt habe. Die Geschichte des Christentums wäre dann als fortwährende „Selbsterfassung“ (MJb, S. 92) zu verstehen, innerhalb derer die Reformation als „wichtiger Schritt“ zu werten sei. Vollends aber wäre die „von Jesus von Nazareth gestiftet religiöse Idee... erst im Zuge (der) Ausarbeitung der reformatorischen Einsichten in der Aufklärung und im 19. Jh. zum adäquaten Verständnis ihrer selbst gelangt“ (ebd., S. 93).

Dass diese Perspektive zu einer verheerenden Verzerrung der Inhalte der hebräischen Bibel führte, ist bekannt. Wir finden bei Slenczka dann auch klassische Beispiele einer reduzierten Wahrnehmung alttestamentlicher Texte in der protestantischen Theologie seit Schleiermacher aufgeführt: das Alte Testament sei „ein Zeugnis einer Stammesreligion mit partikularen Anspruch“ (ebd., S. 94),  das "die Universalität des Religiösen" noch nicht zum Ausdruck bringe, die eben "erst in Jesus von Nazareth erfasst" wird (ebd., S. 95). So hätte denn auch - nach Bultmann - das Alte Testament "nicht gegenwärtige Gewissheit der Nähe und der Zuwendung Gottes" artikulieren können, denn die "Gegenwart Gottes erschließe allein das kirchliche Kerygma" (ebd., S. 108).

Slenczka verweist in seiner Entgegnung vom 18.03. an mich darauf, dass ein reflektiertes Glaubens- und Schriftverständnis immer eine Art Konzept entwickelt, mit dem auch biblische Aussagen (etwa zur Rolle der Frau) als kontextbedingt in ihrer Aussagekraft für die Gegenwart relativiert werden. Dem stimme ich zu und halte zugleich fest, dass dies sowohl für Texte des Alten wie auch des Neuen Testaments gilt. Das Problem mit dem Harnackschen Konzept der Religionsgeschichte ist aus meiner Sicht allerdings, dass er die Hebräische Bibel als Ganzes in den Kontext der Vorgeschichte des Christentums abschiebt und eine bleibende Aussagekraft alttestamentlicher Texte auch für die Kirche grundsätzlich bestreitet. Slenczka verteidigt in seiner Entgegnung die von mir kritisierte Formulierung, dass aus Harnackscher Perspektive das AT als „ein Zeugnis einer Stammesreligion mit partikularen Anspruch“ zu verstehen sei. Diese Formulierung wird m.E. den vielfältigen Perspektiven der Texte der Hebräischen Bibel nicht gerecht. Diese sind in unterschiedlichen Phasen der Geschichte des Volkes Israel - diese reflektierend und mehrfach reformulierend – gewachsen, wobei neben der partikularen auch eine deutlich vernehmbare universale Perspektive zum Ausdruck kommt.

Professor Slenczka verweist in seiner Entgegnung an mich darauf, dass Harnack ja eine Abschattung der Universalisierung des Gottesverhältnisses bereits im AT beschrieben habe. Damit bleibt Harnack allerdings gleichwohl m.E. bei der generellen Linie eines konstruierten Gegensatzes zwischen Universalität und Partikularität. Dem AT wird gerade zugebilligt, dass in seinen Spätschichten universale Tendenzen zum Ausdruck kommen, welche eigentlich schon auf das Neue Testament hin zielen. Slenczka verweist in seiner Entgegnung auf etliche Texte des AT, die für ihn allesamt belegen, dass es darin „eben zunächst um das Partikulare geht“.

In der exegetischen Forschung gibt es dagegen Modelle, die die universalen und die partikularen Perspektiven des AT als unterschiedliche Aspekte der sich in der Hebräischen Bibel entfaltenden Gottes-, Selbst- und Weltwahrnehmungen des Volkes Israel verstehen, so z.B. bei Jürgen Ebach: „.. problematisch bis falsch wird die Rede von der Universalität des Neuen Testaments und des Christentums, wenn sie einer Partikularität des Alten Testaments und des Judentums entgegen gestellt wird“ - und: „Die universale Perspektive am Beginn der „Schrift“ bleibt als eine Perspektive erhalten und durchzieht die hebräische Bibel bis zu ihrem Schluss“ (9).

Das Konzept einer Religionsgeschichte auf der Linie Harnacks scheint mir jedenfalls ungeeignet zum Verstehen des eindrucksvollen Sprachuniversums der Texte der Hebräischen Bibel, die ja nicht zufällig bis heute ihre Wirkung entfalten.

3. Die Texte der Hebräischen Bibel als Deutehorizont, Inspiration und Identifikationsmöglichkeit
Ein Blick in die weiteren Beiträge im Marburger Jahrbuch Theologie XXV zeigt, wie die Wahrnehmung unterschiedlicher Perspektiven in den alttestamentlichen Texten für die gegenwärtige Debatte fruchtbar gemacht werden kann. Für Jens Schröter gehört es z.B. zum "evidenten Befund..., dass die Schriften Israels und des Judentums im Urchristentum gerade nicht als überholt oder als negative Kontrastfolie, sondern als Deutehorizont für das Christusereignis betrachtet und entsprechend interpretiert werden" (MJb, S. 57, s.a. S. 79).

Viele Texte der hebräischen Bibel, die sich auf die besondere partikulare Erfahrung des Volkes Israel in seiner Beziehung zu Gott fokussieren, erwiesen sich zudem in der Geschichte des Christentums als konstruktiver Bezugsrahmen zur Deutung eigener Situationen. Man denke etwa an die universale Wirkung der alttestamentlichen Exodusgeschichten. So schreibt Peter Dabrock im benannten Jahrbuch, dass "die alttestamentlichen Traditionen ..  immer wieder Menschen inspiriert" haben, "ihre eigenen Erfahrungen mit unrechtem 'Recht' oder mit Machtmissbrauch von diesen biblischen Geschichten her zu deuten und durch diese Deutung gestärkt gegen die eigenen Unrechtswiderfahrnisse zu kämpfen. Oft sind unterdrückte, benachteiligte, marginalisierte Menschen oder marginalisierte Gruppen oder Personen durch die Selbstidentifikation mit Israel, dem Volk Gottes, überhaupt erst sprachfähig geworden, um so ihre eigenen Leidenserfahrungen benennen zu können". (MJb., S. 163). Im Unterschied zu Slenczka und der von ihm aufgeführten religionsgeschichtlichen Tradition sieht Dabrock in den Texten der hebräischen Bibel Perspektiven, denen "eine enorme Erschließungskraft für gegenwärtige Lebensverhältnisse" zukommt (ebd., S. 164).

Slenczka entgegnet, dass solches Wiederfinden eines gegenwärtigen Bewusstseins in den Texten des AT „kein Argument für eine besondere Funktion des AT“ sei. Ich hatte diese Beispiele aber mit Blick auf die Ansprechpotentiale der atl. Texte auch über das Volk Israel/ das Judentum hinaus aufgeführt. Sie unterstreichen, dass auch diejenigen Texte der Hebräischen Bibel, die zunächst partikular auf Israel hinaus angelegt sind, Sinnpotentiale im nichtjüdischen Raum entfalten.

Demgegenüber stellt Slenczka die Frage, ob solche „Selbstidentifikation mit Israel“ in der Perspektive des christlich-jüdischen Dialogs nicht als „hochproblematisch“ zu werten wäre. In der Tat hat die traditionelle exklusive Form christlicher Selbstidentifikation mit Israel zu verheerenden Folgen einer Substitutionstheologie geführt, in der die Kirche glaubte, sich an die Stelle Israels setzen zu können. Ich verstehe aber die Einsichten des christlich-jüdischen Dialogs so: Im Kontext eines Differenz-Bewusstseins zwischen Judentum und Christentum, in der Wahrnehmung des Eigenlebens der Hebräischen Bibel in der jüdischen Gemeinschaft und im Respekt vor deren eigener Interpretation sind auch christliche nicht-exklusive, Begegnungen mit AT Texten möglich, legitim, ja notwendig und schließlich enorm bereichernd. Die Texte des NT sind ja insgesamt ohne die sie konstituierenden Bezugnahmen auf das AT gar nicht interpretierbar.

Peter Dabrock zeigt das Potential solcher Begegnungen und Identifikationsmöglichkeiten auf. Ein Beispiel für eine christliche Differenz-bewusste Haltung beschreibt Peter Dabrock in seiner Forderung nach „einem von Substitutionsthesen freien Gespräch unter christlichen und jüdischen Gläubigen“, das „im Vollzug selbst die Dialektik von Identitätsstabilität, Identitätsinfragestellung und Transpartikulierungsdynamiken bezeugt“ (MJb, S. 151). Die Erfahrungen des Volkes Israels wären sicher überinterpretiert, wenn Israel allein als eine „Chiffre für etwas Allgemeines“ wahrgenommen würde. Aber die diese Erfahrungen theologisch interpretierenden Texte des AT bieten dennoch nach Friedhelm Hartenstein „paradigmatisch verdichtete Einsichten in das 'Wesen' des sich seinem Volk helfend und rettend zuwendenden JHWH“ (MJb, S. 44). Das eben macht unter anderem das Ansprechpotential des AT auch im nicht-jüdischen Raum aus.

4. Zur Interpretation von Römer 9 – 11
Schließlich hatte ich in meiner Stellungnahme darauf verwiesen, dass auch im Neuen Testament die universale Sendung der christlichen Gemeinde zusammen mit der bleibenden Erwählung Israels und also der fortdauernden besonderen Beziehung Gottes zu seinem Volk wahrgenommen und ausgesagt werden kann.

Slenczka hält dem entgegen, dass nach seiner Interpretation von Römer 9 – 11 (MJb., S. 112ff) Paulus die „bleibende Erwählung Israels“ als Kategorie der Verheißung nun in der Gemeinde der Christgläubigen erfüllt sieht. Allerdings übersieht Slenczka dabei m.E. den eigentlichen Anlass und die Pointe von Römer 9 -11. Richtig ist, dass der alttestamentliche „Restgedanke“ von Paulus auf die entstehende kleine christliche Gemeinschaft angewandt wird. Aber Paulus reduziert sein Erwählungskonzept nicht allein auf die Christgläubigen. Der Anlass der paulinischen Israeltheologie ist doch gerade die Frage, wie die Existenz und die Zukunft des nicht-christgläubigen Israels unter der Perspektive eines umfassenderen Erwählungskonzepts theologisch zu verstehen wäre. Die Pointe in Römer 11 ist doch, das Paulus einen Ansatz für eine Zwei-Wege-Theologie eröffnet. Ja, dass er den kühnen Gedanken vorträgt, diese beiden Wege der „Israeliten“ einerseits und der Christengemeinschaft andererseits entsprächen einer Art List der göttlichen Vernunft, sodass die Differenz zwischen beiden und ihre unterschiedlichen Wege letztlich in der Weisheit und Erkenntnis Gottes ihren noch zu erschließenden Sinn haben könnten. Auf dieser Linie führt der paulinische Ansatz seit langem zu konstruktiven Impulsen im christlich-jüdischen Dialog.

5. Slenczkas Konstrukt eines "christlichen Selbstbewusstseins"
Dreh- und Angelpunkt bei Slenczka ist der Verweis auf ein "christliches Selbstbewusstsein" als Kriterium der Bewertung von Texten und der Beurteilung ihrer Eignung für den Kanon einer Heiligen Schrift. In der Tradition von Schleiermacher und Harnack konstruiert Slenczka ein solches "christliches Selbstbewusstsein" als Überzeugung von einer "Bedingungslosigkeit und Universalität der Menschenliebe Gottes", welche diese christliche Überzeugung nun in den Texten des Alten Testaments nicht wiedererkennen würde und daher ihnen gegenüber "fremdelt" (Mjb, S. 100).

Ich gestehe, dass sich mir die Kritik von Professor Slenczka an meiner Stellungnahme in diesem Punkt nicht erschließt. Wahrnehmen kann ich in seiner Entgegnung, dass Slenczka mit der Formulierung „christliches Selbstbewusstsein“ allgemein auf den „Glauben an Jesus Christus“ zielt.   Allerdings scheint bei Slenczka in Aufnahme von Schleiermacher und Harnack von vornherein ein „Fremdeln“ gegenüber den Texten der Hebräischen Bibel im Konstruieren seines „christlichen Selbstbewusstseins“ eingebaut. Ich finde mich jedenfalls in dieser Perspektive nicht wieder. In seiner Kritik an Slenczka beschreibt Friedrich Wilhelm Graf überzeugend die Rolle der Texte des AT im Leben der Kirche (10). Die von Slenczka angeführte Vermutung, dass sich sein auf das Neue Testament reduzierte Kanon-Konzept faktisch durchgesetzt hätte, wird von ihm auch empirisch nicht belegt. In der Einführung zum „Entwurf zur Erprobung“ im Zuge einer „Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte“ im Auftrag von EKD, UEK und VELKD, 2014, werden dagegen Untersuchungen aufgeführt, die einen entgegengesetzten Trend belegen: den „Wunsch, die Anzahl alttestamentlicher Texte für die Lesungen im Gottesdienst und vor allem für die Predigt zu erhöhen“ (11).

6. Das "Fremdeln" und der „der fremde Gott“
In meiner Stellungnahme habe ich in dem Artikel von Slenczka ein „Fremdeln“ bei der Lektüre von Texten aus der Hebräischen Bibel als „reduzierte Lesepraxis“ kritisiert. Nachdem nun Professor Slenczka in seiner Entgegnung diesen Begriff selber als „sehr schlecht gewählt“ problematisiert hat,  muss ich diesen Kritikpunkt nicht weiter verfolgen. Das gilt auch für die höchst irritierende Formulierung bzgl. des AT „dessen ursprünglicher, historisch feststellbarer Sinn für die ihn kanonisierende Trägergemeinschaft in keiner Weise als Zeugnis für Christus bzw. den Glauben der Gemeinde an ihn verstanden werden kann: er spricht zu anderen von einem andern Gott" (MJb, S. 111). Auch hier respektiere ich in der Entgegnung Slenczkas die Feststellung, dass auch für ihn im AT kein „fremder Gott“ sprechen würde.

7. Zum Vorwurf des theologischen Antijudaismus
Bei allem Respekt vor den bedeutenden Theologen Friedrich Schleiermacher und Adolf von Harnack ist gleichwohl nicht zu verdrängen, dass wir bei ihnen auch auf massive Ausdrucksformen des klassischen protestantischen theologischen Antijudaismus stoßen. Bei Schleiermacher sogar auch auf abstoßenden Antisemitismus (12). Dass wir bei diesen Autoren auch bzgl. ihrer Haltung zum Alten Testament auf antijüdische Stereotypen treffen können, ist nahe liegend. Ich habe in meiner Stellungnahme die Aufnahme solcher Stereotypen bei Slenczka kritisiert. Zwar verweist Professor Slenczka hinsichtlich dieser antijüdischen Ausführungen ausdrücklich auf die Autorenschaft Schleiermachers, aber es findet sich bei ihm keine ausdrückliche Kritik dieses traditionellen protestantischen Antijudaismus. Im Gegenteil, der Leser erfährt den Autor Slenczka als generell zustimmend hinsichtlich der zentralen theologischen Perspektiven Schleiermachers, ohne inhaltliche Distanzierung von deren antijüdischen Ausformungen. Ich respektiere aber, dass Slenczka in jüngsten Interviews benennt, dass notwendige Distanzsignale in seinem Beitrag nicht genügend deutlich zum Ausdruck kamen.

8. Der falsch verstandene christlich-jüdische Dialog
Ein Kern des Dissenses ist die Interpretation des christlich-jüdischen Dialogs bei Slenczka. Es irritiert, dass er ausgerechnet den christlich-jüdischen Dialog als Zeugen dafür aufrufen möchte, dass eine christliche Lesart der Texte des Alten Testaments völlig abzulehnen sei (MJb, S. 119). Die auch im Dialog mit dem Judentum neu gelernte Wahrnehmung des in seiner eigenen Geschichte begründeten jüdischen Lesens und Lebens mit der Hebräischen Bibel hat zu der These vom doppelten Ausgang des AT geführt, also einer jeweils eigenen Wirkung dieser Texte im Judentum und im Christentum. Slenczka führt zwar diese These vom doppelten Ausgang des AT an (S. 105f.), schafft es aber nicht, diese für seine Abhandlung fruchtbar zu machen. Statt dessen zwängt er auch diesen konstruktiven Ansatz in das Korsett seiner Religionsgeschichte und behauptet - allerdings in reichlich unscharfer Formulierung -, dass die im Alten Testament "versammelten Texte zu den Überzeugungen der Kirche in einem doch eher konfliktuösen Verhältnis stehen", sodass sie eben in der Kirche nur als "religionsgeschichtliche Voraussetzung des christlichen Glaubens" zu verorten wären (S. 106). So vergibt er sich die Chance, die mit dem christlich-jüdischen Dialog der letzten Jahrzehnte eröffnet wurde, und die darauf basiert, dass die jüdische und die christliche Lektüre der Hebräischen Bibel, einander nicht mehr ihre Legitimität bestreitend, damit begonnen haben, voneinander und miteinander zu lernen.

Slenczka problematisiert in seiner Entgegnung diese Komplementär-Hermeneutik, die gleichwohl einen Kern der Entwicklung im christlich-jüdischen Dialog widerspiegelt (13). Der christliche Zugang zur Hebräischen Bibel ist christologisch begründet, aber auf dieser Grundlage eröffnet sich eben dann wirklich Zugang zu allen Aspekten des AT. Dies wird im Dialog mit dem Judentum vertieft und eröffnet Möglichkeiten des Perspektivenwechsels, so dass Jesus von Nazareth und die Anfänge der Kirche auch aus der Perspektive der Hebräischen Bibel neu beleuchtet werden können.

Von katholischer Seite wird auch in expliziter Auseinandersetzung mit der These Slenczkas von Ludger Schwienhorst-Schönberger ausgeführt, das eine jüdische und und eine christliche Lesart des AT „exegetisch-literaturwissenschaftlich... möglich“ sind: „Das Alte Testament weist ein Sinnpotenzial auf, das in unterschiedliche Richtungen entfaltet werden kann. .. Beide Lesarten sind hochgradige Formen der Interpretation, die historisch gesehen nebeneinander, miteinander und gegeneinander entstanden sind. Mit der christlichen Deutung des Alten Testaments eignet sich das Christentum kein ihm fremdes Buch an; es nimmt dem Judentum dieses Buch auch nicht weg. Vielmehr gehört dieser Teil der Heiligen Schrift beiden: dem Judentum wie dem Christentum.“ (14)

Ich stimme Notger Slenczka darin zu, dass sich hier eine Fülle von Fragen und Themen ergeben, die in der theologischen Wissenschaft im Allgemeinen und im christlich-jüdischen Dialog im Besonderen weiter zu bearbeiten sind. Allerdings ist dabei in den vergangenen Jahrzehnten außer ihm noch niemand auf den Gedanken gekommen, das AT aus dem Kanon der christlichen Bibel zu entfernen.

9. Zensur? - Meine Anfrage an die Herausgeber des Marburger Jahrbuchs Theologie XXV
In meiner Stellungnahme zu Slenczka habe ich geschrieben: Warum, so fragt man sich angesichts der von Slenczka neu vorgetragenen These Harnacks, das Alte Testament aus dem Kanon der christlichen Bibel zu verbannen, haben die Herausgeber des Marburger Jahrbuchs Theologie XXV den so abwegigen Beitrag Slenczkas überhaupt aufgenommen?

Diese Frage hat mir den Vorwurf eingetragen, ich würde in der wissenschaftlichen Theologie Zensur einfordern. Friedrich Wilhelm Graf konnte sogar der Versuchung nicht widerstehen, mir gar ein „Ajatollah“-Mäntelchen umzuhängen (15). Dass allerdings fast sämtliche seiner Kritikpunkte an Slenczka drei Wochen zuvor bereits in meiner Stellungnahme erschienen, das verschweigt dieser Held der Differenzierungskraft.

Bei alledem wird aber die ernste Frage übersehen, die hinter meiner Einlassung steht: Ist für die Evangelische Theologie und insbesondere auch für den „Theologischen Arbeitskreis Pfullingen“ die These von der Dekanonisierung des AT eine anerkannte Option des wissenschaftlichen Diskurses?

Der weiteren Diskussion dieser Frage sehe ich aus einer Teilnehmerperspektive im christlich-jüdischen Dialog mit Interesse entgegen.

 

1. Slenczka, Notger, Die Kirche und das Alte Testament, in: E. Gräb-Schmidt, R. Preul (Hg.), Das Alte Testament in der Theologie, Marburger theologische Studien 119, Leipzig 2013
2. In seiner Entgegnung an mich vom 18. März 2015 schreibt Professor Dr. Slenczka: „Die Pointe aller meiner Ausführungen zu Harnack ist nicht, wie Sie vermuten, die, daß wir diese Positionen teilen sollten, sondern daß wir sie faktisch teilen“. (https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/slenczkaantwortpieper18-03-2015.pdf) - Es ist aber gleichwohl eindeutig, dass Prof. Dr. Slenczka sehr wohl die Forderung nach dem Entzug des Status der Kanonizität für die Hebräische Bibel aufstellt: So beginnt sein Beitrag im Marburger Jahrbuch XXV mit der These, „dass das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte“ (!). Auf seiner universitären Internetseite findet sich der Satz: „2013 habe ich in einem Aufsatz die These aufgestellt, daß das AT in der Kirche keine 'kanonische Geltung' haben sollte und auch faktisch nicht hat, sondern, wie Harnack gesagt hatte, den Apokryphen gleichzustellen sei“. (https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/AT).
3. Es gab Stimmen aus dem Raum evangelischer Fakultäten, die die indirekte Distanzierung von Notger Slenczka durch die anderen Beiträger des Jahrbuchs (s. Anm. 1.) für ausreichend hielten. Ich teile diese Haltung nicht.
4. http://www.deutscher-koordinierungsrat.de/dkr-home-Stellungnahme-Theologischer-Skandal-im-Protestantismus
5. u.a.: die Bischöfe Markus Dröge und Professor Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.04.2015, und Bischof Professor Dr. Martin Hein, epd 01.05.2015
6.  http://www.evangelisch.de/inhalte/121369/02-05-2015/ratsvorsitzender-heinrich-bedford-strohm-debatte-um-das-alte-testament-niedrigerhaengen
7. Friedrich Wilhelm Graf, „Hiobs Botschaft“, in: „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ vom 26.04.2015
8.: s. Anm. 2.
9. Jürgen Ebach, „Sola scriptura“ – zwei Testamente – siebzig Gesichter, in: http://www.reformiert-info.de/14267-0-12-14.html; vgl. auch die dort angegebene exegetische Literatur, u.a. von Frank Crüsemann, Klaus Wengst, Pierre Lenhardt, Peter von der Osten-Sacken
10. s. Anm. 7
11. Neuordnung der gottesdienstlichen Lesungen und Predigttexte, Entwurf zur Erprobung, im Auftrag von EKD, UEK und VELKD, 2014, S. 25
12. u.a. in seiner 5. Rede: in F.D.E. Schleiermacher, Reden über die Religion (etc.), 1799
13. Friedhelm Pieper, Von Asymmetrie zu Komplementarität. Der Wandel im christlich-jüdischen Dialog, in: Ökumenische Rundschau 57, Heft 4, 2008 S. 413 - 430
14. Ludger Schwienhorst-Schönberger, Die Rückkehr Markions, Ein Beitrag zur Debatte um die Thesen von Notger Slenczka und den Stellenwert des Alten Testaments. In Internationale Katholische Zeitschrift Communio, 3/2015, im Internet bereits unter: http://www.communio.de/
15. s. Anm. 7

Pfarrer Friedhelm Pieper ist Evangelischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Bad Nauheim. Er arbeitet als Europa-referent im Zentrum Oekumene der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Frankfurt am Main.

Dieser Beitrag erschien leicht verändert auch im Deutschen Pfarrerblatt 5/2015

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