Die Wahrheit beginnt mit zwei
von Jürgen Ebach

„Die Wahrheit beginnt mit zwei“ – die Überschrift für die beiden Statements klingt etwas rätselhaft. Mit unseren Bekundungen beginnt die Wahrheit? Das gewiss nicht! Der Satz zeigt vielmehr an, dass sich Wahrheit nur dialogisch entfalten kann. „Die Wahrheit beginnt mit zwei“ – das ist ein Zitat aus dem Buch „Das verbrannte Buch. Den Talmud lesen“ des französischen Rabbiners und Philosophen Marc-Alain Ouaknin.1 Es steht übrigens fast gleichlautend bereits bei Friedrich Nietzsche, der unter der Überschrift „Einmaleins“ notiert: „Einer hat immer Unrecht: aber mit zweien beginnt die Wahrheit.“2

Dass die Wahrheit mit zwei beginnt, kennzeichnet die Struktur rabbinischer Diskurse. Es gibt in der Auslegung der „Schrift“ nicht die eine Wahrheit, erst recht keine, die sich im bloßen Zitieren biblischer Sätze oder Sprüche erwiese. Der Dialog zielt nicht einmal darauf, dass sich die miteinander Diskutierenden auf eine Wahrheit verständigen. Allerdings ist zuweilen nach ausführlicher Diskussion mehrheitlich zu entscheiden, was – wenigstens für eine Weile – gelten soll. Aber in den meisten Fällen zeigt das Neben-, Gegen- und so Miteinander verschiedener Positionen den Reichtum der auszulegenden und je neu zu aktualisierenden „Schrift“-Worte. Und die Vielfalt ist ein Reichtum der Bibel selbst, die auf manche Fragen mehr als eine Antwort hat. Nicht selten kann ich einem biblischen Satz nur zustimmen, wenn ich einem anderen biblischen Satz widerspreche. Ich möchte diese bis zum Widerspruch reichende verbindende und verbindliche Vielfalt, in der sich die Worte der Bibel als vielstimmiges Zeugnis des gelebten Lebens entfalten, wahr nehmen. Diese Vielstimmigkeit, diese Mehrdeutigkeit und Mehrdeutlichkeit begeistert mich. Ich weiß aber auch, dass Viele sich davon verunsichert fühlen. Wo bleibt denn die Wahrheit des Gotteswortes, wenn es in der Vielstimmigkeit seiner Bezeugungen und Auslegungen im Zweideutigen, im Ungefähren, im Beliebigen zu verschwimmen droht? Woran soll ich mich zuerst und zuletzt halten? Um solche Fragen wird es gleich in der Gesprächsrunde über das Verstehen der Bibel „zwischen Eros und Angst“ gehen. Ich bleibe zunächst bei der Überschrift unserer Statements.

„Die Wahrheit beginnt mit zwei.“ In gewisser Hinsicht beginnt die Bibel selbst mit „zwei“. In ihren ersten Kapiteln ist zweimal von der Schöpfung die Rede – ähnlich, doch nicht gleich und zuweilen auch gegensätzlich. Ich denke aber auch an den allerersten Buchstaben der Bibel, der im Alphabet der zweite ist, an das „Bet“, das „b“ am Anfang des ersten Wortes b´reschit – „Am Anfang“ oder „Im Anfang“ oder, so verdeutsche ich lieber: „Beim Beginn“. Zu diesem Beginn mit „b“ gibt es viele Interpretationen3; manche basieren darauf, dass der Buchstabe „Bet“ im Hebräischen auch das Zahlzeichen „zwei“ ist. Hier also buchstäblich: „Die Wahrheit beginnt mit zwei.“ Ich denke aber auch an eine Psalmenstelle. In Ps 62,12 heißt es: „Eines hat Gott gesprochen, zwei sind’s, die ich gehört habe“ (achat dibber elohim/ schtajim zu schama´ti). Auch da gibt es mehr als eine Verstehensmöglichkeit. Leider vermag ich das eine Wort Gottes nicht als das eine klare zu hören. So gehört, bekundete der Satz, dass alle menschlichen Verstehensmöglichkeiten zurück bleiben hinter der Klarheit des einen Gotteswortes. Aber dann auch die gegenstrebige andere Lesart: Mich beglückt, dass ein Wort Gottes so vielfältig, so reich an Verstehensmöglichkeiten ist und dass Menschen mit Verstand und Phantasie im Diskurs mit anderen Lernenden etwas von diesem Reichtum herausfinden können – und sollen. Diese Haltung kennzeichnet die rabbinische „Schrift“-Lektüre und ihr Konzept von festem Text und freier Auslegung. Dafür wurde dieses Psalmenwort zu einem oft zitierten Grund-Satz.4

„Die Wahrheit beginnt mit zwei.“ Immerhin beginnt mit der Silbe „zwei“ auch der „Zweifel“. „Damit wir klug werden“, lautet die Kirchentagslosung, und damit wir klug werden, dürfen wir den Zweifel nicht entsorgen. Ich misstraue jedem Urteil, das etwas als „zweifellos richtig“ oder, wie es heute gern heißt, als „alternativlos“ ausgibt.

Ich stehe als evangelischer Christ, als Exeget und Theologe auf dem „sola scriptura“, und ich sehe da zunächst eine Übereinstimmung mit jüdischer „Schrift“-Lektüre. Warum sage ich „zunächst“? Das Problem einer jüdische und christliche Bibelleserinnen und -leser verbindenden Wahrnehmung der „Schrift“ liegt nicht im Prinzip des „sola scriptura“. Es liegt eher schon daran, dass die „Schrift“ in jüdischer und in christlicher Lektüre nicht die gleiche ist. Ich meine damit nicht nur, dass „scriptura“ in christlicher Tradition das Alte und das Neue Testament ist, sondern auch, dass das christliche „Alte Testament“ und die „Hebräische Bibel“ bereits in der Anordnung ihrer Bücher nicht identisch sind.

Das Hauptproblem des reformatorischen „sola scriptura“ im Gespräch mit Jüdinnen und Juden ist aber ein anderes, nämlich jenes „sola scriptura“ im Ensemble mit anderen Alleinstellungsmerkmalen und dabei vor allem dem „solus Christus“. Für Martin Luther stand fest: Das Alte Testament ist ein unverzichtbarer Teil der für Christen kanonischen, d.h. normativen ganzen Bibel. Für Luther stand aber auch fest: Die christologische Auslegung des Alten Testaments ist die einzig wahre. Luthers widerwärtige Spätschriften über die Juden wird heute kein ernst zu nehmender Mensch verteidigen, im Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 gibt es auch von kirchenleitenden Menschen den deutlichsten Ausdruck von Ablehnung und von Scham. Aber das Problem sitzt tiefer. Da hat sich nicht nur ein verbitterter alter Luther zu unflätigen Äußerungen hinreißen lassen, vielmehr zeigen auch seine frühen Judenschriften ungeachtet ihres moderateren Tons die Überzeugung, eine Auslegung des Alten Testaments, die es nicht auf Christus bezogen liest, sei falsch, ja verstockt und lügnerisch. Das spricht Jüdinnen und Juden ab, ihre eigenen Texte verstehen zu können. Mehr noch: nach Luther verstoßen die Juden, die Christus nicht als Gott bekennen, gegen das Erste Gebot. Luthers Judenfeindschaft ist keine bedauerliche Entgleisung, sie hat selbst Gleise gelegt. Darum reicht es nicht, sich von einzelnen Äußerungen des Reformators zu distanzieren; es bedarf einer gründlichen Neubesinnung über Grundfragen christlicher Lektüre der hebräischen Bibel. Dazu jetzt nur vier knappe Thesen:

  1. Das Neue Testament führt nicht aus dem Alten heraus, sondern ins Alte hinein.
  2. Das Alte Testament ist (mit Frank Crüsemann5) „der Wahrheitsraum des Neuen“.
  3. Das Neue Testament ermöglicht mir als einem Menschen aus den Völkern einen Zugang zu Israels Gott.
  4. Israel ist der erste und bleibend erste Adressat der hebräischen Bibel, des Alten Testaments. Ich möchte mir von dem, was Israel und was in Israel gesagt ist, etwas sagen lassen.6

 

In diesem Sinn stehe ich – mit dem Titel unserer Veranstaltung – auf der Schrift. Dazu aber auch ein Satz der Rabbinen: „Es gibt keinen Menschen, der auf den Worten der Tora stehen kann, er wäre denn über sie gestolpert.“7 Doch was ist ein „schriftgemäßes“ Verstehen der Bibel? Es sei nicht schriftgemäß – das wird meist ins Feld geführt, um damit eine Abkehr von der vermeintlich einzigen biblischen Wahrheit zu verurteilen. Nicht schriftgemäß sei, um nur diesen Dauerbrenner evangelikaler Fundamentalisten zu nennen, die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften. Als „schriftgemäß“ werden dann einzelne Sätze aus der Bibel zitiert und in ihrem Wortlaut zur ewigen Wahrheit erklärt. Ich halte dagegen: „Schriftgemäß“ ist, was der „Schrift“ selbst gemäß ist, d.h. die Wahrnehmung ihres vielstimmigen Zeugnisses und dabei auch ihrer Spannungen und Widersprüche.

Einer fundamentalistischen Inanspruchnahme der Bibel halten andere entgegen, man dürfe die Bibel nicht wörtlich verstehen. Gemeint ist damit, dass nicht alles, was in der Bibel steht, historisch so gewesen ist, faktisch so ist oder so sein soll. Das stimmt ja auch, aber wie denn soll man Worte anders als wörtlich verstehen? Die Anweisung, man solle Bilder nicht bildlich oder Musik nicht musikalisch verstehen, wäre absurd. Ich möchte die Worte der Bibel durchaus wörtlich verstehen. Ich möchte sie hören und lesen, sie im Nachdenken und im Gespräch mit anderen ausloten und in ihrem Reichtum, ihrer Mehrdeutigkeit und Mehrdeutlichkeit zu verstehen suchen. Fulbert Steffensky sagte einmal, ein Buch, das er vollständig verstanden habe, hätte er gar nicht erst lesen müssen. Das gilt auch für die Bibel. Ich habe sie keineswegs vollständig verstanden und darum will ich sie lesen. Immer wieder und immer neu – und nicht allein.

„Die Wahrheit beginnt mit zwei.“ Vielleicht ja auch mit zwei Möglichkeiten, die Gotthold Ephraim Lessing imaginierte und mit denen ich mein Statement beschließe:

„Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: ‚Wähle!‘ ich fiele ihm in Demuth in seine Linke und sagte: ‚Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‘“8

1 Originalausgabe: Le livre brulé. Lire le Talmud, Paris 1986 (³1990), dt. Weinheim/ Berlin 1990, hier 213.
2 Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Aphorismus 260, in: Friedrich Nietzsche, Werke in sechs Bänden, hg. v. K. Schlechta, München/ Wien 1980, 3. Bd., hier 158.
3 Dazu J. Ebach, Die Bibel beginnt mit „b“, in: Ders., Gott im Wort, Neukirchen-Vluyn 1997, 85–114.
4 Auf diesen Psalmensatz beziehen sich u.a. bSanhedrin; Sifre Dtn 233; Sifre Num 42.102.111; jNedarim 3,2; ferner Raschis Einleitung in den Kommentar zum Hohenlied; vgl. auch Jakob. J. Petuchowski, Wie unsere Meister die Schrift erklären, Freiburg i. Br. 1982, 29.101.139; weiter zu Ps 62,12 J. Ebach, Verbindliche Vielfalt. Welche ökumenische Begegnung mit der Wahrheit ist „schriftgemäß“?, in: Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung, FS Michael Weinrich, hg. v. M. Hofheinz u.a. (FRTH 4), Neukirchen-Vluyn 2015, 349-362, hier bes. 357ff.
F. Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, Gütersloh 2011.
6 Ausführlicher dazu J. Ebach, Hören auf das, was Israel gesagt ist – hören auf das, was in Israel gesagt ist. Perspektiven einer „Theologie des Alten Testaments“ im Angesicht Israels, EvTh 62 (2002) 37-53.
7 b Gittin 43a zu Jes 3,6.
8 Aus dem Kontext des Fragmentenstreits in: „Eine Duplik“ (1778), in: G.E. Lessing, Ges. Werke in zehn Bänden, hg. von P. Rilla, Bd. 8: Philosophische und theologische Schriften II, Berlin 1956, 27.

Vortrag auf dem Kirchentag in Stuttgart 2015 im Zentrum Juden und Christen
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.

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