Zur Rechtfertigung
von Andreas Pangritz

Die „Rechtfertigung des Sünders“ dürfte zu den theologischen Konzepten der Reformation zählen, mit denen auch evangelische Christen heute am wenigsten anfangen können. Das fängt schon bei der Begrifflichkeit an: Der Sünder, der da gerechtfertigt werden soll, existiert in der allgemeinen Wahrnehmung nicht mehr. Und Rechtfertigung mag in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ein Problem sein; im Verhältnis zu Gott spielt sie keine Rolle mehr. Luthers Frage nach dem „gnädigen Gott“ dürfte kaum noch die Frage sein, die die Menschen des 21. Jahrhunderts bewegt.

Nun hat im Vorfeld des Reformationsjubiläums, das im Jahr 2017 inszeniert werden soll, der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in einem „Grundlagentext“ an die Rechtfertigungslehre als das zentrale Anliegen der Reformation erinnert (Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017, Gütersloh 2014). Der Grundlagentext will die überragende „Bedeutung der Reformation für die europäische Freiheitsgeschichte“ herausstreichen und die „Kirche der Freiheit“ als „Verheißung des Projektes Moderne“ propagieren. So könne das Jubiläum zu einer „missionarischen“ Gelegenheit werden, denn die Reformation habe nun einmal „ihren spezifischen Anteil an der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte …, selbst wenn sie an einzelnen Punkten gerade kein Teil dieser Freiheitsgeschichte war“. Es klingt wie das Pfeifen im Wald, wenn es dann heißt: „Vor einem weithin sichtbaren ‚event‘ und einer ‚Eventisierung‘ im guten Sinn“ aus Anlass der Jubelfeiern brauche „sich niemand zu fürchten“. Wirklich nicht?

Die evangelische Standardpredigt
Zum Thema Rechtfertigung erfahren wir in dem Grundlagentext: Im „Zentrum der theologischen Aussagen der Reformatoren“ stehe „die Lehre, dass das versöhnte Verhältnis zwischen Gott und Mensch von Gott ausgeht und nicht das Ergebnis einer Selbstbesinnung oder sonstigen kulturellen, politischen oder religiösen Anstrengung ist“. Der Mensch werde „nicht bemessen nach dem, was er nach außen darstellt oder auch wie er persönlich dasteht“, sondern er werde „von Gott geliebt, anerkannt, gewürdigt, ganz unabhängig von seinem Bildungsstand, Einkommen, sozialen Hintergrund und gesellschaftlichen Ansehen“. Diese „Anerkennung oder Würdigung“ mache ihn „wahrhaft frei“. Diese religiöse Einsicht der Reformatoren stelle „auch eine Antwort auf Fragen heutiger Menschen“ dar. Ist das so?

Herausgekommen ist beim Versuch, „die Erfahrung der Rechtfertigung innerhalb der Kirchen neu zu plausibilisieren“, jedenfalls nicht viel mehr als die evangelische Standardpredigt, die da lautet: nichts dafür zu tun – dies jeden Sonntag, egal welcher Bibeltext grade dran ist: „‚Gerechtfertigt aus Gnade‘ heißt: geliebt trotz allem, was an mir nicht liebenswert ist, angenommen, obwohl ich unannehmbar bin“. Rechtfertigung bedeute vor allem „Lebenshilfe“. Denn „Gottes Gerechtigkeit“ bestehe „darin, dem Menschen die Gerechtigkeit Christi zuzurechnen und den Menschen nur im Horizont des Christusgeschehens anzusehen“. Die „Botschaft“, „dass Gottes Gnade allein … der Grund der Annahme des Menschen durch Gott ist“, sei „auch heute noch heilsam“, da sie unsere „Leistungsgesellschaft“ störe und den Menschen „zur Ruhe“ kommen lasse. Haben all diejenigen, die durch ihren Glauben bewegt, in Unruhe versetzt werden, etwas falsch verstanden?

Sünder – alle in gleicher Weise
Die Autoren des Grundlagentextes sind sich dessen bewusst, dass man „heute … nicht mehr gern“ „von Sünde spricht“. Dennoch halten sie die „Pointe“ des reformatorischen Sündenbegriffs für entscheidend, dass nämlich „alle Menschen in der gleichen Weise Sünder sind und alle in der gleichen Weise der Gnade bedürftig“. Die zweimalige Verwendung der Floskel „in der gleichen Weise“ soll die „Egalisierung der Menschen vor Gott“ unterstreichen, in der „eine transformative Kraft auch für moderne Gesellschaften“ liege. Sie bestehe darin, dass „Gottes Gnade … zwischen Person und Werk“ unterscheide und uns lehre, „ebenso zu unterscheiden und auf diese Weise gnädig zu sein“, insbesondere gegenüber „Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen“. Der letzte Hinweis lässt aufhorchen: Sollen etwa „Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen“, gleicher sein als die anderen, um sie so der Kritik zu entziehen? Soll die Unterscheidung von „Person und Werk“ dazu dienen, dass die Regierten den Regierenden alles verzeihen?

Andererseits muss gefragt werden, ob die egalisierende Rede, wonach alle Menschen als „in der gleichen Weise“ der Gnade bedürftige Sünder gelten, nicht zu gefährlichen Konsequenzen führen kann. Micha Brumlik hat beobachtet, dass „die Rechtfertigungslehre mindestens im Bereich der deutsch-protestantisch-preußischen Kultur … eine absolut fatale geistesgeschichtliche Rolle gespielt“ habe. Gerade die „moderne Theologie christlicher Freiheit“ habe „dazu geführt, den Versöhnungs- und Verantwortungsgedanken … völlig aufzugeben Die Rechtfertigungslehre habe der Selbstentschuldigung derjenigen gedient, die wegen Verbrechen an der Menschheit angeklagt waren. Jedenfalls sei „die Auseinandersetzung mit Katastrophen wie Genoziden“ so „kaum zu leisten“. Katharina von Kellenbach hat im Blick auf den Umgang der EKD mit NS-Verbrechern gezeigt, wie die „theologische Rede von Schuld und Vergebung“ in der Nachkriegszeit „als Täterschutz“ funktionierte.

Glaube und Werke
Den Autoren des Grundlagentextes erscheint die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium unverzichtbar zum Verständnis der Rechtfertigung: „Weil dem Menschen die Gerechtigkeit Christi zugesprochen wird, wird er für seine Sünde nicht länger vom Gesetz angeklagt, sondern von Gott freigesprochen. … Indem Gott dem Menschen seine Sünden vergibt und ihn deshalb als gerecht beurteilt, ist er für Gott dann auch tatsächlich gerecht.“ Die naheliegende Frage, was daraus für das christliche Leben folgt, wird nicht gestellt.

Zwar heißt es, dem Handeln Gottes „in Christus, allein aus Gnade“ entspreche „auf der Seite des Menschen der Glaube“. Dieser Glaube, in dem der Mensch „seine Rechtfertigung durch Gott“ zulasse, wird dann aber gleich polemisch zugespitzt: „Allein durch den Glauben heißt eben ‚nicht durch Werke‘.“ Denn der „Glaube“ sei nach reformatorischer Auffassung „vom Heiligen Geist gewirkt“; er sei also „keine Leistung des Menschen“. Glaube an die rechtfertigende Gnade wird also rein passiv verstanden, als ein Gefühl, eine „Herzensgewissheit, die der Kopf noch nicht eingeholt hat“.

Andererseits wird versichert, Glaube sei „zugleich immer auch tätiger Glaube … Gute Werke entstehen sozusagen ganz selbstverständlich, quasi automatisch aus dem Glauben.“ Der Glaubende handele „aus Dankbarkeit und Liebe heraus … fortan um des Nächsten willen, um ihm das Gute zu tun, was er selbst erfahren hat. Quasi von selbst“ vollbringe der Glaube „gute Werke“. Luther mag das so geglaubt haben, wenn er in seiner Freiheitsschrift von 1520 meint, dass gute Werke „aus freier Liebe umsonst Gott zu Gefallen“ und „dem Nächsten zugute“ geschehen. Da sie ein spontaner Ausfluss des Glaubens sind, sind sie eigentlich gar keine Werke. Jedes Nachdenken darüber verdirbt die Pointe. Das Gute versteht sich für die Glaubenden von selbst; es geschieht einfach. Ein schöner Gedanke! Aber vielleicht verbirgt sich darin die größte Lebenslüge des Protestantismus, die in der Behauptung besteht, das Ethische verstehe sich von selbst, es bedürfe keines weiteren Nachdenkens über Kriterien des christlichen Handelns in der Gesellschaft.

Wider die billige Gnade
Dietrich Bonhoeffer hat vor dem verbreiteten Missverständnis der Rechtfertigung als „billige Gnade“ gewarnt und stattdessen ihr Verständnis als „teure Gnade“ eingeschärft: „Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit, heißt Liebe Gottes als christliche Gottesidee. … Weil Gnade doch alles allein tut, darum kann alles beim alten bleiben.“ Die „Nachfolge Jesu“ habe man „um der Gnade willen“ „den Gesetzlichen“ überlassen. So habe „das Wort von der billigen Gnade … mehr Christen zugrunde gerichtet als irgendein Gesetz der Werke“.

Und Karl Barth hat zu bedenken gegeben: „Die Frage: Wie kriege ich einen gnädigen Gott? in höchsten Ehren! Sie ist aber dem Protestantismus – insbesondere dem deutschen Protestantismus – allzu lange Anlass und Versuchung gewesen, einem gewissen Narzismus zu huldigen …“ (KD IV/1). Über der Frage nach dem persönlichen Seelenheil wurde die Frage nach den Konsequenzen der Rechtfertigung im christlichen Leben vergessen, mit Calvin gesprochen: die Frage nach dem Zusammenhang von „Rechtfertigung und Heiligung“ des Menschen. Schon in seinem Römerbrief-Kommentar von 1919 hat Barth betont, dass „der Mensch unter der Gnade … die Gabe der Aktivität und des guten Willens“ habe: „Die Eigenkraft der Gnade sorgt dafür, dass wir neue Menschen auf neuen Wegen sind und bleiben.“ Und der späte Barth hat wiederholt: Christen seien „Menschen, die … von Gott angerührt und nicht mehr losgelassen, … zum Gehen in einer bestimmten Richtung befreit, aufgerufen, in Bewegung gesetzt sind.“ „Ein bisschen Werkgerechtigkeit“ brauche hier „keine Illusion und dann auch keine Gefahr zu bedeuten“ (Das christliche Leben).

Barths Rechtfertigungsverständnis zielt also „auf die Geburt eines freien, zum Tun des Gesetzes nicht mehr nur willigen, sondern von der Last der Sünde ungehemmt fähigen Menschen“. Es zielt „nicht so wohl auf die Rechtfertigung des alten Menschen als vielmehr auf die Erschaffung eines neuen. … Der neue Mensch kämpft für eine neue Welt. Traditionell ausgedrückt: keine Rechtfertigung, die nicht in sich Heiligung wäre.“ In der Rechtfertigung suche Gott „den Menschen, der ihn weltlich in der Welt ‚realisiert‘ …, ihm wie im Himmel eben so auch auf Erden Recht gibt“ (Friedrich-Wilhelm Marquardt). Die göttliche Rechtfertigung versetzt die Glaubenden nicht in wohliges Behagen einer Herzensgewissheit, sondern reißt sie aus ihrer Ruhe heraus, um sie zu aktivem Engagement in der Welt zu ermutigen.

Nicht zufällig steht an der Spitze der noachidischen Gebote, die nach jüdischer Tradition der ganzen Menschheit gelten, das Gebot der Rechtspflege. „Rechtfertigung versetzt … ins Gottesrecht. Und so will Rechtfertigung auch die Aufrichtung menschlichen Rechts“ (F.-W. Marquardt). In diesem Sinn hat Barth in seiner Auseinandersetzung mit dem NS nach einem Zusammenhang zwischen „Rechtfertigung und Recht“ gefragt: „Gibt es eine Beziehung zwischen der Wirklichkeit der von Gott in Jesus Christus ein für allemal vollzogenen Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben und dem Problem des menschlichen Rechtes …, durch die mit der göttlichen Rechtfertigung auch das menschliche Recht in irgend einem Sinn zum Gegenstand des christlichen Glaubens und der christlichen Verantwortung und damit auch des christlichen Bekenntnisses wird?“

Eine antijüdische Kampflehre
Dass es sich in der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bei Luther durchaus auch um eine „antijudaistische Kampflehre“ handelt, hat auch schon Barth bemerkt. Die Spontaneität der guten Werke hatte bei Luther gnadenlose Konsequenzen gegenüber den Juden: Gegenüber den „verstockten Juden“ half aus seiner Sicht schließlich nur noch die „scharfe Barmherzigkeit“ der Austreibung. Entsprechend bemerkt Leon Poliakov in seiner Geschichte des Antisemitismus: „Im Antisemitismus zog das religiöse Motiv, die Rechtfertigung durch den Glauben, eine Ablehnung der Werke nach sich, jener Werke, die unzweifelhaft jüdischer Prägung sind … Muß vielleicht ein wirklicher Christ, der seinen Gott in der Weise eines Martin Luther anbetet, nicht schließlich unvermeidlich die Juden aus ganzer Seele verabscheuen und sie mit allen Kräften bekämpfen?“ Das Gute versteht sich von selbst?

Wenn Marquardt einst die „Gemeinsame Erklärung“ von Lutheranern und Katholiken zur Rechtfertigungslehre von 1999 für „kirchlich irrelevant“ erklärt hat, weil sie konsequent an jüdischem Verständnis der Gerechtigkeit Gottes vorbei argumentiere, dann gilt dies in verschärfter Weise gegenüber dem Grundlagentext der EKD. Er geht nicht nur konsequent an dem Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung vorbei, sondern ignoriert auch jüdisches Verständnis der Rechtfertigung. Brumlik betont, ohne den Willen und „die Bereitschaft zur teschuwa“, zur „Umkehr“ könne es aus jüdischer Sicht keine Rechtfertigung, keine Versöhnung geben. Im Kol-Nidre-Gebet, dem Gebet, das vor dem Vorabend des Versöhnungstages gebetet wird, gehe es daher „nicht in erster Linie um die Rechtfertigung des Menschen vor Gott, sondern … um die Rechtfertigung des Menschen vor den Menschen, vor seinen Mitmenschen.“

Gerechtigkeit und Recht
Mit dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit und Recht hat der Grundlagentext der EKD herzlich wenig zu tun. Das lutherische Konzept der Rechtfertigung, wonach der von der Erbsünde zerfressene Mensch von dem gnädigen Gott ohne Werke des Gesetzes gnädig angenommen werde, ist in der Bibel eher peripher. Luther hat es aus einzelnen Stellen der paulinischen Briefe extrahiert und als Universalschlüssel zur Deutung der gesamten Bibel Alten und Neuen Testaments benutzt. Aus der unkritischen Handhabung dieses Schlüssels rührt die Langeweile der Predigt von der Rechtfertigung heute.

Abgeleitet ist das Wort „rechtfertigen“ von der „Gerechtigkeit“ (hebr. zedaqa; griech. dikaiosyne), die zu den zentralen Eigenschaften Gottes neben seiner Barmherzigkeit gehört und zugleich das utopische Programm für die menschliche Gesellschaft darstellt. Die Frage lautet, wie sich Gottes Gerechtigkeit in gerechten gesellschaftlichen Verhältnissen reflektiert. So fragt Bonhoeffer: „Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem?“

Im ursprünglichen paulinischen Zusammenhang hatte die Rede von der Rechtfertigung der Menschen vor Gott primär eine soziale Funktion: Es ging nicht um die Frage des Seelenheils, sondern um Fragen, die sich aus der neuen Begegnung von Juden und Nichtjuden in den messianischen Gemeinden ergaben: Sollen Griechen, die sich zum Juden Jesus bekennen, sich beschneiden lassen, um Glieder der Gemeinde werden zu können? Können Juden, die in Jesus von Nazaret den Erlöser sehen, mit Menschen, die die jüdischen Speisegesetze nicht kennen, gemeinsam essen? Dies sind praktische Fragen des Umgangs von Juden und Nichtjuden miteinander, die in der Rede von der Rechtfertigung ihre theologische Antwort fanden: Weder haben Juden gegenüber Nichtjuden etwas voraus, noch haben Nichtjuden einen Grund, sich über Juden zu erheben. Alle sind in die Gemeinschaft des Bundes Gottes aufgenommen, die Juden zuerst – durch die Tora –, dann auch die Völker – durch Jesus.

Der Vers, der zur Jahreslosung für 2015 ausgewählt worden ist, kann als die beste Zusammenfassung der paulinischen Rechtfertigungsverkündigung gelten: „Daher nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes“ (Röm 15,7). Was in den aktuellen Auslegungen dieses Verses meist verschwiegen wird, ist sein unmittelbarer Kontext: Es geht um das Verhältnis von Juden und Nichtjuden zueinander. Das macht die Fortsetzung deutlich, wo es heißt: „Ich sage: Christus ist Diener der Beschneidung geworden um der Bewährung Gottes willen, damit er die den Vätern gegebenen Verheißungen bestätige. Die Völker aber ehren Gott um seiner Barmherzigkeit willen, wie geschrieben steht …: Frohlockt, ihr Völker, mit seinem Volk!“

Andreas Pangritz, Professor für Systematische Theologie und Direktor des Ökumenischen Instituts an der Ev. Fakultät der Universität Bonn

aus: JungeKirche 1/2015

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