Noch immer von Martin Buber lernen
von Joachim Gauck

Auch wenn Martin Buber hier in Heidelberg weder studiert noch gelehrt hat, sind wir an einem passenden Ort, um heute seiner zu gedenken.

Da ist einmal die altehrwürdige Universität, deren philosophische und theologische Tradition Weltruhm genießt. Und da ist die Stadt, die seit mehr als 30 Jahren Sitz einer Hochschule für jüdische Studien ist.

In Martin Bubers Leben und Werk finden wir beides: auf der einen Seite die große europäische, akademische Tradition des philosophischen und theologischen Denkens, gepaart mit der sprachlichen Kraft des gelehrten Übersetzers, und auf der anderen Seite die gelebte Tradition des Judentums, gerade mit dem östlichen, dem chassidischen Erbe.

Martin Buber, der schon äußerlich mit seinem weisen, aber unbestechlichen Blick und mit seinem bedeutenden Bart wie ein von Michelangelo oder Dürer gemalter Prophet erschien: Er scheint aus der Tiefe längst vergangener Zeiten zu kommen – und doch hat er eine Botschaft, die für die Gegenwart wichtig ist.

Aus längst vergangenen Zeiten: Martin Buber war zu Hause in der Welt der hebräischen Bibel, der er, zusammen mit Franz Rosenzweig, eine deutsche Gestalt gab, wie es sie vorher nie gegeben hatte. Die Kraft des Hebräischen, die Bildhaftigkeit und die grammatische Fremdheit jener Sprache, in der zum ersten Mal die Lehre vom einen Gott Ausdruck fand, die hat er auf eine unerhörte Weise ins Deutsche gebracht. Immer neu muss man lesend die Fremdheit in Nähe verwandeln – und begreift so, dass das Heilige beides zugleich ist: vertraut und verstörend, erschreckend und faszinierend.

Aus längst vergangenen Zeiten: Welch eine Generation jüdischer Gelehrter ist, wie Buber, um die Wende zum 20. Jahrhundert geboren worden. Die Muttersprache ihres weltverändernden Denkens war deutsch, und doch sind sie von Deutschen vertrieben worden oder vor Verfolgung ins Exil geflohen: Franz Rosenzweig aus Kassel, Gershom Sholem aus Berlin, Hannah Arendt aus Linden bei Hannover, Walter Benjamin aus Berlin, Erich Fromm aus Frankfurt, Ernst Bloch aus Ludwigshafen, Max Horkheimer aus Zuffenhausen, Hans Jonas aus Mönchengladbach, und wer nicht noch alles: Karl Popper, Ernst Fraenkel, darunter manch einer, der, wie Adorno sagte, erst durch Hitler sein Judentum entdeckt hatte.

Der jüdische Geist, dem wir alle so viel verdanken, er sollte vertrieben und vernichtet werden, jener jüdische Geist, den auf so besondere Weise Martin Buber studierte, lehrte und geradezu verkörperte. Das Judentum mit zwei seiner wichtigsten Wurzeln, der Bibel und der chassidischen Tradition, das war sein Lebensthema – und dann natürlich seine entscheidende philosophische Erkenntnis, dass alles Leben Begegnung sei.

Vielleicht war gerade er dafür besonders berufen, als zentrales Geheimnis des menschlichen Lebens die Beziehung, die Begegnung zwischen Ich und Du zu begreifen.

Denn einerseits war er ein Kosmopolit, im alten Habsburgerreich geboren, in Lemberg in der heutigen Ukraine erzogen, er hat dort auf dem polnischen Gymnasium das Abitur abgelegt, danach studiert und gelehrt in München und Berlin und schließlich in Frankfurt, bevor er sich nach Palästina retten konnte, wo er dann als Gelehrter half, den Staat Israel mit aufzubauen. Übrigens sah er von Anfang an, ja sogar lange bevor er selbst den Boden des Heiligen Landes betrat, die Aufgabe, einen gerechten Ausgleich zwischen Arabern und Juden zu schaffen.

Dieser weltgewandte Gelehrte war andererseits ganz fest in jener religiösen Tradition verwurzelt und zu Hause, die mit den Psalmen immer wieder neu versucht, den Unausprechlichen anzusprechen, den Absoluten mit Lob, Dank und Bitte zu bestürmen, dem Ewigen als einem Du zu begegnen.

Das Prinzip Dialog, das Prinzip wirklicher Begegnung zwischen Ich und Du, das Gegenüber als gleichwertigen, gleich guten, gleich offenen, gleich wahrheitssuchenden Anderen anzunehmen: Könnte es heute etwas Wichtigeres geben?

Dieses Denken der Beziehung als Begegnung zwischen Ich und Du, einer Begegnung, die das Du nicht zu einem Es macht, die den anderen Menschen nicht verdinglicht, das ist ein Denken, das ein kostbares, immer wieder neu zu entdeckendes, widerständiges Erbe ist.

Ein Denken, für das die Begegnung von Ich und Du im Zentrum steht, ist ein schlechthin antitotalitäres und antiideologisches Denken. Wo der Einzelne "nichts", die Gemeinschaft, das Volk, die Religion, die Klasse oder was auch immer "alles" sein soll, da leistet das dialogische Prinzip Widerstand. Jede Gesellschaft, die eine menschliche sein will, muss der Begegnung freier Individuen Raum geben.

Martin Buber, jener "Erzjude", als der er sich in seiner Friedenspreisrede im Jahr 1953 bezeichnete, hat uns gezeigt, zu welch zutiefst humaner Haltung religiöser Glaube befähigen und ermutigen kann. Das ist in unseren Zeiten vielleicht aktueller, als er sich hat vorstellen können. Wir können alle – und gerade in Deutschland – noch immer von Martin Buber lernen. Sein Denken kann uns auch heute Orientierung geben.

Auch in unserer heutigen Welt der beschleunigten Kommunikation ist der Weg vom Ich zum Du noch immer genau so weit wie zu allen Zeiten. Auf diesem Weg der wahrhaftigen Begegnung gibt es keine Abkürzung. Uns auf diesen Weg zu begeben, dazu ermutigt uns die Erinnerung an jenen großen jüdischen Gelehrten, der vor 50 Jahren, wie wir hoffen dürfen, dem ewigen Du seines Schöpfers begegnet ist.

Ich bin all denen dankbar, die Martin Bubers Glauben, Denken, Suchen und Bekennen in Deutschland wachhalten.

Rede am 23. Juni 2015 beim Festakt zum 50. Todestag von Martin Buber – Ansprache in der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Es gilt das gesprochene Wort. Quelle: Webseite des Bundespräsidenten

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