Das jüdische Volk und die christliche Kirche – zwei spezielle Zeugen Gottes
Arbeitskreis ImDialog stößt Fenster und Türen auf
von Martin Stöhr

Liebe Mitmenschen,
besonders liebe Andrea Thiemann, liebe Gaby Zander,

ihr gehört zu jener Minderheit in unserem Land, die – wie der Arbeitskreis ImDialog, zu dem Ihr beide seit langem gehört - als Bauleute an einem Haus bauen, in dem nicht nur Platz für sich selbst, für die eigene Frömmigkeit oder für die eigenen Vorstellungen und Interessen ist. Ihr arbeitet in unterschiedlichen Gemeinden, baut aber am selben Haus Gottes und seines Messias. Deswegen danke ich Euch nicht nur persönlich mit vielen An- und Abwesenden. Das Haus, in dem die Jesusnachfolgenden „jetzt nicht mehr Fremdlinge und Gäste, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ sind, dieses Haus nennt der Epheserbrief (Kap.2) die „Wohnung Gottes…erbaut auf dem Grund der Apostel und Propheten“. Die zum jüdischen Volk so hinzu Gekommenen haben sich aber bald nicht mehr als „Gäste und Hausgenossen“ aufgeführt, sondern als alleinige Bewohner, die das Haus mit allerlei Absolutheitsansprüchen für den alleinigen Eigenbedarf besetzten. Sollten die Juden sehen, wo sie bleiben. Unterschiedliche Auffassungen – zB über Gestalt und Zeitpunkt des von Juden wie von Christen erwarteten Messias - wurden durch das Recht des Stärkeren einer zu Macht und Mehrheit gekommenen Kirche entschieden.

Gaby Zander setzt ihre Gemeindearbeit im Auftrag unserer Kirche in der politisch und religiös gespaltenen Stadt Jerusalem fort. Andrea Thiemann baut in dieser Gemeinde Bickenbach und in der Leitung des Arbeitskreises an diesem Haus kreativ weiter. Ich wünsche Euch den Segen des Einen Gottes Israels und aller Völker. Ihr Beide habt in Jerusalem studiert, einem religiös und politisch zerrissenen Ort. Er hat es, wie alle unsere Ortschaften auch hierzulande, bitter nötig, dass Menschen Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden persönlich und politisch im Alltag leben und erfahren, so wie Gott und sein Gesalbter es wollen.

Der Arbeitskreis ImDialog in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau hat seit den fünfziger Jahren Fenster und Türen zu unserer jüdischen Schwester- und Mutterreligion aufgestoßen. Wenn Fenster und Türen geöffnet werden, dann wirbelt ein frischer Wind uralten Staub auf. Dann macht ein helles Licht dunkle Dreckecken sichtbar. Und das Verhalten des christlichen wie des nichtchristlichen Deutschland gegenüber dem jüdischen Volk - das ist eine ganz und gar schmutzige Geschichte. Aber ein frischer Wind und ein helles Licht beleben jede Gemeinde. Auch das gehört zu den Erfahrungen des interreligiösen Gesprächs.

Wenn ich zurückschaue auf die Bemühungen nach 1945, eine neue Beziehung zwischen Judentum und Christentum, zwischen Kirche und Israel, aufzubauen, dann haben wir alle uns selbstkritisch zu fragen: wie nehmen wir uns gegenseitig wahr? Für Christen und Kirchen ist die jüdische Bibel, das Alte Testament, der größte Teil der eigenen christlichen Bibel. Alle Kernaussagen unseres Glaubens und die Leitlinien für ein menschliches Leben und Zusammenleben lernten und lernen wir von dort:

Die Kenntnis Gottes, der seit Beginn der Welt genau in dieser Welt Liebe und Gerechtigkeit, Versöhnung und Wahrheit selber austeilt, sie selber praktiziert und der will, dass seine Menschen nichts anderes tun als was er tut. Dazu hat er mit dem jüdischen Volk und der christlichen Kirche seine zwei speziellen Zeugen berufen. Gottes Wahrheit für die Menschen ruht auf zweier Zeugen Mund – heißt es, wo es in der Bibel ums Recht geht. Dass es zwei sind ist nicht schlecht, denn die Zeugen sind nicht immer und überall glaubwürdig. Sie können sich ergänzen. Der Auftraggeber entlässt weder die eine noch die andere Gemeinde. Das nenne ich Treue. Diese besondere Berufung ist ein Dienstauftrag, kein Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Religionen oder Weltanschauungen und schon gar kein Ruhestand.

Beide Zeugen halten damit das menschliche Suchen und Antworten zu diesen wichtigen Fragen wach: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?“ Diese Fragen hat einer der Väter der Aufklärung, hinter die wir heute nicht zurück können, Immanuel Kant, aufgeschrieben. Er, der „protestantischste“ aller Philosophen, will aus jeder „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ all jene befreien, die von anderen denken lassen, von anderen glauben lassen, die fremd gehen mit anderen Göttern, die gesteuert sind nur von ihrem Geld oder ihrem Spaßhabenwollen, die die Mitmenschen nur mit Scheuklappen sehen. Die suchende Aufklärung ist eine Befreiung von Gleichgültigkeit, Mitläufertum oder Fanatismus – in ihren religiösen wie in ihren nichtreligiösen Erscheinungen.

Die vier Fragen von Kant formulieren Schlüsselfragen an alle Religionen und Philosophien, an alle Menschen. Was wissen wir von unseren jüdischen Geschwistern, was auch vom Islam? Was können wir tun, da wo ich lebe? Was dürfen wir hoffen für unsere Mitmenschen, uns selbst und unseren Globus? Was bedeutet es, wenn wir als Christen bekennen, der Christus Jesus ist „der“ Mensch, Gottes singuläres Ebenbild? In der Bibel werden diese Schlüsselfragen im 1. Petrusbrief (3,15) zur Beantwortung so gebündelt: „Seid Immer bereit zur Verantwortung gegen jeden, der von euch Rechenschaft fordert über den Grund der Hoffnung, die in euch ist!“

Der entscheidende, weil biblische Grund aller Hoffnung ist die messianische Hoffnung, die Juden und Christen verbindet. Da wird die Hoffnung lebendig: Die sehr gut gelungene Schöpfung muss nicht unmenschlich und voller Leiden bleiben. Sie darf nicht so bleiben, wie sie ist - vor allem nicht für die Mühseligen und Beladenen. Damit schlagen wir einen hoffnungsvollen Weg ein.

Folgen wir dem Juden aus Nazaret nach, dann wissen, glauben und hoffen wir, dass er uns mit diesem Wort aus dem sog. Alten Testament zur Umkehr ruft: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ Und genau das ist der Punkt, wo die Wege von Juden und Christen auseinandergehen. Die getrennten Wege müssen uns nicht trennen Aber der entscheidende Unterschied ist auch nicht zu verwischen. Er besteht in der christlichen Auffassung, dass mit Jesus von Nazaret die messianische Zeit angefangen hat. Noch bitten wir in dem von ihm gelerntes Gebet an den gemeinsamen Gott „Dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, Dein Willen geschehe…..“ Wir sind noch nicht am Ziel.

Aber unsere jüdischen Geschwister fragen uns deshalb sehr genau das, was Jesus selber von seinen Jüngern, die alle Juden sind, gefragt wurde: „Bist du der, der da kommen soll oder sollen wir auf einen anderen warten?“ Das ist eine zutiefst biblische Frage, gespeist von der alttestamentlichen Hoffnung, dass in der messianischen Zeit, in der Zeit des Gottesreiches, Schwerter zu Pflugscharen, Hungernde satt, Unterdrückte frei, Kranke gesund und Tote lebendig werden. Christen glauben – auch biblisch begründet - dass Jesus Gottes Gesalbter, auf Deutsch: Gottes Christus ist. Mit seinen Taten und seinen Worten, die bei ihm nicht auseinanderfallen, verwirklicht er diese Hoffnungen – bis zum Tod am Kreuz. Gott gibt ihm ein neues Leben, eine mich beeindruckende, wenn auch schwere Vorstellung. Wichtig ist: Er lebt – so Paulus und die Evangelien – in dreierlei Gestalt: Bei Gott; in seinem Leib, der Kirche, dh in seinen Gemeinden und in den Hungernden und Dürstenden, Fremden und Nackten, Kranken und Gefangenen - da ist er mit seinem Erbe zu finden, damit wir uns an dessen Verwirklichung beteiligen.

Bei der Frage, ob wir das tun, habe ich immer einen Bericht des späteren Rabbiners Jakob Petuchowski im Ohr. Er konnte sich in die USA retten: Als Zehnjähriger holt ihn am 10. November 1938 sein Vater aus der Schule ab. Die Zwei rennen durch die Straßen ihrer Heimatstadt Berlin, vorbei an zersplittertem Glas, an geplünderten Häusern und an einer zerstörten Synagoge. Sie kommen auch an einer Kirche vorbei. Der zehnjährige Junge fragt seinen Vater, warum gehen wir nicht in diese Kirche? Da verfolgt uns niemand – heute würde man sagen, da finden wir „Kirchenasyl“ (übrigens eine humane „Erfindung“ aus dem Alten Testament). Der Vater antwortet: „Das sind Burgen der Feinde!“ Also keine Rettungsstationen, keine Notaufnahmelager.

Warum hinterließen alle christlichen Kirchen in ihren Mehrheiten jahrhundertelang den Eindruck, jetzt seien sie von Gott allein in seinen Gottes- und Menschendienst berufen und das jüdische Volk überholt, verworfen oder enterbt? Die Ausstellung „Luther und die Juden“ des AK ImDialog, die uns heute in dieser Kirche umstellt, verschärft diese Frage.

Gewiss: Christen können und sollen heute darauf verweisen, dass Schulbücher und Predigthilfen, liturgische Texte und Kenntnisse sowie die Beziehungen zum Judentum besser geworden sind. Heute wird kaum noch die Lüge verbreitet, die Juden hätten zu leiden gehabt, weil sie Jesus kreuzigten, ihre Bibel bestehe aus Gesetz, und unsere Bibel sei wertvoller, weil sie die Frohe Botschaft enthalte. Nein, Das Neue Testament hat auch Gesetz und das Alte Testament auch Evangelium.

Zum Glück entdeckten viele Christen in den letzten zwei Generationen, das mit uns eine Schwesterreligion dieselbe Bibel liest, die Jesus, die Apostel und Autoren des Neuen Testamentes als ihre Heilige Schrift lasen, auslegten und lebten. Das hilft, Abschied zu nehmen von christlichen Überlegenheitsargumenten und Alleinvertretungsansprüchen. Ein Erneuerungsprozess ist in Gang gekommen. Viele haben begriffen: Es kommt nicht aufs Recht-Haben an, sondern aufs Recht-Tun an. Das ist theologisch denkbar und praktisch lebbar.

Grußwort des Autors, gekürzt vorgetragen nach dem Gottesdienst in der Stephanskirche Bickenbach am 12.7.15 anlässlich der Amtsübergabe im „Evangelischen Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch ImDialog“ von Pfarrerin Gabriele Zander an Pfarrerin Andrea Thiemann

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ImDialog. Evangelischer Arbeitskreis für das christlich-jüdische Gespräch in Hessen und Nassau
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