Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 6 / Dezember 2015

 

Gerechtfertigt?
Thesen aus jüdischer Perspektive
von Micha Brumlik

Ich möchte so vorgehen, dass ich Ihnen ganz kurz wiedergebe, warum mich dieses Thema noch einmal über philosophische Überlegungen hinaus zu faszinieren begonnen hat. In einem zweiten Schritt versuche ich dann, mit einer Interpretation des Kol-Nidre-Gebets deutlich zu machen, wie wir das im Judentum sehen.

Mich hat die Rechtfertigungslehre, so wie ich sie bei Luther in De servo arbitrio in seiner Situation von 1525 kennen gelernt habe (1), schon deswegen interessiert, weil sie ein genuin neuzeitlich-moralphilosophisches Thema aufnimmt, nämlich die Frage nach der Freiheit des menschlichen Willens: ein Thema, das bis heute in der Philosophie und in den Human- und Kulturwissenschaften umstritten ist. Nach wie vor ist ungeklärt, ob wir tatsächlich realiter von einer menschlichen Handlungsfreiheit ausgehen können oder nicht. Es ist eine offene Frage, ob wir nicht letzten Endes uns selbst eine gewisse Determiniertheit zuschreiben müssen, wofür die modernen Humanwissenschaften, nicht zuletzt die Psychoanalyse, ja auch ausgesprochen gute Argumente liefern. Es ist allerdings so, dass wir, wenn wir uns in moralischen Disputen und Auseinandersetzungen befinden, uns selbst unsere eigene Ernsthaftigkeit bestreiten, wenn wir allzu schnell und allzu vorläufig diese Determiniertheit annehmen. Das ist das aktuelle Grundproblem.

Wenn ich es richtig sehe, kennt die christliche Tradition dazu zwei unterschiedliche Perspektiven, die von einer gemeinsamen Quelle ausgehen. Das ist mit Sicherheit der Apostel Paulus, wie wir ihn vor allem im Römerbrief finden. Wie Sie alle wissen, schreibt er auf der einen Seite der Tora zu, heilig, gerecht und gut zu sein (2) - er ist ja nun ein pharisäischer Jude gewesen. Zugleich bringt er aber, in einem ungeheuer kühnen Kurzschluss, Gesetz, Sünde und Tod in einen Zusammenhang (3) (hier beginnen allerdings gewisse Übersetzungsprobleme). Die Tora, die, wie man bei den Berachot (Segenssprüchen) im Schabbat-Wortgottesdienst sehen kann, für Juden der Weg zum Leben ist, wird so gewissermaßen zum Indikator von Tod und Sünde, aus denen die Tora selbst nicht mehr heraushelfen kann..

Dieser erste, sehr provokative Schritt wird bei Luther im 16. Jahrhundert noch einmal verschärft, indem er auf den Spuren der Kirchenväter, namentlich von Augustinus, die menschliche Willensfreiheit in wesentlichen Aspekten nicht nur negiert, sondern, wenn ich es richtig sehe, zu der wiederum äußerst kühnen und provokativen Mahnung kommt, dass gerade dort, wo der Mensch nicht nur wähnt, das sittlich Gute zu tun, sondern es tatsächlich auch tut, er von Gott am weitesten entfernt ist (so jedenfalls liest es sich in der Heidelberger Disputation (4). Aber das ist ja nun in der Tat eine äußerst kontra-intuitive, sehr kühne Annahme. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen. Gerade dort, wo der Mensch nicht nur wähnt, Gottes Willen zu tun, sondern ihn auch tatsächlich tut, im Handeln gegenüber seinem Mitmenschen also, ist er von Gott insofern am weitesten entfernt, als er in seiner, so heißt das dann, Konkupiszenz vergessen hat, von wem er eigentlich durch und durch und ganz und gar abhängig ist.

Leo Baeck hat in seiner jetzt wieder aufgelegten Schrift über romantische Religion aus den 1920er Jahren (5) dies ganz im Sinne der neueren protestantischen Theologie als eine romantische Religion angesehen. In ihr spielt das menschliche Handeln nur eine untergeordnete Rolle. In der Abhängigkeit von anderen Mächten, zu denen Baeck nun in diesem Zusammenhang auch Gott zählt — das muss man einräumen —, wird in ihr der Mensch als jemand dargestellt, dem es vor allem auf das Sein, auf das Abhängig-Sein ankommt, aber nicht auf das, was er tun soll und tun kann.

Warum hat mich die Auseinandersetzung über die Rechtfertigungslehre noch einmal zu interessieren begonnen? Sie hat mich zu interessieren begonnen im Nachklang zu der Auseinandersetzung zwischen Ignatz Bubis und Martin Walser, als Martin Walser in seiner Duisburger Rede (6) gesagt hat — nachdem er für seine Friedenspreis-Rede bereits heftig angegriffen worden war, auch von nichtjüdischen Wissenschaftlern im Vorfeld seines Auftritts in Duisburg —, dass es in diesem Zusammenhang darauf ankäme, sich auch auf die neuere evangelische Theologie zu besinnen, namentlich auf den in Tübingen ansässigen, viel erfahrenen und doch in keiner theologischen Richtung befangenen Theologen Eberhard Jüngel. Von Jüngel ist tatsächlich annähernd zeitgleich ein, wie ich finde, wirklich vorzügliches Buch herausgekommen, in dem er noch einmal in der Auseinandersetzung um die Rechtfertigungserklärung der katholischen und der evangelischen Kirche versucht hat, den Sinn dieser Rechtfertigungslehre klarzumachen. Auffälligerweise findet sich in Jüngels Buch eine Fußnote, in der er erklärt, dass das ganze Problem für das Judentum keines sei, weil dort Gesetz und Evangelium, Gericht und Gnade noch ungeschieden nebeneinander stünden. (7) Es hat sich aber gezeigt — ich habe das bei den Auseinandersetzungen um den Kirchentag 1999 mitbekommen —, dass Eberhard Jüngel selbst in keiner Weise und unter keinen Umständen bereit gewesen ist, diese Sache öffentlich auszudiskutieren. Dieses wollte er nicht.

Man fragt sich nun, warum die Rechtfertigungslehre für Martin Walser wichtig ist. Kann das etwa damit zu tun haben, dass er der Meinung ist, dass es irgendwann mit Fragen der Schuld und der Verantwortung genug ist? Wenn man so anfängt zu fragen, kommt man schnell in die jüngere deutsche Zeitgeschichte, in die späten 1940er Jahre. Im Rückblick auf diese Zeit sieht man, dass nicht wenige, gewiss eher konservative, aber dennoch bekennende, Mitglieder der Bekennenden Kirche bei der Auseinandersetzung darüber, ob die US-Amerikaner einige Nazi-Kriegsverbrecher im Land aufnehmen sollten, plötzlich ähnliche Argumente entdeckt haben. Man wird darüber hinaus hellhörig, wenn im „Darmstädter Wort“ der Holocaust als ein Ergebnis des Zornes Gottes über die Juden angesehen wird (8) und wenn annähernd zeitgleich aus demselben Kreis heraus Leute die Meinung vertreten, dass man dem entgegen mit Kriegsverbrechern nicht so scharf umgehen sollte. Das weist zumindest darauf hin, dass in die Rechtfertigungslehre sachfremde Argumente einfließen, wenn sie zur (eigenen) Entlastung in Dienst genommen wird. Das zeigt auch das Beispiel des ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Filbinger, der sich ähnlich geäußert hat: Zwar müsse er schon Verantwortung für seine Tätigkeit als Marinerichter in den letzten Tagen nach der Kapitulation übernehmen, aber in dem Sinne, wie eben nun einmal alle Menschen Sünder sind. Das aber ist zu billig, und ich vermute, dass Luther es so auch nicht gemeint hat. So einfach kann es nicht sein.

Dennoch, und das wäre die erste These, die ich vertreten würde, hat die Rechtfertigungslehre mindestens im Bereich der deutschprotestantisch-preußischen Kultur in diesem Sinne eine absolut fatale geistesgeschichtliche Rolle gespielt. In den avanciertesten Formen moderner liberaler protestantischer Theologie hat sie dazu geführt, den Versöhnungs- und Verantwortungsgedanken — gegen eine moderne Theologie christlicher Freiheit — völlig aufzugeben. Diese Tendenz könnte man bei Emmanuel Hirsch aufzeigen, der mit viel Scharfsinn und nicht unüberzeugend gearbeitet hat.

Mein Eindruck ist: Eben diese problematische Tendenz ist für unser Erkenntnisinteresse an der Rechtfertigungslehre interessant. Man würde nicht sagen, dass es sich einfach um ein psychotherapeutisches Problem handelt, obwohl wir natürlich merken, dass in den Bereichen, in denen wir leben, mittlere Grade von Schuld vorkommen, die man mit seinen Mitmenschen nicht ohne weiteres bereinigen kann. Man ist dann, ich sag's jetzt mal ganz trivial, froh, wenn man sagen kann, man sei gehalten und getragen, und wenn man weiß, dass es so schlimm schon nicht sein wird. Aber das sind ja die harmlosen Fälle. Anders verhält es sich mit den Sachverhalten, die moralisch und politisch im Hintergrund der Erneuerung des jüdisch-christlichen Verhältnisses stehen. Die politisch-moralische Verantwortung sehr, sehr vieler Deutscher für das, was wir als Massenvernichtung bezeichnen, ist ja nicht zu leugnen. Meine moralische Intuition sagt mir, und dies wäre meine zweite These, dass die Auseinandersetzung mit Katastrophen wie Genoziden durch die Rechtfertigungslehre kaum zu leisten ist. Das zeigt sich heute wieder an Menschen, die in irgendeiner Weise an genozidalen Handlungen beteiligt sind. Man stelle sich etwa im Extrem vor, dass jemand wie Pol Pot irgendwann vor den englischen Gerichten steht und dann sagt: „Ich kenne mich und glaube an Gott, aber was passiert ist, ist passiert, und ich überlasse mich der göttlichen Gnade.“ Das ist nicht genug.

Im Judentum ist die Vorstellung anders. An die göttliche Gnade, die zweifelsohne ihre Bedeutung hat, wird nicht nur am Jom Kippur, am Versöhnungstag, sondern auch im täglichen Leben erinnert. Aber selbst am Jom Kippur wird immer wieder der Wille und die Bereitschaft zur teschuwa, das heißt zur Umkehr, unterstrichen. Dies wäre meine dritte These: dass im Judentum die Gnade der Umkehr bedarf. Hier wird's jetzt theologisch und philosophisch. Martin Buber hat das so ausgedrückt: „Wer umkehrt, dem kommen die himmlischen Mächte entgegen.“ Jetzt könnte man theologisch darüber diskutieren, ob die vom Judentum geforderte Umkehr bereits das ist, was in der paulinischen, vielleicht auch, was in der lutherischen Tradition als fester Glaube an die Gnade Gottes angesehen wird. Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Im Judentum ist die Umkehr doch immer auch eine Umkehr im tätigen Handeln und nicht nur im Glauben. Das führt nun freilich wieder zu der Schwierigkeit, die ich mit dem Stichwort „psychotherapeutisches Problem“ angesprochen habe, dass sich dann der Einzelne fragen kann: „0 Gott, ich armer kleiner Mensch, kann ich das überhaupt alleine tragen?“

Das ist ein Problem, dem sich das Judentum durchaus gewidmet hat. Das Problem der menschlichen Überforderung durch moralische Verpflichtungen ist durchaus gesehen worden, und das am allerdeutlichsten in dem Kol-Nidre-Gebet vor Erew-Jom-Kippur, dem Vorabend des Versöhnungstages. Es ist wichtig zu sagen, dass es vor Erew-Jom-Kippur, und nicht an Erew-Jom-Kippur gebetet wird, weil es ein Akt menschlicher, von Gott eingesetzter Gerichtsbarkeit ist. Es gibt, und auch das ist interessant, dazu einen wesentlichen Vorspruch, in dem die oberen Instanzen angerufen werden. Er stammt von Meir von Rothenburg aus dem hohen Mittelalter (9) und lautet: „Vor dem oberen und dem unteren Gerichtshof, im Namen Gottes und im Namen der Gemeinde, ist es uns erlaubt, in der Gemeinschaft der Schuldig-Gewordenen zu beten.“ (10) Hier geht es also nicht um das Verhältnis des Einzelnen zu seinem Gott! Ohne das Recht, dass die schuldig Gewordenen beten dürfen, machte Jom Kippur keinen Sinn. Und sie tun es in Gemeinschaft. Im Judentum kann man klagen, dass wir de facto, konkret, im Laufe eines Jahres schuldig werden — und nicht einfach, weil wir es als Menschen quasi ohne eigenes Zutun immer schon sind.

Kol Nidre ist ein Gebet, das vielfach zu antisemitischen Anschuldigungen Anlass gegeben hat, derart: „Da sieht man sie, die Juden, diese Schelme, an ihrem höchsten Feiertag. Sie beten darum, dass ihre Versprechen nicht gelten sollen. Eine Religion von Betrügern ist das, da sieht man's mal wieder!“ Von dem Text gibt es zwei Varianten, von denen ich Ihnen eine vorstelle. Sie ist im neunten Jahrhundert entstanden, soweit wir historisch wissen. „Mögen wir“, heißt es hier, „von allen Gelübden und Verpflichtungen freigesprochen werden, die wir Gott gegenüber vergeblich machen werden von diesem Versöhnungstag an bis zum nächsten Versöhnungstag, der zu unserem Wohl kommen möge; von den Aufgaben und Versprechungen, die wir nicht erfüllen können, von der Einsatzbereitschaft, die wir besser nicht aufgebracht, und von den Unternehmungen, die wir besser nicht angefangen hätten. Wir bitten darum, dass wir Vergebung erhalten und freigesprochen werden von unserem eigenen Versagen.“ Dann folgt der entscheidende Satz, in dem auch das Problem liegt: „Alle Versprechen, die wir unseren Mitmenschen gemacht haben, bleiben erhalten.“ (11) Mit Blick auf den Talmudtraktat Joma 9b lässt sich sagen: Der Versöhnungstag befreit von allen Sünden, die man Gott gegenüber getan hat, aber nicht von denen, die man seinen Mitmenschen gegenüber getan hat.

„Möge Gott uns aber von den leeren Versprechungen freisprechen, die wir in unserer Dummheit Gott gegenüber machen. Möge Gott uns vor ihren Konsequenzen bewahren.
Lege uns nicht auf solche Gelübde fest!
Lege uns nicht auf solche Verpflichtungen fest!
Lege uns nicht auf solche leeren Eide fest!“ (12)

Die wörtliche Übersetzung aus dem Aramäischen lautet: „Alle Gelübde, Verzichtserklärungen, Bannsprüche, Entsagungen, Umschreibungen von Gelübden, Selbstbestrafungen und Schwüre, die wir von diesem Versöhnungstag an bis zum kommenden Versöhnungstag, der zu unserem Wohl kommen möge, geloben und schwören werden, die wir uns selbst auferlegen und an die wir uns selbst binden werden, sie alle will ich bereuen. [...]“ (13) Es steht ja nicht nur in der Tora, sondern auch im Talmud, dass man nicht schwören soll. In diesem Gebet kommt also zum Ausdruck, dass auch das Judentum in die sittliche Vollmacht des Menschen durchaus Zweifel setzt. „Sie alle [diese Gelübde] seien aufgelöst, erlassen und aufgehoben, für ungültig und vernichtet erklärt, ohne Rechtskraft und Bestand. Unsere Gelübde seien keine Gelübde, unsere Verbote seien keine Verbote, unsere Schwüre seien keine Schwüre.“ (14) An Radikalität ist das, so denke ich, mit dem, wofür dann Luther gestanden hat und womit er sich auseinander gesetzt hat, durchaus zu vergleichen, wenn es nicht gar 600 Jahre früher fast noch schärfer ausgedrückt worden ist.

Das alles gilt aber, um es noch einmal zu betonen, nur für das dem Protestantismus Wichtigste: das Verhältnis des Menschen zu Gott. Dieses dem Protestantismus Wichtigste ist aber im rabbinischen Judentum offensichtlich das Zweitwichtigste. Es geht nicht in erster Linie um die Frage der Rechtfertigung des Menschen vor Gott, sondern, wenn ich das Kol-Nidre-Gebet und seine Konsequenz richtig verstehe, um die Rechtfertigung des Menschen vor den Menschen, vor seinen Mitmenschen. Wenn es sich so verhält, stellt sich allerdings wiederum die Frage, ob der Einzelne diese Last allein tragen kann.

Ich will jedoch mit einer anderen Frage schließen, mit der sich dann die Kabbala, die jüdische Mystik, auseinandersetzt. In Bezug auf den Talmudtraktat Baba batra 74 a ließe sich fragen, ob nicht auch Gott eines Kol Nidre bedürfe. In Baba batra wird Raba Bar Chanan zitiert, der eine bat kol, eine himmlische Stimme gehört habe, die klagte: „0 weh ist mir, dass ich geschworen habe, mein Volk ins Exil zu schicken. Aber jetzt, da ich es geschworen habe, wer kann diesen Schwur für mich aufheben?“

Im Judentum ist die Beziehung zwischen Gott und den Menschen also ungleich symmetrischer vorgestellt als bei Luther, modern gesprochen, mehr im Sinne einer Bundestheologie, als das in einer romantischen Religion der Fall ist, die die völlige Abhängigkeit des Menschen von Gott postuliert. Emmanuel Uvinas war deshalb immer der Meinung, dass das Judentum eine Religion für erwachsene Menschen ist.

Der mündliche Vortrag während der Tagung wurde auf Band aufgezeichnet. Er ist - unter Beibehaltung des Charakters frei entwickelter Rede - von den Herausgebern sprachlich leicht überarbeitet worden.

1              Martin Luther, Vom unfreien Willen (1525), in: Der neue Glaube [Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hg. v. Kurt Aland, Bd. 3], Stuttgart/Göttingen 1961, 151-334 [= Weimarer Ausgabe (WA) Bd. 18, 600-787].
2              Röm 7,12.
3              Vgl. etwa Röm 6,23.
4              Die Heidelberger Disputation [1518], in: WA 1, 353-372. [These 16 lautet: „Der Mensch, der glaubt, er wolle zur Gnade dadurch gelangen, daß er tue, soviel an ihm ist, fügt Sünde an Sünde, so dass er doppelt schuldig wird.“ In der Erklärung wird dann mit Bezug auf Jer 2,13 darauf hingewiesen, dass die Sünde von Gott entferne und es in dieser Stellung eine Anmaßung bedeute, „aus sich heraus Gutes tun zu können“ (WA 1, 360). Die daran anschließende Frage: „Was sollen wir denn tun? Sollen wir müßig gehen, weil wir nur Sünde tun können?“ wird allerdings ausdrücklich verneint. These 18 führt die Antwort aus: „Es ist gewiss, dass ein Mensch von Grund aus an sich verzweifeln muss, um für den Empfang der Gnade Christi geschickt zu werden.“ Die Erklärung bietet dann die Negativprobe: „Wer nun tut, was in ihm ist, und glaubt, er schaffe damit etwas Gutes, kommt sich nicht durchaus als ein Nichts vor und verzweifelt nicht an seinen Kräften, ist vielmehr noch darin anmaßend, dass er, um Gnade zu erlangen, sich auf seine Kräfte verlässt“ (WA 1, 361). Das Thema vom unfreien Willen wird hier aufgenommen. Die Erklärung der These 21 pointiert dann nochmals die anthropologische Voraussetzung: „Es ist nämlich unmöglich, dass man sich auf Grund seiner guten Werke nicht aufbläht, wenn man nicht vorher durch Leiden und Ubel ganz leer geworden und stille gelegt ist, bis man weiß, dass man selbst nichts ist und die Werke uns nicht zu eigen gehören, sondern Gottes sind“ (WA 1, 362). Anm. d. Hg.]
5              Leo Baeck, Romantische Religion, Berlin [Philo] 1922 [aus: Festschrift
zum 50-jährigen Bestehen der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin].
6              Martin Walser, Wovon zeugt die Schande, wenn nicht von Verbrechen, in: F.A.Z. vom 28. 11. 1998, zit. nach: Micha Brumlik, Messianischer Blick oder Wille zum Glück. Die Kryptotheologie der Walser-BubisDebatte, in: ders./Hajo Funke/Lars Rensmann (Hg.), Umkämpftes Vergessen. Walser-Debatte, Holocaust-Mahnmal und neuere deutsche Geschichtspolitik, Berlin [Das arabische Buch] 2000, 127-134, hier 127.
7              Eberhard Junge!, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998, 195, Anm. 186.
8              Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Wort zur Judenfrage vom 8. April 1948, in: Rolf Rendtorff/Hans Hermann Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945-1985, Paderborn/München 21989, 540-544. Im theologischen Hauptteil der Erklärung wird die traditionelle Theologie der Verwerfung Israels wiederholt und aktualisiert: Israel, das „den Messias kreuzigte“, stehe „unter dem Gericht“ und stelle - gerade unter der Bedingung, dass „Gottes Treue [...] Israel auch in seiner Untreue und in seiner Verwerfung nicht los[lasse]“ - „die stete Warnung Gottes an seine Gemeinde“ dar. „Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals, uns zur Warnung, den Juden zur Mahnung, ob sie sich nicht bekehren möchten zu dem, bei dem allein auch ihr Heil steht“ (ebd., 542).
9              Meir Ben Baruch von Rothenburg (1215-1293).
10            Seder HaTefillot. Das jüdische Gebetbuch. Hg. v. Jonathan Magoneth in Zusammenarbeit mit Walter Homolka. Aus dem Hebräischen übersetzt von Annette Böckler, II: Die Hohen Feiertage, Gütersloh 1997,289.
11            Ebd.
12            Ebd.
13            Ebd., 720.
14            Ebd., 720f.

aus: Die Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen im kulturellen Kontext der Gegenwart. Beiträge im Horizont des christlich-jüdischen Gesprächs; hg. von Hans Martin Dober und Dagmar Mensink, Akad. der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 2002

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