Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 1 / Februar 2016

 

Helmut Pillau
Wiederannäherung an eine verlorene Heimat
Israelis in Berlin

1.
Immer wieder steigt in mir Trauer auf, wenn ich an unser ungeheures Versagen gegenüber den Juden denke. Zu schwach dazu, um das inspirierende Anderssein der Juden zu ertragen, ließen wir ihre Vertreibung und sogar Ausrottung zu. So wurden wir, unsere Vorfahren nicht nur schuldig, sondern machten uns auch ärmer.

Solche Gedanken können sich insbesondere am 9. November einstellen. Vor genau 77 Jahren wurden die Juden durch die Nazis auf brutale Weise aus der deutschen Gesellschaft verstoßen. Wie wir heute wissen, war dies das Vorspiel zur sogenannten Endlösung, also der systematischen Vernichtung der europäischen Juden. Vor diesem Hintergrund können wir nur über den wachsenden Zustrom vieler Israelis nach Berlin staunen, der seit Beginn dieses Jahrhunderts zu beobachten ist. Im Folgenden möchte ich versuchen, diesem Phänomen auf die Spur zu kommen.

Befremdlich mutet dieser Zustrom deswegen an, weil es sich ja bei Berlin um die ehemalige Hauptstadt des Dritten Reiches und die Planungszentrale für die Vernichtung der Juden handelt. Juden zucken zusammen, wenn sie das Wort „Wannsee“ hören. Sie müssen dabei unwillkürlich an die „Wannsee-Konferenz“ von 1942 denken, in der die industrielle Vernichtung der Juden beschlossen wurde.

Andererseits erweist sich aber diese Vier-Millionen-Stadt von damals bei näherer Betrachtung als zu sperrig, um darauf reduziert zu werden. München und nicht Berlin galt ja als „Hauptstadt der Bewegung“. Nicht nur den preußischen Königen, sondern auch den Nazis fiel es schwer, sich diese Stadt und ihre widerspenstigen Bürger ganz gefügig zu machen. Im Blick auf die Berliner Juden zeigt sich dies etwa darin, dass hier selbst 1943, also auf dem Höhepunkt der Deportationen, noch oppositionelle Aktionen möglich waren. Ich denke hier daran, wie nichtjüdische Frauen jüdischer Männer in der Rosenstraße gegen die Internierung ihrer Männer demonstrierten - sogar mit Erfolg! Dieser Fall wurde ja vor allem 2009 durch einen Film von Margarethe von Trotta publik. Bekannt ist außerdem, dass es im Berlin unter den Nationalsozialisten überdurchschnittlich viele „Mischehen“, im Untergrund lebende Juden sowie verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden gab.

Victor Klemperer meinte Ende 1940, in der weitläufigen „Reichshauptstadt“ besser existieren zu können als in der Enge von Dresden. Dieser zwangsemeritierte Professor für Romanistik, berühmt geworden durch seine Tagebücher, war ja wegen seiner Ehe mit einer nichtjüdischen Deutschen relativ abgeschirmt. Erstaunen kann schließlich der Gemeinderabbiner Riesenburger. Dieser wagte es, bis zum Kriegsende tief im Innern des riesigen Friedhofs von Berlin-Weißensee rituelle Feiern abzuhalten.

Durch diese Beispiele deutet sich eine Ausnahmestellung der anscheinend nicht völlig domestizierbaren Metropole innerhalb Deutschlands während des Dritten Reiches an. Später sollen Israelis oft die Sonderrolle Berlins innerhalb Deutschlands betonen – allerdings meist ohne historische Begründungen – , um ihre überraschende Vorliebe für diese Stadt zu rechtfertigen: „But Berlin is not Germany…It’s different.“ heißt es etwa in einer jüdischen Zeitschrift von 2015.

2.
Die Historikerin Fania Oz-Salzberger, die Tochter des berühmten israelischen Schriftstellers Amos Oz, ist die erste gewesen, die diese besondere Anziehungskraft Berlins auf Israelis umfassend zu ergründen suchte. Dies geschieht in ihrem Buch „Israelis in Berlin“ von 2001, also noch bevor der große Zustrom der Israelis nach Berlin einsetzt. Wenn ich im Folgenden diesen Trend darzustellen suche, so können mir die Überlegungen von Oz-Salzberger als Leitfaden dienen. Dabei soll aber auch deutlich werden, inwiefern sich die Motive der später nach Berlin kommenden Israelis womöglich von den Befunden Oz-Salzbergers unterscheiden.

Noch dreizehn Jahre nach der Veröffentlichung des genannten Buches, auf der Leipziger Buchmesse von 2014, äußert sich die Autorin euphorisch über Berlin: Sie hält diese Stadt für die „judenfreundlichste“, ja sogar „jüdischste Stadt Europas“. Von dieser Euphorie wird auch ihr Buch beflügelt. Sie vermischt sich mit der Genugtuung darüber, nun endlich, nach einer Zeit bitterer Abgrenzungen, einen freieren Blick für Berlin gewonnen zu haben. Statt in dieser Stadt wie bislang in Israel üblich, vor allem die Zentrale des Nazi-Terrors zu sehen, könnten nun auch entspannter andere Facetten Berlins wahrgenommen werden. Durch die Konsolidierung einer israelischen Identität sei man souverän genug geworden, um sich die bislang eher verborgenen jüdischen Anteile dieser Stadt zu erschließen. Wenn Oz-Salzberger demnach bei ihren Streifzügen durch Berlin nach Spuren dieses jüdischen Erbes forscht, so geht es ihr dabei nicht um das Heraufbeschwören einer deutsch-jüdischen Symbiose. Vielmehr möchte sie sich dasjenige vom jüdischen Erbe dieser Stadt aktiv aneignen, was einer historischen Vertiefung des israelisch-jüdischen Selbstverständnisses dienen kann.

Um etwa bei den aktuellen Debatten in Israel über die angemessene jüdische Existenzform weiter zu kommen, müsse man sich nur an die entsprechenden Debatten in Berlin vor 1933 erinnern. Bereits damals habe man schon heftig darüber diskutiert, ob sich die Juden assimilieren, in einem eigenen Staat organisieren oder als kritische Weltbürger profilieren sollten. Dass in Israel Hebräisch gesprochen werde, habe auch viel mit den Debatten über die Rolle dieser Sprache für die Juden im damaligen Berlin zu tun. Gerade hierher seien Dichter gekommen, um mit dem Hebräischen in avantgardistischen Dichtungen zu experimentieren. Wie Israel geworden sei und welche – nichtzionistischen oder postzionistischen – Alternativen es dazu gegeben habe, könne man sich durch diese Debatten bewusst machen.

Oz-Salzberger registriert, dass kein Israeli, der nach Berlin kommt, unverwandelt bleibt. Angesichts der gerade hier hervortretenden unterschiedlichen Möglichkeiten einer jüdischen Existenz könne er Abstand zum jüdischen Nationalismus in Israel oder auch ein neues, religiös vertieftes Verständnis seiner selbst gewinnen. Dass Berlin auf diese, gleichsam kathartische Weise für die Israelis wirke, sei aber im größeren Umfang erst seit 1968 möglich geworden. Erst dann, nach dem spektakulären Bruch der jungen Generation mit der historisch belasteten Generation der Väter, hätten Israelis Vertrauen zu Berlin fassen können. Nun seien zunehmend junge Leute, Studenten und Künstler, vorerst aber weniger Geschäftsleute, nach West-Berlin gekommen.

Oz-Salzberger stößt aber in Berlin auch darauf, wie wenig hier der Zionismus, also die ideologische Basis des jüdischen Staates, Anklang fand. Fatalerweise waren sehr viele der etwa 160 000 Berliner Juden vor 1933 davon überzeugt, gut im Einklang mit der nichtjüdischen deutschen Gesellschaft leben zu können. Verwundert begegnet sie, die stolze Israelin, hier Juden, die selbst nach dem Ende dieser schönen Illusion, also dem Holocaust, sich noch mit Deutschland und seiner Kultur identifizieren können.

Als ich auf die Anmerkungen von Yaël Kupferberg stieß, trat mir dieses gewisse Überdauern einer deutsch-jüdischen Symbiose besonders plastisch vor Augen. Ihre Äußerungen sind mir allerdings nicht durch das Buch von Oz-Salzberger, sondern eine Sendung von Deutschland Radio Kultur aus dem Jahre 2008 bekannt geworden. Yaël Kupferberg lehrt jüdische Religionsgeschichte an der Universität Potsdam. Sie ist Enkelin des israelischen Historikers Walter Grab, eines aus Wien stammenden Juden. Er hat das Institut für deutsche Geschichte in Tel Aviv aufgebaut und geleitet. In den siebziger Jahren ist er viel in der Bundesrepublik und gerade auch Berlin unterwegs gewesen, um über die verschütteten linksdemokratischen Traditionen in Deutschland zu sprechen. Die von „1968“ Beflügelten hörten ihm dabei gern zu. Ich habe ihn damals in Berlin einige Male getroffen. Seine Enkelin schildert anschaulich, wie es im Hause ihrer Großeltern in Tel Aviv zuging:

„Die große Identifikation mit Deutschland war ungebrochen. Opi Walter sagte immer, die deutsche Kultur lasse ich mir von Hitler bestimmt nicht nehmen. Sie haben auch mit meinem Vater nur Deutsch gesprochen, alles Israelische fand vor der Tür statt, aber nicht im Haushalt. Kein einziges hebräisches Buch steht bei ihnen in der Bibliothek. Meine Omi hat bis heute nicht Hebräisch gelernt, das heißt nur Versatzstücke zum Einkaufen.“ Auch Yaël Kupferberg selbst bezeichnet Deutschland als das Land ihrer Sprache und Kultur.

Durch Walter Grab und seine Enkelin scheint mir auf eine geradezu idealtypische Weise die Gruppe der „Jeckes“, also der deutschsprachigen, in Israel lebenden Juden vor Augen zu treten, die im Banne der deutschen Kultur verblieben. Bei vielen unter den Israelis, die nach Berlin kommen, handelt es sich um Nachkommen dieser „Jeckes“, natürlich insbesondere der Berliner Juden. Die deutsche Regierung hat diesen Kindern und Enkeln der „Jeckes“ ein besonderes Privileg eingeräumt. Ihnen wird neben ihrem israelischen auch ein deutscher Pass zugestanden. Ca. 200 000 Israelis besitzen mittlerweile einen deutschen Pass. Wahrscheinlich gehören eben viele von den Israelis, die sich inzwischen in Berlin befinden, zu diesen Privilegierten.

Oz-Salzberger kommt zwar in ihrem Buch durchaus wohlwollend auf die „Jeckes“ zu sprechen, grenzt sich aber auch deutlich von ihnen ab. Trotzdem weiß sie genau, wie groß der Einfluss der deutschen Kultur auf Israel gewesen ist. Sie schwärmt etwa in ihrem Buch von jenen Gegenden in Tel Aviv, die durch die Architektur des deutschen „Bauhauses“ geprägt wurden. Auch berichtet sie in einem, gemeinsam mit ihrem Mann Eli Salzberger verfassten Artikel davon, dass „nahezu fünfzig Prozent der ersten Richtergeneration des [Obersten] Gerichtshofs [in Israel] an deutschen Einrichtungen ausgebildet worden waren.“

Ihrer Meinung nach kann man als Jude aber nur dadurch einen sicheren Stand gewinnen, dass man sich eindeutig zu Israel und auch dem Hebräischen bekennt. Wenn sie demnach in Berlin nach Spuren eines fruchtbaren Zusammenwirkens von Deutschen und Juden forscht, so geht es ihr dabei eben nicht um die Konservierung oder Weiterentwicklung einer deutsch-jüdischen Symbiose. Sie öffnet sich vielmehr der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte nur, um das israelische Selbstverständnis historisch zu vertiefen. Da dieses Selbstverständnis das Bewusstsein des Holocaust mit einschließe, komme eine unwillkürliche Gemeinsamkeit zwischen Deutschen und Juden heutzutage nicht mehr in Frage. So schreibt sie gegen Ende ihres Buches: „Der lebendige Gedankenaustausch, das Gefühl altüberkommener, räumlicher Nähe – all das wird nicht mehr erstehen. Es gibt keinen jüdisch-deutschen Tisch mehr.“

In Berlin erfährt Oz-Salzberger also nicht nur, wie nahe ihr die deutsche Kultur kommt und wie viel Jüdisches im Deutschen steckt, sondern auch, was sie als Jüdin vom Deutschen trennt. Sie wird ganz euphorisch, wenn sie auf jiddische Wörter hebräischen Ursprungs im Berliner Jargon stößt: „Maloche“, „Mischpoke“, „Tacheles“, „daffke“, Chuzpke“. Andererseits zuckt sie ängstlich beim Hören bestimmter deutscher Wörter wie „jawohl“ zusammen, durch die sie sich an die Kommandosprache der Nazi-Schergen erinnert fühlt.

Oz-Salzberger hat in ihrem Buch unbewusst eine Entwicklung prognostiziert, die in den darauf folgenden Jahren immer mehr an Schwung gewinnen soll. Die vielen, insbesondere jungen Israelis, die nun nach Berlin kommen, mögen zwar in mancher Hinsicht mit ihr übereinstimmen, setzen aber auch ihre eigenen Akzente. Wenn sie sich Berlin zuwenden, so geht es ihnen dabei nicht nur um eine Erweiterung ihres israelischen Horizontes, sondern auch um Alternativen zum gegenwärtigen Leben in Israel. So verlegen manche Israelis aktuell ihren Lebensmittelpunkt deswegen von Israel nach Berlin, weil sie die politische Situation in ihrem Heimatland deprimierend finden. Angesichts des jüngsten Gaza-Krieges, der innenpolitischen Dominanz Netanjahus und einer zunehmenden Intoleranz gegenüber abweichenden „linken“ politischen Meinungen haben sie die Hoffnung auf grundlegende Veränderungen in Israel aufgegeben. So richten sie sich, vielfach mit einem schlechten Gewissen, in Berlin ein.

Auch Oz-Salzberger fiel schon angesichts des um 2000 in Deutschland und Europa vorherrschenden transnationalen Enthusiasmus auf, wie anachronistisch eigentlich der in Israel dominierende jüdische Nationalismus sei. Dass dahinter ein verzweifelter Wille zur Selbstbehauptung steckt, wird ja gerade im Blick auf Israel deutlich. In die Enge getrieben, meint man sich nur noch auf sich selbst verlassen zu können.

Eingeprägt hat sich bei mir die pointierte Äußerung eines in Berlin lebenden Israelis, die in einer Sendung von Deutschlandradio Kultur zu hören war: „Ich bin ein Berliner – in Deutschland fühle ich mich jüdisch, in Israel deutsch.“ Derjenige, der immer so sein will, wie er gerade nicht sein soll, will doch zumindest Berliner sein. Das Berlinertum erlöst ihn von den Zumutungen einer nationalen Identität. Es fungiert insofern wie eine ironische Umschreibung von Individualismus. Findet er etwa Geschmack an einem geheimen Anarchismus der Berliner?

Auch Oz-Salzberger hatte ja schon bemerkt, wie ungern sich die Berliner derzeit auf vermeintlich Essenzielles festlegen lassen: „Das Globale und Postmoderne ist hier angenehmer als das Traditionelle und Authentische.“

Leicht einzusehen ist, dass eine solche Mentalität gerade von einer zionistischen Position her als kritikwürdig erscheinen muss. James Kirchick meint etwa in einem Artikel vom 30. 1. 2015, dass es sich hierbei um einen Ausdruck von Unreife handele. Viele Berliner und viele eingewanderte Israelis harmonierten deswegen so gut, weil sie sich „in a state of permanent adolescence“ befänden. Darüber könnte man nun trefflich philosophieren: Handelt es sich bei der diagnostizierten Mentalität eher um ein infantiles Ausweichen vor jeglicher Verbindlichkeit oder eher um eine gescheite Missachtung hohl gewordener Verbindlichkeiten?

Unverkennbar jedenfalls ist, dass viele der in Berlin lebenden Israelis gerade den hier üblichen lässigen Umgang mit den offiziellen Ansprüchen einer nationalen, ethnischen oder sexuellen Identität zu schätzen wissen. Als angenehm empfinden es etwa manche von ihnen, hier primär gar nicht als Juden wahrgenommen zu werden. Nicht für ihr Jüdisch-Sein, sondern für ihre hervorstechenden beruflichen, charakterlichen oder allgemein menschlichen Qualitäten würden sich die Berliner interessieren. Zumindest im Alltagsleben scheinen sich hier auch die Beziehungen zwischen Juden und Arabern zu entspannen. In Neukölln lebende Juden berichten davon, wie gut sie mit ihren moslemischen Nachbarn auskämen. Andererseits wird auch nicht ignoriert, dass antisemitische Attacken oftmals gerade von arabischer Seite ausgehen. Was den Antisemitismus und generell die Fremdenfeindlichkeit betrifft, wissen die Juden sehr wohl zwischen den östlichen und westlichen Bezirken von Berlin zu unterscheiden. Die in Berlin lebenden Juden dramatisieren aber solche Erfahrungen deswegen nicht, weil sie dabei auch den globalen Antisemitismus im Auge haben. Vor diesem Hintergrund, vor allem etwa im Hinblick auf die aktuellen Verhältnisse in Frankreich, sei doch die Situation für Juden in Berlin recht komfortabel.

Wie leicht sich viele Berliner über konventionelle Sittengebote hinwegsetzen, zeigt ihre traditionelle Toleranz gegenüber den Schwulen. Schon Oz-Salzberger kommt in ihrem Buch darauf zu sprechen. Sie berichtet von homosexuellen Israelis, die sich in Berlin wohler fühlen als in Israel. Hier hätten sie nicht wie in Israel unter dem wachsenden Einfluss der Ultra-Orthodoxen zu leiden. So verwundert es nicht, dass der Anteil der Schwulen unter den nach Berlin eingewanderten Israelis überdurchschnittlich hoch ist. Organisiert haben sie sich in „Yachad – Vereinigung lesbischer, schwuler und bisexueller Jüdinnen und Juden.“ Dieser Verein wurde in Köln gegründet – „Yachad“ heißt „gemeinsam“.

Dass Oz-Salzberger und andere Israelis Berlin gerade nicht wie Touristen wahrnehmen, zeigt sich an ihrer Wertschätzung für das „Kaputte“ dieser Stadt. In dieser Hinsicht gilt ihnen Berlin als Alternative zu vielen westdeutschen Städten, die das Abgründige an der jüngsten deutschen Geschichte schnell während der Zeit des „Wirtschaftswunders“ hinter perfekten oder kitschigen Fassaden zu verbergen suchten. In Berlin werde man dagegen auf Schritt und Tritt an dieses Abgründige erinnert. Oz-Salzberger streicht in dieser Hinsicht Berlin gegenüber München heraus. Das offensichtlich Unabgerundete Berlins versteht sie auch als Herausforderung für die Israelis, bei der Gestaltung dieser Stadt mitzuwirken. Das habe in Berlin bereits seinen Niederschlag gefunden. Hier gäbe es etwas, was zu Israel gehöre. In diesem Sinne heißt es auch in einem Artikel aus der „Jüdischen Allgemeinen“ vom 30. 10. 2014: „In Berlin wirkt es noch wie in New York, als könne man noch ein Kapitel der Geschichte mitschreiben.“

Sofern die Juden in Berlin bloß unter sich blieben, wären sie in der deutschen Gesellschaft noch nicht recht angekommen. Sie beginnen aber eine Ausstrahlungskraft über ihren eigenen Bereich hinaus zu entwickeln. Alexander Jungmann, der das „Jüdische Leben in Berlin“ in einer sehr umfangreichen, empirischen soziologischen Studie von 2007 untersucht hat, gebraucht den Begriff „jüdische Räume“ (ursprünglich „jewish spaces“) , um diese Durchdringung von Zonen der deutschen Gesellschaft mit Jüdischem zu erfassen. In einem „judaisierenden Milieu“ entwickelten Deutsche, meist Bildungsbürger, ein Interesse am Judentum. In diesen Zusammenhang gehört auch der Begriff der „positiven Symbiose“ . Während sich die Juden bei einer „negativen Symbiose“ ängstlich an die Mehrheitsgesellschaft bin hin zur Selbstverleugnung anpassten, nähmen umgekehrt im Falle der „positiven Symbiose“ die nichtjüdischen Deutschen aktiv Anteil an der jüdischen Kultur. Das könne bis zur Konversion gehen.

Die einheimische jüdische Gemeinde in Berlin mit etwa 12 000 Mitgliedern profitiert deswegen nicht allzu sehr vom Zustrom der jungen Israelis, weil viele von ihnen säkular sind. Es passiert aber auch, dass sich die Eingewanderten gerade hier auf ihren jüdischen Glauben besinnen. Insbesondere junge Familien nehmen dann gern Kontakt auf mit der moderat liberalen „Synagoge am Fraenkelufer“, einer der acht Synagogen in Berlin. (Bei der jüdischen Gemeinde in Berlin soll es sich übrigens um die weltweit am stärksten wachsende Gemeinde handeln.)

Das jüdische Leben in Berlin mit all seinen verschiedenen Organisationen und kulturellen Projekten gedeiht augenscheinlich. Gerade die jungen zugewanderten Israelis sind in dieser Hinsicht optimistisch. Sie scheinen noch von einem „herkunftstypischen Pioniergeist“ erfüllt zu sein; viel weniger spielt dabei eine nostalgische Rückbesinnung auf die große Zeit des Judentums in Berlin eine Rolle.

Exemplarisch dafür ist vielleicht die Planung der „Makkabi“, der „europäischen jüdischen Sportwettkämpfe“, die in Berlin vom 28. Juli bis zum 5. August 2015 stattfanden. Gerade die jüngere Generation – israelische und nichtisraelische Juden – konnte sich dabei mit ihrer Absicht gegenüber den skeptischeren Älteren durchsetzen, diese Spiele ausgerechnet in Berlin zu veranstalten. Die Stätte für diese Spiele ist von einer besonderen Symbolik: Es handelt sich dabei um das ehemalige „Reichssportfeld“, das im Dritten Reich für die Olympischen Spiele von 1936 angelegt worden war. Wenn sich nun die deutsche Mannschaft erstmalig mit einer deutschen Fahne präsentiert, so zeugt auch dies von einem gewachsenen Selbstbewusstsein der Juden in Deutschland, insbesondere der Berliner Juden.

3.
Dass sich die israelischen Juden etwa seit 2000 insbesondere über das in ihren Augen „quasi exterritoriale“ Berlin wieder den Deutschen annähern, kann schwerlich als eine Renaissance der „deutsch-jüdischen Symbiose“ gefeiert werden. Dazu ist der Traditionsbruch, der durch den Holocaust erfolgte, zu tief greifend gewesen. Es scheint mir so, als ob es die möglicherweise ca. 40 000 Juden in Berlin mit uns, mit neuen, unbelasteten Generationen, auf eine lockere, anspruchslosere Art noch einmal versuchen wollten. Diese Gemeinsamkeit steht unter allerhand Vorbehalten. Wenn auch die jungen Israelis nicht mehr wie ihre Eltern auf die Vergangenheit fixiert sind, so bleibt sie doch immer im Hintergrund. Dass Berlin diese Wiederannäherung zu befördern vermag, sollte uns freuen. Vermeiden sollten wir auch, dies durch die üblichen Ressentiments der „Provinz“ gegenüber der „Metropole“ wieder trüben zu lassen.

Yaël Kupferberg empfindet die „Reibung von deutsch und jüdisch“ auch heute noch als sehr produktiv. Dazu fällt mir ein: Die messianische Energie der Juden kann den Deutschen gut tun wie umgekehrt den Juden die gewisse geschichtliche Verwurzelung der Deutschen. Fraglich aber bleibt nach wie vor, inwieweit etwa unsere Kirche ein solches Spannungsverhältnis innerhalb ihrer alltäglichen theologischen Praxis produktiv zu machen versteht.

 

Dr. Helmut Pillau, Literaturwissenschaftler. Seit 2004 gehört er dem Vorstand der Evangelischen Kirchengemeinde von Heidesheim am Rhein an. Als Schwerpunkt seiner Tätigkeit versteht er dort das christlich-jüdische Verhältnis. www.helmutpillau.com
Vortrag zum 9. November 2015 - „Reichspogromnacht“ - veranstaltet von den beiden christlichen Kirchen und dem Forum „kultur und politik“ in Heidesheim am Rhein

 

Vgl.: Alexander Jungmann: „Jüdisches Leben in Berlin. Der aktuelle Wandel in einer metropolitanen Diasporagemeinschaft“. Bielefeld: transcript Verlag 2007, S. 262.
Jungmann (Nr. 1), S. 127-128 (Anmerkung Nr. 177)
Vgl.: Victor Klemperer: Tagebücher 1940-1941. Hg. von Walter Nowojewski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin: Aufbau-Verlag 2006 (4. A.), S. 59 (30. 12.1940) und S. 82 (10. 4. 1941)
Jungmann (Nr. 1), S. 127-128.
Gina Reimann: “Berlin, Europe’s Promised City”. In:  “Jewey”. Brought to you by Tablet Magazine.(http://jewey.com/jewish-news/berlin-europes-promised-city, S. 1.
Vgl. Auch das Interview mit Jasper Althaus: „Es mache für einen Israeli eine Riesenunterschied, ob man sage, dass man aus Deutschland oder aus Berlin komme.“ In: Inge Günther: „Ganz neue Beziehungen“. Frankfurter Rundschau, 5. 5. 2015, S. 21.
Auch Hannah Arendt unterschied Berlin deutlich von anderen Orten in Deutschland, als sie das Land nach dem Krieg besuchte: „Ihre Besuche in Berlin, einer Stadt, die sich für Arendt von anderen Orten in Deutschland sichtlich unterschied, scheint sie wie Oasen in der Wüste ihrer Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland empfunden zu haben. Hier verspürte sie bei verschiedenen Menschen, die sie traf, Dialogbereitschaft und den Willen zur Auseinandersetzung. Außerdem betonte sie die allein hier anzutreffende positive Bezugnahme auf die Besatzungsmächte, die überall sonst in den westlichen Verwaltungszonen als Unterdrücker und Feinde wahrgenommen wurden. Blücher gegenüber bemerkte sie deshalb in Bezug auf Berlin: ‚Dies [ist] zum ersten Mal wie nach Hause kommen.’“ Elisabeth Gallas: „Hannah Arendt: Rückkehr im Schreiben.“ In: >Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können.< Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945. Hg. von Monika Boll und Raphael Gross. Frankfurt a. Main: Fischer 2013, S. 253.
Fania Oz-Salzberger: „Israelis in Berlin“. Frankfurt a. M: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2001.
In einer Vortragsreihe, die 2012/2013 an der Universität III Sorbonne in Paris stattfand, sollte das besondere Verhältnis zwischen den Juden und Berlin in verschiedenen Aspekten ergründet werden. Die Leitfrage hierbei lautete: „Gibt es eine besondere Beziehung zwischen den Juden und der Stadt Berlin und wenn ja, wie lässt sich dieses Verhältnis begrifflich fassen?“ Laurence Guillon, Heidi Knörzer : „Berlin und die Juden. Geschichte einer Wahlverwandtschaft?“ Berlin: Neofelis-Verlag 2015, S. 7.
In: Sarkia Horst: „Sogar israelische Hunde lieben Berlin. Ein Gespräch über die wohl jüdischste Stadt Europas“. Fania Oz-Salzberger auf der Leipziger Buchmesse am 13. 3. 2015. (http://www.leipziglauscht.de/sogar-israelische-hunde-lieben-berlin/)
Oz-Salzberger (Nr. 6), S. 202.
Ebd., S. 30. Vgl. auch: „In jenen Jahren, schrieb Julius Guttmann,’war dort die Anzahl der hebräischen Schriftsteller so groß, daß Berlin beinahe zum Zentrum der hebräischen Literatur avancierte.’“ Ebd., S. 178.
Ebd. , S. 37.
„Das jüdische Berlin, die Stadt der Enkel von Moses Mendelssohn und der Eltern von Gershom Scholem, empfing den Zionismus nicht mit offenen Armen.“ Ebd., S. 115-116.
Otto Langels: „Unmögliche Heimat. Die Rückkehr jüdischer Emigranten nach Westdeutschland.“ In: Deutschland Radio Kultur 30. 1. 2008, ab 19. 30 Uhr.
Ebd., S. 6
Ebd.
Oz-Salzberger (Nr. 6), S. 154.
Fania Oz-Salzberger und Eli Salzberger: „Der oberste Gerichtshof in Israel und seine verborgenen deutschen Quellen“. In: Die „Jeckes“. Hg. von Gisela Dachs. Jüdischer Almanach des Leo Baeck-Instituts. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2005, S. 68. Vgl. auch: „Die in Deutschland ausgebildeten Richter und Rechtsgelehrten bildeten das Rückgrat des israelischen Rechtssystems in seinen ersten […] Jahrzehnten.“ Ebd., S. 77. (Eli Salzberger, der Mann von Fania Oz-Salzberger, ist Dekan der juristischen Fakultät von Haifa.)
Oz-Salzberger (Nr. 6), S. S. 208.
Ebd., S. 174.
Ebd., S. 172. Ihre tiefere jüdische Pägung kommt Oz-Salzberger, trotz ihres Atheismus, durch ihre unwillkürlichen Reaktionen auf Weihnachten (ebd., S. 81-82) und Nacktheit (ebd., S. 102) zu Bewusstsein.
„Die ganze Israel- Idee ist eigentlich furchtbar veraltet, also die Vorstellung, daß ein Volk einen Staat haben muß, einen Nationalstaat.[…]Ein wahnsinnig verspätetes Volk, die Israelis.“ Ebd., S. 28. Vgl. auch: „Die Nationalität ist eine komplizierte und zuweilen gänzlich abwegige Kategorie.“ Ebd., S. 227. 
Aus der Sendung: „Neuer Exodus - Was zieht Israelis nach Berlin?“ Deutschlandradio Kultur vom 27. 3. 2015.
Oz-Salzberger (Nr. 6), S. 205.
James Kirchick: „Israelis in Berlin“.Tablet Magazine vom 30. 1. 2015 , S. 7 (http://tabletmag.com/jewish-news-and-politics-/188191/israelis-in berlin/?) Von Kirchick, einem amerikanischen Journalisten, erschien am 29. 7. 2015 ein Artikel im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in dem er seine Skepsis gegenüber der israelischen Begeisterung für Berlin aufgrund seiner zionistischen Position nochmals ausführlich entfaltet: „Was soll die israelische Begeisterung für Berlin?“
Omri Boehm bezieht in einem Artikel in der „Welt“ eine Gegenposition zu Kirchick: Omri Boehm  „Du willst Israel helfen? Dann verlasse es!“ In: „Die Welt“, 5. 8. 2015 (http://www.welt.de/144781593)
Jungmann (Nr. 1), S. 284-285 sowie 257.
Dekel Peretz zufolge leben Israelis und Araber in Neukölln in Augenhöhe miteinander. Vgl.: Sendung von Deutschlandradio Kultur (Nr. 21). Vgl. auch Patrick Schirmer Sastra: „In Neukölln wohnen die Menschen in Frieden.“ Berliner Zeitung vom 3. 12. 2014 sowie Gina Reimann (Nr. 5). So sollen sich etwa in dem arabischen Lokal „Azzam“ in Neukölln, Sonnenallee 54, Israelis und Moslems zusammenfinden, um „Hummus“ zu essen.
Oz-Salzberger (Nr. 6), S. S. 138-140.
Vgl. Jungmann (Nr. 1), S. 514, Anmerkung Nr. 189. Vgl. hier auch das  Kapitel „Die jüdische Homosexuellengruppe ‚Yachad’, S. 509-521.
Oz-Salzberger (Nr. 1), S. 109.
„Wie ernsthaft und versonnen wirkte Berlin im Vergleich zur arroganten Hauptstadt der Wittelsbacher. Berlin trägt seine Narben offen.“ Ebd., S. 219.
„Die Schriftstellerin sagt, etwas in Berlin gehört zu Israel. Es gibt eine intellektuelle Diaspora in Berlin, die sich in intellektuellem und kulturellem Besitz ausdrückt.“ Oz-Salzberger auf der Leipziger Buchmesse 2015 (Nr. 7), S. 2.
In: Alice Lanzke: „Wie viele sind es wirklich?“, Jüdische Allgemeine 20. 10. 2014., S. 3 (http://www.juedische-allgemeine./de/article/view/id/20597). Vgl. hierzu auch Elisa Klapheck: „New York gilt heute als ‚jüdische’ Stadt. Viele in Berlin lebende Israelis sagen das inzwischen auch in Bezug auf die deutsche Hauptstadt.“ Elisa Klapheck: „Das religiös-säkulare Spannungsfeld des Judentums“. In: Elisa Klapheck und Ruth Calderon: „Machloket. Streitschriften. Säkulares Judentum aus religiöser Quelle“ Berlin: Hentrich & Hentrich 2015, S. 47.
Jungmann (Nr. 1), S. 39. Vgl. auch: Ester Gantner: Jüdische Räume in Berlin. In: Laurence Guillon, Heidi Knörzer ( Nr. 5) , S. 109 – 119.
Ebd., S. 45.
Ebd.
Ebd. Siehe hierzu auch den Abschnitt „Jüdische Gojim“ in dem Aufsatz von Lisa Klapheck „Das religiös- säkulare Spannungsfeld des Judentums.“A. a. O. (Nr. 31), S. 31 - 34.
„Doch viele Israelis meiden jeden Kontakt mit der Gemeinde.“ Oz-Salzberger (Nr. 6), S. 203.
Vgl.: Julia Haak: „Wie sich das jüdische Leben in Berlin verändert.“ In: Berliner Zeitung vom 17. 1. 2015.(http:www.berliner-zeitung.de/berlin/synagoge-am-fraenkelufer-wie-sich-das-juedische-leben-in-berlin-veraendert,10809148,29466832,view,printVersion.html/)
Erwähnen möchte ich hier nur das „I D - Festival“ in Berlin vom 16. 10. 2015, bei dem sich in Deutschland lebende israelische Musiker zu einem Konzert zusammenfanden. Geleitet wurde das Konzert von Guy Braunstein, einem in Deutschland lebenden Israeli und ehemaligen Konzertmeister der Berliner Philharmoniker.
Jungmann (Nr. 1), S. 553.
Frank Bachner: „Maccabi: Euro Games. Das jüdische Olympia kommt nach Berlin“. In: Tagesspiegel vom 23. 7. 2015, S.1-4. (http://www.tagespiegel.de/berlin/maccabi-euro-games-das-juedische-olympia -kommt-nach-berlin/v.print/12092150.html?p=)
Vgl. auch den Artikel von Selley Salamensky nach dem Abschluss dieser Spiele in „tablet magazine“ vom 6. 8. 2015: „In Berlin, a New Beginning“. Salamansky kritisiert hier nach meiner Meinung zu Recht die Rede des Bundespräsidenten Gauck zur Eröffnung der Spiele: „ […] a devastatingly blunt speech[…].“ (S. 2) 
„[…] so ist Berlin für viele Israelis quasi ein exterritorialer Raum.“ Aus einem Interview mit Prof. Anat Feinberg (Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.) Goethe-Institut e. V. Internet-Redaktion, Juli 2014.
Vgl. den Artikel von Salamensky (Nr. 40)

„Unmögliche Heimat“ (Nr. 12), S. 6.

 

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