Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 2 / April 2016

 

Ton Veerkamp
Die Einheit der Schrift

Die Schrift Israels und sonst nichts
In den ersten Jahrzehnten des zweiten Jahrhunderts gab es im Römischen Reich verbreitet Gruppen, die im Juden Jesus von Nazareth den Messias sahen. Es gab Schriften über ihn, die in den regelmäßigen Veranstaltungen der Gruppen oder Gemeinden verlesen und wohl besprochen wurden. So etwas wie eine von allen Gruppen akzeptierte Sammlung solcher Schriften – die später „Neues Testament“ genannt wurde – gab es nicht. Es gab Briefe von Paulus, es gab Berichte über Worte und Taten dieses Jesus, darunter sogenannte Evangelien, „Heilige Schrift“ war das nicht. Jede Gemeinde traf ihre Auswahl. Ihre „Heilige Schrift“ war die Schrift Israels, bei uns heute als „Altes Testament“ bekannt. Eine übergreifende weltweite Organisation für diese Gemeinden, eine allgemeine Kirche, gab es nicht. Es gab einen Streit zwischen Gemeinden, wo eine jüdische Lebensgestaltung, das Halten der Gebote der Tora, Vorschrift war, und anderen Gemeinden, deren Mitglieder überwiegend nichtjüdischer Herkunft waren und „Judaismus“ (jüdische Lebensgestaltung, siehe Galater 1,13f.) vehement ablehnten. Auch die innere Lebensgestaltung der Gemeinden, die Ethik, war jeweils unterschiedlich. Große Freiheit der Kinder Gottes. Man kann es auch ideologisches Chaos nennen.

Dann kam Marcion!
Marcion war der Sohn eines Bischofs der messianischen Gemeinde in Sinope an der kleinasiatischen Schwarzmeerküste. Er kannte sich in den Briefen des Paulus aus und sah in der Lehre des Paulus etwas absolut Neues. Die Gemeinde war vermutlich jüdischer Herkunft, die Schrift Israels stand in hohem Ansehen und Paulus war dort offenbar nicht die letzte Weisheit. Marcion versuchte, die Gemeinde auf andere und neue Gedanken zu bringen, was seinen Vater dazu veranlasste, ihn vor die Tür zu setzen. Er ging nach Rom, kaufte sich mit einer beträchtlichen Spende für die Armenfürsorge in die römische Gemeinde ein, versuchte, sie auf seine Linie zu bringen und dies wohl derart fanatisch, dass auch diese Gemeinde Marcion aus ihren Reihen ausschloss. Er beschloss, seine eigene Gemeinde zu gründen und hatte damit großen Erfolg. Er war nicht nur ein mitreißender Lehrer, er war auch ein großer Organisator. Er wurde der erste Begründer einer straff organisierten, weltweiten (griechisch: katholischen) „Kirche“.

Marcions Gemeinden sollten nur zehn Briefe des Paulus und eine revidierte Fassung des Lukasevangeliums als ihre Heilige Schrift anerkennen. Die Schrift Israels, Tora, Propheten, Psalmen, durfte nicht mehr verlesen werden. Er war Kind seiner Zeit und die intellektuelle Mode jener Tage war die sogenannte Gnosis. Der verbreitete Unfriede mit den Verhältnissen im Römischen Reich nahm die Form eines großen Erlösungsbedürfnisses an. Nach gnostischer Auffassung waren die Menschenseelen Funken des himmlischen Lichtes, die aus dem Kerker einer bösen dämonischen Welt, Produkt eines bösen Schöpfergottes, befreit werden sollen. Der Gute Gott des Lichtes sandte einen Erlöser, Jesus Christus; dieser sollte die Seelen aus der bösen Welt in das Reich des Lichtes Gottes hinaufführen. Marcion führte eine Reihe solcher „gnostischen“ Versatzstücke in seine Lehre ein, was ihm eine stetig wachsende Gefolgschaft nicht nur in Rom, sondern in vielen anderen Gebieten einbrachte. Im letzten Viertel des zweiten Jahrhunderts war die marcionitische Kirche größer als die messianischen Gemeinden zusammengenommen und noch im vierten Jahrhundert waren die Marcioniten in einigen Gebieten zahlreicher als die christlichen Gemeinden. Marcion verstand es, mit allen Mitteln der Demagogie seine Lehre zu verbreiten. Demagogie hat immer Erfolg, einfache Konstrukte, einfache Rezepte: dort ein böser Schöpfergott, hier der gute Erlösungsgott, dort Finsternis, hier Licht, dort Gewalt, Gesetz und Strafe, hier Liebe und Erlösung. Die Weltordnung der Römer bot Anlass genug anzunehmen, dass „die Weltordnung ganz und gar im Übel festliegt“ (1. Johannesbrief 5,19). Da die Menschen „Welt“ nicht als „römische Weltordnung“, sondern als „böse Schöpfung“ sahen, hatten gnostische Quacksalber großen Zulauf. Dass nicht die Welt an sich böse war, sondern die auf ihnen lastende Ordnung der Welt, die von Menschen und nicht von einem bösen Gott gemacht war, entging den Menschen. Es ist in der Tat sehr viel schwieriger, eine politische Hoffnung, die Hoffnung auf eine andere, messianische Weltordnung durchzuhalten, als die Schuld einer bösen Schöpfung zuzuweisen und sich mit einer lust- und körperfeindlichen Enthaltsamkeitsmoral aus der Affäre zu ziehen.

Das Christentum im Zugzwang
Durch die Erfolge der Marcioniten standen die messianischen Gemeinden mit dem Rücken an der Wand. Sie mussten erstens das Verhältnis zwischen der Schrift Israels und im Umlauf befindlichen messianischen Schriften klären und dann, grundlegend, das Verhältnis zwischen dem Gott Israels, dem Gott der Tora, und Jesus Messias, der in den Gemeinden als „Sohn Gottes“ verehrt wurde. Eine Grundsatzentscheidung fiel, als die Gemeinden beschlossen, die Schrift Israels als fundamentale Urkunde des Glaubens beizubehalten und dieser Schrift die Briefe des Paulus, vier Evangelien und einige weitere Texte an die Seite zu stellen. So entstand der sogenannte Kanon heiliger Schriften des „Alten“ und „Neuen Testaments“.

War der Streit um den Kanon schon schwierig – verglichen mit dem Streit um das Verhältnis zwischen dem Gott Israels („Vater“) und dem göttlichen Messias der Gemeinden („Sohn“) war er ein Kinderspiel. Von der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts bis zum Konzil von Konstantinopel (381) dauerte es, bis die Gemeinden sich auf eine Formel geeinigt hatten, mit der die meisten leben konnten – mehr als zwei Jahrhunderte! Die Formel lautete: Der „Sohn“ ist wesensgleich mit dem „Vater“. Wesensgleich ist ein höchst abstrakter Begriff aus der spätantiken Metaphysik. Nur wenige Spezialisten wissen, dass die Formel aus einem erbitterten Streit um die Einheit der Schrift und die Einheit Gottes hervorgegangen ist. Erst recht weiß kaum noch jemand, dass mit dem Spruch, mit dem weltweit die Sonntagsdienste der Kirchen beginnen, diese Einheit aufgerufen wird: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Wir sagen mit diesen Worten, dass unser Leben in der Welt und unter der jeweils herrschenden Weltordnung von der Großen Erzählung Israels in beiden Testamenten (Vater, Sohn) inspiriert (Heiliger Geist) werden soll. Niemand muss heute ein „Christ“ – ein Schüler des Juden Jesus von Nazareth – sein, aber wenn er es sein will, dann auf dem Fundament dieser einen Großen Erzählung.

Die Juden von damals und von heute sehen das anders: „Höre Israel: der NAME IHWH unser Gott, der NAME IHWH EINER (IHWH echad)“. Der Messias ist weder Gott noch ihm wesensgleich. Es gibt nur einen Gott, diese eine Schrift aus Tora, Propheten und Schriften (Psalmen, Hiob usw.) sowie die Lehre des Judentums, Talmud, die Deutung dieser Schriften und Deutung der verschiedenen Deutungen der angesehenen Rabbinen ist. GOTT ist der EINE, seine Wort diese Heilige Schrift. Es gibt im Judentum diese christlich-theologischen Probleme nicht.

Der Islam ging noch einen entscheidenden Schritt weiter. In der Sure 112, einer der ersten, die Mohammad formulierte, wurde die ganze theologische Konstruktion der orthodoxen christlichen Theologie mit vier wuchtigen Sätzen vom Tisch gewischt: „Sage: Gott, Er ist der Eine (Allahu achad, siehe Deuteronomium 6,4!) / Gott ist der Feststehende / Er zeugte nicht, er wurde nicht gezeugt / Keiner ist wie Er, Er allein sich selbst genug.“ Mohammad hob beide Testamente in dem einen Koran auf, auch der Koran ist auf seine Weise eine Antwort an Marcion.

Schriftlektüre
Die alte Kirche las die beiden Testamente als Einheit; sie war das Fundament der Lehre, der Verkündigung und des kirchlichen Unterrichts. Diese Einheit bestand darin, dass das „Alte Testament“ nur einen Sinn hat: Auf das Evangelium, auf Jesus Christus vorzubereiten und hinzuweisen. Das nannte Augustin praefiguratio. Seine Lektüre war und blieb bis in die Moderne Maß und Richtschnur der christlichen Kirchen. Für Luther ist die Lektüre der Schrift Israels sinnvoll und nötig, solange sie, wie er schreibt, „Christum treibt“. Das hatte zur unvermeidlichen Folge, dass die Juden enterbt werde: die Schrift gehöre nicht länger dem Judentum, sondern sei in die Hände der christlichen Kirche übergegangen. Von Augustin können wir immer noch viel lernen, von seinem Umgang mit der Schrift müssen wir uns trennen. Ein Beispiel ist seine Exegese von 1Samuel 15, wo erzählt wird, wie das Königtum Sauls auf David überging. Die Überschrift über das 7. Kapitel des 17. Buches seines Hauptwerks Vom Staate Gottes lautet: „Über die Zerreißung des israelitischen Reiches, die eine Vorwegnahme (praefiguratur) der ewigen Trennung zwischen dem Israel nach dem Geist und Israel nach dem Fleisch war“. Nicht wurde das Königtum von Saul weggenommen, schreibt Augustin, sondern von Israel. Samuel habe gesagt: „Heute reißt der Herr das Reich aus deiner [Sauls] Hand, aus seiner Hand und das heißt von Israel. Dieser Mann personifiziert das Volk Israel figürlich; er werde das Königtum verlieren, da Christus Jesus, unser Herr, durch den neuen Bund nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist regieren wird.“ Die Lektüre nennt man typologische oder allegorische Exegese; die Figuren der alten Erzählungen sind „Typen“, sie sind als Verweisungen auf Jesus Christus zu verstehen, sie sind Allegorien, andere als die, die sie für sich selber sind. Hier ist das ganze „Alte Testament“ nur eine Funktion des „Neuen Testaments“. Das allegorische Verfahren begann ja schon in unseren Evangelien, aber bei ihnen und bei Paulus ist nicht die frühe Kirche, gar die neue Religion Christentum, sondern der Messias selbst, und nur Er, die Erfüllung alles dessen, was Israel je gehofft hat. Augustinus schrieb: „Weil sie [die Juden] an unsere Schriften nicht glauben, in denen ihre eigenen (Schriften) enthalten sind, lesen sie diese als Blinde (caeci!)“ (Buch 18, Kap. 46). Ein Gespräch mit den Juden über die Schrift ist sinnlos, sie sind ja blind. Solange die Juden an ihrer Schrift festhalten, zeigen sie, dass die christliche Lektüre nicht die einzig mögliche ist. Nachdem das Christentum im neuen Römischen Reich Ende des 4. Jahrhunderts zur einzig erlaubten Religion geworden war, bedeutete die jüdische Lektüre für die dominante Reichsideologie, eben das Christentum, etwas Subversives, etwas Feindliches und Bedrohliches. Hier begann für die Juden der Weg in das Ghetto, in die Pogrome und schließlich nach Auschwitz.

Zwei Möglichkeiten
Die typologische oder allegorische Lektüre Augustins war seit dem 19. Jahrhundert durch die historische Kritik unmöglich geworden. Inzwischen sind ganze Generationen von Theologinnen und Theologen durch die Schule der historischen Kritik gegangen. Die wenigsten predigen noch allegorisch; für die meisten von ihnen ist das Alte Testament nur noch ein erbauliches Bilderbuch nach dem Rezept des Dogmenhistorikers Adolf von Harnack. Dieser konnte 1920 in seinem Buch über Marcion schreiben: „Marcion hat recht bekommen, wenn auch teilweise und mit anderer Begründung. Seit einem Jahrhundert wissen das die evangelischen Kirchen und haben nach ihren Prinzipien die Pflicht, dem Folge zu geben d.h., das AT zwar an die Spitze der Bücher zu stellen, ‚die gut und nützlich zu lesen sind‘ und die Kenntnis der wirklich erbaulichen Abschnitte in Kraft zu erhalten, aber den Gemeinden keinen Zweifel darüber zu lassen, dass das AT kein kanonisches Buch ist“ (Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, 1924, 222). Von Harnack und nach ihm jetzt wieder Notger Slenczka machen den Vorschlag: Überlassen wir das „Alte Testament“ dem Judentum, wir haben das Unsere. Das ist eine Möglichkeit, aber eine schlechte. Wir umgehen zwar auf diese Weise die Enterbung Israels, aber das „Neue Testament“ hängt dann völlig in der Luft, es wird wirklich unverständlich und unleserlich, es sei denn, man fasse das „Neue Testament“ in der Tradition des deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts als Dokument einer neuen Geistreligion jenseits von Israel auf. Doch eine Wiederbelebung des Kulturprotestantismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist eine Sackgasse.

Es gibt eine andere Möglichkeit. Wenn wir das „Alte“ nach allem, was im vorigen Jahrhundert geschehen ist, nicht länger auf das „Neue“ hin hören dürfen, dann bleibt nur der Weg, die messianischen Schriften von der Großen Erzählung Israels her zu hören, als Erzählung, die die große gesellschaftliche Vision Israels, Autonomie und Egalität, zu einer Perspektive für alle Menschen dieser Welt machen könnte. Das wollte Paulus, das wollten auf alle Fälle auch Matthäus und Lukas. Denn die Große Erzählung des Christentum wurzelt in der Großen Erzählung des alten Israels; „nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich“ (Römer 11,18), sagt Paulus, die warnend, die mit ihrer angeblich neuen Religion angeben, an die Adresse Augustins und der typologischen Exegese, aber auch an die Harnacks, Slenczkas è tutti quanti. Das ist ein mühseliger Weg. Beide, „Altes“ und „Neues Testament“ sind antike Texte, ihre Sprache stammt aus einer vollkommen anderen Kultur und Gesellschaftsordnung, sie sind nicht sofort verständlich. Das Christentum hat sich inzwischen immer weiter aus dem öffentlichen Empfinden zurückgezogen. Was bekannt und vertraut schien, ist uns abhandengekommen, das ist ein Segen. Man muss sich jetzt wieder auf das Fremde und Befremdende einlassen, auf den „fremden Gott“, aber nicht auf den Gott Marcions und Harnacks. Deswegen müssen wir alle, Theologen und Laien, ins Lehrhaus, alle sind Lehrende und Lernende zugleich.

Ton Veerkamp Emeritierter Pfarrer in der ESG Berlin.

JungeKirche 1/2016

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