Redaktion: Hans-Georg Vorndran
BlickPunkt.e Nr. 2 / April 2016
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Frank Crüsemann „Das Neue Testament als Wahrheitsraum des Alten“ – mit dieser Umkehrung meines Buchtitels hat Notger Slenczka seine Thesen für unsere Podiumsdiskussion in Köln überschrieben. Die Einseitigkeit, mit der es meint, hat sich in der Diskussion des letzten Jahres wohl als absolut unhaltbar herausgestellt. Aber gilt nicht für die christliche Theologie in der Tat beides gemeinsam? Das eindrucksvolle Bild, das Gerhard v. Rad von einem solchen „wechselseitigen Verständnis“ gezeichnet hat – „Beide Testamente legitimieren einander“1–, ist bis heute von vielen aufgenommen und weiterentwickelt worden und erweist sich als höchst lebendig2. Ist nicht solche wechselseitige Beziehung geradezu unverzichtbar, da wir Nichtjuden doch durch Jesus zum Alten Testament und seinem Gott gekommen sind? Das Alte Testament als Schlüssel für das Neue Für die christliche Theologie hat entscheidendes Gewicht, dass alle Aussagen über Jesus als den Christus alttestamentliche Formulierungen aufgreifen und auf sie angewiesen bleiben. Das gilt für alle sog. Titel Jesu wie Messias, Gottessohn, Menschensohn. Das gilt für seine Lehre, die den Ruf zur Umkehr angesichts der nahen gerechten Welt Gottes zum Zentrum hat – und wohin sollen die Angeredeten zurückkehren, wenn nicht zu etwas, das längst bekannt war? Unübersehbar ist, dass die Tora vom Sinai durch die Lehre Jesu bestätigt und aktualisiert wird und sich die so lange vorherrschende antithetische Sichtweise („ich aber sage euch…“) immer deutlicher als Fehlinterpretation erweist. Wie die Worte haben auch Jesu Handlungen Zitatcharakter. Die Totenerweckungen etwa erinnern bis in Details an entsprechende Geschichten über Elia und Elisa. Ausdrücklich gilt diese Verwurzelung für alle entscheidenden Momente der Lehre über ihn, also für die eigentliche Christologie. Für das älteste uns bekannte Glaubensbekenntnis des frühen Christentums, das Paulus schon als formulierte Tradition übernimmt (1Kor 15,3f), sind die beiden entscheidenden Vorgänge, die den Glauben an ihn als den Messias konstituieren, nämlich „gestorben für unsere Sünden“ und „am dritten Tag aufgeweckt“ als „entsprechend den Schriften“ geschehen. Das gilt erst recht für die Erhöhung zur Rechten Gottes, die sich ausschließlich auf die Formulierung aus Ps 110 stützen kann. Die paulinische Formulierung „Nicht über das hinaus, was geschrieben steht“ (1Kor 4,6) gilt für alle theologischen Aussagen des Neuen Testaments, aber nirgends so uneingeschränkt wie für die Christologie. Nur weil das Alte Testament vorgegeben ist, kann überhaupt von Christus geredet werden, nur weil und wenn es geltendes Gotteswort ist, hat das, was mit Jesus geschieht, etwas mit Gott und Gottes Wahrheit zu tun. Das Neue Testament als Schlüssel für das Alte? In der Tat setzen die klassischen christlichen Deutungen des Alten Testaments genau dies durchgehend voraus. Da ist das seit dem 2. Jh. dominante Verständnis als Verheißung und seiner Erfüllung im Neuen. Da sind dann christologische Interpretationen, die auch im Alten Testament nach der lutherischen Formel das suchen und finden, „was Christum treibet“. Heute herrschen weitgehend Thesen vor, wonach die Erfahrungen mit Jesus die ersten Christen zu einer völlig neuen Wahrnehmung ihrer „Schrift“ gebracht haben. Diese und ähnliche Modelle stellen faktisch eine Umkehrung der im Neuen Testament vorausgesetzten Folge dar. Denn sie müssen offen oder versteckt davon ausgehen, dass die Botschaft von Jesus zunächst für sich erfahren, begriffen und formuliert werden konnte, um sie dann nachträglich zur damaligen Bibel in Beziehung zu setzen. Dem neutestamentlichen Befund selbst wird keine dieser Deutungen gerecht. Erkennt man das und erkennt es an, dann liegen zunächst Zuordnungsmodelle nahe, die eine wechselseitige Beleuchtung voraussetzen, wovon eingangs die Rede war. Eine Variante davon ist die v.a. von katholischen Theologen vertretene doppelte Interpretation, bei der zuerst das Neue vom Alten her, dann aber umgekehrt das Alte vom Neuen her gelesen werden soll. Man wird eine partiell andere und neue Sicht nicht bestreiten können. Wir sind ja in einer anderen Zeit, es geht um andere Menschen mit anderen Konflikten. So wie die verschiedenen prophetischen Stimmen im Alten Testament jeweils eigene Erfahrungen einbringen, kommen auch im Neuen Testament neue und veränderte Perspektiven hinzu. Was man aber entschieden bestreiten muss, ist eine kategorial veränderte Sichtweise, ist ein Bruch mit der alttestamentlich–jüdischen Tradition. Gerade das angeblich Neue versteht sich als Erfahrung mit den gleichen Texten und demselben Gott. Was der traditionell christlichen Sichtweise in allen ihren Varianten zugrunde liegt, ist die Verwechslung des Zugangs zum Heil mit dem Inhalt des Heils. Man macht aus der Tür, die in einen großen umfassenden Raum führt, den Schlüssel, an dem allein alles hängt. Das muss fast automatisch zu entschiedenen Verengungen führen. Ganze Dimensionen dessen, was sich da öffnet, werden gar nicht mehr wahrgenommen und dann nicht selten abgewertet und abgewehrt. Nein, der Satz „Das Alte Testament ist der Schlüssel für das Neue“ ist ohne solche Verluste nicht umkehrbar. Der alttestamentliche Reichtum Ein zweites Beispiel ist der Umgang mit den Aussagen über das Menschsein und damit eng verbunden der Umgang mit anderen Religionen. Das traditionelle Christentum hat diese Aussagen massiv auf Christus und die Erlösung hin (bzw. faktisch von ihnen her) bezogen. Besonders ein Verständnis von Gen 2f als Sündenfall bestimmt das negative Menschenbild, wie es Augustinus und dann die Reformatoren ausgeprägt haben, und begründet die Notwendigkeit der Erlösung durch Christus. Alle Menschen außerhalb des rechten Glaubens sind bleibend Sünder und unfähig zum Guten, auch die Gottebenbildlichkeit sei dadurch ganz oder teilweise verloren gegangen. Doch diese anthropologischen Grundtexte der Bibel sprechen aus sich gelesen ganz anderes. Das gilt deutlich für das Konzept der Gottebenbildlichkeit. Unabhängig von der Frage, was genau darunter zu verstehen ist, ist es eindeutig, dass beide in Genesis 1,26.28 verwendeten Begriffe auch noch nach dem Fall in Genesis 5,1.3; vgl. auch Genesis 9,6, verwendet werden. Die Menschen bleiben uneingeschränkt Bild Gottes und sind das auch als Sünderinnen und Verbrecher und als Ungläubige allemal. Der Sündenfall tangiert das nicht. Es geht um so etwas wie eine unverlierbare Menschenwürde. Und die neuzeitliche Rede von Menschenwürde und Menschenrechten musste so lange als unbiblisch und damit unchristlich gelten, wie man nicht davon ausging, dass sich die neutestamentliche und die christliche Anthropologie am Alten Testament auszurichten hat und nicht umgekehrt. Als drittes Beispiel sei daran erinnert, dass der Hauptinhalt des Alten Testamentes, die besondere Geschichte Gottes mit dem Volk Israel (Erwählung und Bund), für die traditionelle christliche Theologie durch das universale Heil für alle Menschen in Christus als aufgehoben und überholt galt. Sie wurde in den christlichen Kirchen erst in der Folge des Erschreckens über die Schoah und ihre auch christlichen Wurzeln ab den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts schrittweise wieder gewonnen. Eine der vielen problematischen Folgen war, dass christliche Frömmigkeit durch Umdeutung zentraler Formulierungen der Erwählung Israels auf sich selbst und seine Nächsten geprägt ist. Man denke an bekannte Formulierungen wie die in Jesaja 43,1 „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Dass im Zusammenhang ganz eindeutig Israel gemeint ist, wird bei der Verwendung in der Regel verdrängt. Kann aber eine solche Aussage verlässliche Wahrheit sein, wenn sie für den, zu dem sie doch gesagt ist, nicht mehr gelten soll? Was man an Gottes Zuwendung für sich mit der Umdeutung aussagen will, muss man gleichzeitig leugnen. Und ein entsprechender double bind betrifft nicht nur einzelne Formulierungen, sondern die Grundlage der gesamten Bibel, auf die man doch Glaube und Leben meint gründen zu können. Die Problematik der Vorstellung einer wechselseitigen Legitimation von Altem und Neuem Testament zeigt sich besonders krass an jenem Bild, mit dem Paulus in Römer 11 die Wirkung des Christusereignisses für nichtjüdische Menschen charakterisiert. Er spricht von ihrer Einpfropfung in den alten, tragenden Ölbaum: „obwohl du vom wilden Ölbaum stammst, wurdest du inmitten der übrigen Zweige eingepfropft. So hast du gemeinsam mit ihnen Anteil an der Fett spendenden Wurzel des edlen Ölbaums… Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich“ (Römer 11,17f). Wie könnten die eingepfropften Zweige bestimmen, was die sie tragende und nährende Wurzel ausmacht? 1 Theologie des Alten Testaments II, München 1968, 398. 411. Frank Crüsemann Emeritierter Professor für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule in Bethel. |
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