Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 1 / Februar 2017

 

Doron Kiesel
„Das christlich-jüdische Verhältnis auf eine veränderte Grundlage stellen“
Die Grundartikelerweiterung in jüdischer Perspektive

Vor einigen Wochen hatte die Jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main die Ehre, den hessischen Kultusminister, Professor Dr. Lorz, zu Gast zu haben. Er war Gastredner auf der 50jährigen Feier zur Erinnerung an die Gründung der Lichtigfeld-Schule im Jahre 1966, einer Schule in der Trägerschaft der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main. Am Ende seines sehr beeindruckenden Beitrages wussten wir gar nicht: „Ist er eigentlich Mitglied der Jüdischen Gemeinde oder nicht?“ Es gibt Haltungen, Einstellungen und Positionen, die in unterschiedlichen religiösen Kontexten gleichermaßen bedeutsam und einfühlsam sind. Das wurde an dem überzeugenden Beitrag von Prof. Dr. Lorz – sowohl vor den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde als auch vor den Delegierten auf der Synode – erkennbar.

Die Debatten, die wir vor über 25 Jahren begonnen haben, und ich darf mich auch als einer dazu zählen, der Zeitzeuge in einem Prozess war, der im Wesentlichen von Bettina Kratz und Martin Stöhr vorangetrieben wurde, führten schließlich zur Änderung und Erweiterung des heute gewürdigten Grundartikels der EKHN.

Dieser Schritt war in jeder Hinsicht aus einer jüdischen Perspektive, ich will es mal so sagen, eine theologische Revolution. Wir waren uns sehr bewusst, dass das, was hier im Kontext des durch die Initiativen einzelner im protestantischen Selbstverständnis möglich wurde, eine grundsätzliche Veränderung im Verhältnis zwischen Juden und Christen nach sich ziehen würde.

Ich will an dieser Stelle diesen radikalen Schritt besonders würdigen, da sich eine Religionsgemeinschaft, die über einen sehr langen Zeitraum bestimmte Positionen innehält, die für die jüdische Gemeinschaft Erfahrungen der Verfolgung, der Erniedrigung und schließlich der Vernichtung nach sich zogen, von ihren – bis zu diesem Zeitpunkt geltenden – Überzeugungen verabschiedet hat.

Wenn eine Kirche sich bereit erklärt, so wie die EKHN es tat, einen sogenannten Paradigmenwechsel vorzunehmen, der so weitgehend ist, dann verspricht und verheißt dies einen tatsächlichen und ernstgemeinten Wandel. Ich glaube, dass dieses Vorhaben in vielerlei Hinsichten gelungen ist, sofern wir uns die theologischen und programmatischen Aspekte dieses Beschlusses anschauen. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer gleichzeitigen Durchdringung des Bewusstseins mit den veränderten Erkenntnissen in Hinsicht auf das christlich-jüdische Verhältnis.

Einerseits werden Pfarrerinnen und Pfarrer auf diesen Grundartikel eingeschworen, andererseits drängt sich die Notwendigkeit auf, gemeinsam zu überlegen, wie eine konsequente dialogische Perspektive eines gleichberechtigten religiösen Diskurses stattfinden kann. Gemeint ist an dieser Stelle die Verankerung theologischer Grundsätze in ein umfassendes Weltbild, dass das Judentum als Partnerreligion wahrnimmt und Abschied nimmt von jeglicher Form christologischer Verachtung, Überhöhung oder Ausgrenzung jüdische Existenz. Dieser Perspektivwechsel hat nur dann eine Chance, protestantisches Allgemeingut zu werden, wenn er sowohl zu den Lehrinhalten des Studienfachs Evangelische Theologie als auch in den Kanon der in den Predigerseminaren gelernten Fächer aufgenommen wird. Die Tatsache, dass Studierende ihr Theologiestudium absolvieren können, ohne sich verbindlich mit der Hebräischen Bibel auseinanderzusetzen, ist in diesem Zusammenhang eine strukturelle Fehlleistung, die die Änderung des Grundartikels praktisch aushebelt. Erst die systematische Beschäftigung mit den Texten der Hebräischen Bibel ermöglicht die Wahrnehmung von Nähe und Distanz, von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum. Findet ein solcher Lernprozess nicht statt, ist davon auszugehen, dass tradierte und das Judentum diskriminierende Vorannahmen sich weiterhin ihren Weg bahnen.

Wenn wir uns wünschen, dass die Veränderung des Grundartikels zum festen Bestandteil theologischer Überzeugungen wird, dann muss die verabredete und verabschiedete Sichtweise in die unterschiedlichen Sphären kirchlichen Lebens einfließen. Es tangiert ja nicht nur das Verhältnis zwischen Juden und Christen, es geht um nicht mehr und nicht weniger als um das christliche Selbstverständnis und somit auch immer um Fragen einer religiösen Identität. Es bedarf daher neben den theologischen Einsichten und Erkenntnissen sowie historischem Wissen auch der pädagogisch-didaktischen Ansätze, um die veränderte Qualität des christlich-jüdischen Verhältnisses vermitteln zu können.

Die Debatte um das Verhältnis Martin Luthers zu den Juden hat uns daran erinnert, welch langanhaltende Tradition der Judenfeindschaft auch im Protestantismus angelegt ist. Mehr noch: die Ausbreitung der Reformation und Luthers antijüdische Hetze waren eine unheilige Allianz eingegangen, deren Zielsetzungen im politischen Antisemitismus moderner Gesellschaften zum Ausdruck kommen. So sehr Luther für die reformatorische Bewegung von entscheidender Bedeutung war, erwies er sich zugleich auch als einer der fanatischsten Judenfeinde seiner Zeit.

Vor diesem schwerwiegenden Dilemma steht der Protestantismus, nicht zuletzt deswegen, weil die Lutherforschung einräumen musste, dass die bisherige Trennung des ‚jungen‘ und des ‚alten‘ Luthers in Hinblick auf seine prinzipiellen antijüdischen Denkfiguren obsolet ist. Während der junge Luther noch um die Juden warb und hoffte, sie argumentativ davon überzeugen zu können, dass die Reformation ihnen den Weg vom ‚alten‘ zum ‚neuen‘ Bund weisen könnte, muss der alte Luther konstatieren, dass seine Bemühungen um die jüdische Minderheit genau von dieser nicht gewürdigt werden. Die Konsequenzen dieser Einsicht sind die buchstäbliche Verteuflung der Juden und die Aufforderung an die Bevölkerung, sie zu vertreiben und die Erinnerung an ihre Existenz zu tilgen.

Heute, fünfhundert Jahre nach Luthers Wirken betrachten wir – Juden und Christen – sein Werk und sein Denken gemeinsam. Die Aufdeckung der historischen Fakten können eingesehen werden. Dies könnte eine Grundlage für die intensive gemeinsame Auseinandersetzung mit Luthers Erbschaft nach sich ziehen. Die innerchristliche Aufbereitung der reformatorischen Nachwehen bleibt weiterhin von herausragender Bedeutung. Die hieraus gewonnenen Einsichten werden jedoch nur dann Konsequenzen für den interreligiösen Dialog haben, wenn die theologische Reflexion sich nicht auf ein Selbstgespräch unter Christen und Christinnen beschränkt. Selbstgespräche verhindern die notwendige Empathie und den Perspektivwechsel, da die Akteure die Erfahrungen und die Sichtweisen der betroffenen Anderen in ihre Reflexion nicht einbeziehen können. Bleibt aber die Sichtweise der Anderen außen vor, so wird sie von dem erhofften Lernprozess ausgeschlossen. Möglicherweise erfahren die jüdischen Anderen gar nichts von den veränderten Haltungen der christlichen Protagonisten und erhalten keine Gelegenheit, ihre eigenen biographisch oder historisch begründeten Vorannahmen oder Überzeugungen zu revidieren.

Daher plädiere ich an dieser Stelle für die Schaffung eines gemeinsamen christlich-jüdischen Gremiums mit christlichen und jüdischen Gelehrten, das sich die Aufgabe stellt, das christliche-jüdische Verhältnis auf den unterschiedlichen Ebenen auf eine veränderte Grundlage zu stellen. Diese Grundlage könnte eine Christologie befördern, deren Identitätsangebote an ihre Anhänger nicht gleichbedeutend mit der Abwertung der Juden und ihres Glaubens ist. Juden und Christen könnten somit an einem zukunftsorientierten Prozess mitwirken, der die strukturellen Voraussetzungen für eine gleichwertige und gleichberechtigte jüdische und christliche Existenz einleitet. Dies entspräche einem drastischen Paradigmenwechsel, verbunden mit der Aussicht auf eine wirkliche Veränderung der immer wiederkehrenden Erfahrungen des asymmetrischen Verhältnisses der christlichen Mehrheit gegenüber der jüdischen Minderheit.

Es ist für jemanden, der wie ich als Jude in Frankfurt lebt, sehr ermutigend zu sehen, dass eine Reihe von Persönlichkeiten innerhalb der Kirche sich seit langem für eine qualitative Veränderung des christlich-jüdischen Verhältnisses einsetzen. Dazu zähle ich – stellvertretend für zahlreiche weitere Mitstreiter – an erster Stelle den Präses der EKHN, Uli Oelschläger, der in seiner Funktion und aus tiefer Überzeugung heraus sich für eine lebendige Erinnerungskultur einsetzt und seit Jahrzehnten auf vergangenes blühendes jüdisches Leben in Deutschland in unzähligen Vorträgen und Schriften hinweist. Weiterhin zähle ich meinen ehemaligen Kollegen an der Ev. Akademie Arnoldshain, Martin Stöhr, und natürlich Bettina Kratz zu diesem Personenkreis. Deren Lebenswerk widmete sich der Aufarbeitung und theologischen Neubestimmung des christlich-jüdischen Verhältnisses. Zudem möchte ich auf zahlreiche Zeichen der Annäherung verweisen: Die Einrichtung der Martin-Buber-Professur an der Theologischen Fakultät der Frankfurter Universität, die von Prof. Dr. Christian Wiese in vorzüglicher Weise wahrgenommen wird, die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk und dem Wirken Martin Luthers in zahlreichen Schriften und Ausstellungen, die Veränderung der Perikopenordnung zugunsten einer stärkeren Einbeziehung von Texten der Hebräischen Bibel, die solidarische Haltung der EKD und der Landeskirche während der sogenannten Beschneidungsdebatte und nicht zuletzt die Ausstellungen im Bibelhaus Erlebnismuseum, die auf gemeinsame christliche und jüdische Wurzeln und Traditionen verweisen. Das Museum erfährt seit geraumer Zeit die ihm gebührende internationale Anerkennung und Würdigung.

Die Erklärung der Synode der EKD zur Judenmission schließlich ist ein weiterer Schritt in dem Prozess einer veränderten Wahrnehmung des Judentums und seiner Vertreter. Die jüdische Gemeinschaft sieht in solchen Entscheidungen ein gewandeltes Selbstverständnis kirchlicher Institutionen und theologischer Denkfiguren, wodurch erkennbar wird, dass Kirche lernfähig ist und die angemessenen Konsequenzen aus fatalen Fehltritten in der Vergangenheit zieht.

Außerhalb der Grenzen der EKHN finden sich Lernfelder, die als Anregung für kommende Projekte der EKHN dienlich sein könnten. So dokumentiert das Institut für christlich-jüdische Studien an der Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau sämtliche jüdischen Gemeinden auf dem Territorium Bayerns, in denen sich Juden bis zu ihrer Vertreibung und Vernichtung als fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens sahen. Eine Arbeit, die seit nunmehr zehn Jahren eine verschüttete Epoche jüdischen Lebens vor dem Vergessen retten will. Ein großartiges und in jeder Hinsicht vorbildliches Unterfangen!

In Anbetracht der bald fehlenden Zeitzeugen jüdischen Lebens vor und während der Shoah kommen dem Gedenken und der Erinnerungskultur eine hervorragende Bedeutung zu. Zeugnisse aus jener Zeit können nur verstanden und interpretiert werden, wenn das notwendige Wissen über jüdisches Leben auch vor und nach der Shoah zur Kenntnis genommen wird. Dieses Wissen weiterzutragen und auch den zugewanderten ethnischen Gruppen zu vermitteln ist uns in der bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft aufgetragen.

Wir stehen also in unserem gemeinsamen Anliegen der Neubestimmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses vor immensen Herausforderungen. Lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam beschreiten. Vertrauen stellt sich nicht von alleine her; es bedarf vielmehr immer wieder neuer Gelegenheiten, auf der Grundlage der Erkenntnis, dass Juden und Christen in diesem Land ihre Heimat sehen, bestehende Gemeinsamkeiten hervorzuheben und die Unterschiede als Ausdruck einer lebendigen und vielfältigen kulturellen und religiösen Lebenswelt zu würdigen.

Während meine Großeltern von Deutschen umgebracht wurden, meine Eltern in Anbetracht der tödlichen Bedrohung sich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten, bleibt mir die Hoffnung, die – bei all der immer wieder aufscheinenden Ambivalenz – doch allmählich zur Gewissheit wird, dass Juden und Christen in Deutschland die Chance für einen Neubeginn haben. Das Geschenk dieser Chance ist uns nur einmal gegeben. Ein weiteres Mal wird es nicht geben.

Prof. Dr. Doron Kiesel ist wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Text ist die überarbeitete Fassung seines Wortvortrages bei der Feierstunde während der 2. Synodaltagung der Zwölften Kirchensynode der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, 23.–26. Nov. 2016, im Rahmen des Schwerpunktthemas „25 Jahre Erweiterung des Grundartikels der Kirchenordnung“

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