Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 1 / Februar 2017

 

Gabriele Scherle
Ein Wegbereiter der Grundartikelerweiterung
Laudatio für Martin Stöhr

Es ist mir eine große Freude und Ehre, dass ich heute im Kontext des 25jährigen Jubiläums unserer Grundartikelerweiterung für Dich lieber Martin Stöhr die Laudatio halten darf zur Verleihung der Martin Niemöller Medaille unserer EKHN.

Laudatio, das klingt mir jedoch zu distanziert. Ich möchte vielmehr den biblischen Gehalt des Wortes „Lobpreis“ darin ernst nehmen und über den Segen reden, die b’racha, die sich durch Dich für unsere Kirche und unsere Gesellschaft entfaltet hat und noch entfaltet.

Darum möchte ich auch damit beginnen, wie mich dieser Segen berührt hat. Du warst und bist eines meiner großen Vorbilder im Glauben und für ein kämpferisches Christsein, das sowohl theologisch reflektiert als auch politisch bewusst agiert. Als ich Dich vor mehr als 36 Jahren in Arnoldshain bei einer Tagung kennenlernte, da warst Du schon eine zentrale Person des deutschen Protestantismus.

In einem Pfarrhaus aufgewachsen, humanistisch gebildet und durch die Auseinandersetzungen der Bekennenden Kirche mit dem nationalsozialistischen Staat geprägt, bist Du hineingeführt worden in die Kämpfe des deutschen Nachkriegsprotestantismus. Die Frage, wie wir in dieser Gesellschaft Kirche sein können und wollen, ist uns bis heute geblieben. Nach 1945 allerdings stellten sich die Fragen radikal und existentiell. Wie können wir angesichts von Auschwitz noch Kirche Jesu Christi sein und annehmen, dass Gott uns treu bleibt? Und wie können wir das Evangelium des Friedens bezeugen angesichts der ideologisch aufgeladenen Blockkonfrontation und einer möglichen Vernichtung der Menschheit in einem Atomkrieg?

Durch Dein Elternhaus, aber auch durch Lehrer wie Hans Joachim Iwand und Helmut Gollwitzer hat sich bei Dir eine theologische Denkform ausgeprägt, die Dich in diesen Fragen zu einem beständigen Engagement und einer nie nachlassenden intellektuellen Auseinandersetzung trieb. Du hast schon früh erkannt, dass die Kirche Jesu Christi nur dann von Gottvertrauen leben und reden kann, wenn sie zuerst die bleibende Erwählung des Gottesvolkes Israel glaubt. Auch für Dich war das ein Lernweg. Den christlichen Antijudaismus zu erkennen, die Schuld der Kirchen und die Notwendigkeit  einer Umkehr anzuerkennen, war da nur der erste Schritt.

In den gemeinsamen Bibelarbeiten der AG Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag wurde Dir immer deutlicher, dass wir das Alte Testament als Wahrheits- und Klangraum des Neuen Testaments lesen müssen. Oder mit deinen Worten: „Das Christentum paganisiert sich bis zur Unchristlichkeit, (wird heidnisch) wenn es nicht im ständigen Gespräch mit der Auslegungstradition und den Selbstverständnissen des jüdischen Volkes bleibt.“

Früher als viele andere hast Du auch erkannt, dass wir die bleibende Erwählung des Gottesvolkes Israel nur dann bezeugen können, wenn dies unserem Christusglauben entspringt. So bist Du auch zu einem Wegbereiter der Grundartikelerweiterung geworden, deren 25 jähriges Jubiläum wir heute feiern. Und wenn die EKD-Synode vor zwei Wochen der Judenmission eine grundsätzliche Absage erteilt hat, dann wird damit endlich eine Erkenntnis eingeholt, die Du mit manchen Anderen schon vor einem halben Jahrhundert gewonnen hattest.

Anders als so viele hast Du Dich jedoch darum bemüht, christologisch weiter zu denken und tust das immer noch. Davon zeugen viele Deiner theologischen Schriften. Diese zu lesen – das sage ich den Jüngeren hier – lohnt sich gerade heute wieder. Denn als Kirche Jesu Christi können wir uns nur recht verstehen, wenn wir Kirche mit dem Gottesvolk Israel sind und uns der gemeinsamen Hoffnung auf das Kommen Gottes bewusst sind, das die heilsame Verwandlung aller Verhältnisse und aller Kreatur bedeutet.

Für Dich, lieber Martin, war Dein eigener Erkenntnisweg nicht genug. Du hast diese Erkenntnisse auch nicht allein gewonnen, sondern in den vielen jüdisch-christlichen Gesprächen und Organisationen, in denen Du Dich so viele Jahre engagiert hast.

Ganz besonders in den dreien, die Du selbst mitgegründet bzw. lange geprägt hast:

1. Der sehr einflussreichen Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen auf dem Evangelischen Kirchentag, ohne deren Arbeit das Umdenken in den Kirchen, teilweise gegen die theologischen Fakultäten, nicht möglich gewesen wäre.

2. Dem Deutschen Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der sich seit 1952 mit der Woche der Brüderlichkeit unablässig für ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen, sowie für die Aufarbeitung des Holocaust einsetzt.

Und 3. Dem Programm „Studium in Israel“.

Zu jedem der drei Organisationen gäbe es viel über Dein Engagement zu sagen. Ich will mich auf das letztere konzentrieren. Durch das Programm „Studium in Israel“, das lange in Arnoldshain zuhause war, habt ihr (Peter von der Osten-Sacken, Rolf Rendtorff, Michael Krupp und Du) vor allem die Möglichkeit geschaffen, dass angehende Pfarrerinnen und Religionslehrer eine christliche Theologie ohne antijüdische Muster entwickeln. Als ehemalige Studentin in diesem Programm will ich das mit Nachdruck sagen: Wer reformatorisch von der Treue Gottes ausgehen will, muss diese Treue Gottes auch für das Gottesvolk Israel annehmen. Sonst gibt es 2017 nichts zu feiern.

Inzwischen sind es mehr als 700 Studierende, die dieses Studium in Israel gemacht haben. Einige davon sind auch hier in der Synode und an vielen anderen Stellen in den Kirchen unterwegs um die genannten Lernprozesse zu befördern. Wir alle sind dankbar dafür, dass Du dich nie gescheut hast, auch die schwierigen politischen Fragen des Nahostkonflikts deutlich anzusprechen und dem Antisemistismus, wo immer er auftritt, entgegenzutreten. Auch deshalb sind viele der ehemaligen Ratisbonner mit Dir weiter im Kontakt und dankbar für Deine beeindruckende theologische und politische Wachheit.

Diese Wachheit zeigst Du auch im Blick auf die zweite Frage, die sich nach 1945 der Kirche stellte. Wie wir das Evangelium des Friedens in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen bezeugen können, das ist unsere Frage geblieben. Kirche Jesu Christi können wir nur sein, wenn wir dieser Frage nicht ausweichen. Diese Erkenntnis ist zu einem zweiten Schwerpunkt Deines Engagements geworden und geblieben.

Auch hier geht es im Kern um unser Christuszeugnis. Und es wird geschärft durch die jüdische Nachfrage, wie wir denn Jesus als Messias bezeugen wollen, wenn es keine Zeichen des Messianischen unter den Menschen gibt. In der Tat, so ist es schon früh bei Martin Stöhr nachzulesen, schulden wir allen Menschen dieses Christuszeugnis. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass „Frieden und Gerechtigkeit sich küssen“, dass Mensch und Kreatur nicht mit Füßen getreten werden oder in existentieller Unsicherheit leben müssen. Dein Engagement, lieber Martin, hat diesen Aspekt des Christuszeugnisses unserer Kirche beständig in Erinnerung gerufen.

Bei all deinen beruflichen Stationen - als Pfarrer in der Studierendengemeinde Darmstadt, als Studienleiter und Direktor in der Akademie Arnoldshain, sowie als Professor an der Universität Siegen - hast Du an dieser Perspektive festgehalten. Und Dein Engagement reichte von internationalen Friedensorganisationen bis zur Martin-Niemöller-Stiftung.

Nur wenige können den Blick so umfassend schweifen lassen wie Du: vom christlich-marxistischen Dialog in früheren Jahrzehnten bis zum interreligiösen Dialog heute; vom jüdisch-christlichen Dialog bis zur gesamten Ökumene; von den dogmatischen Fragen nach Christus und dem trinitarischen Gott bis zu den sozialen Fragen nach einem menschenwürdigen Leben für alle.

Mit Hilfe dieses umfassenden Blicks waren für Dich schon früh jene Phänomene beschreibbar, die uns heute so sehr umtreiben: ein entfesselter Kapitalismus, der Fragen der Gerechtigkeit für Mensch und Kreatur ausblendet; ein tief verankerter Unglaube an die erlösende Macht der Gewalt; und das Ringen um sinnstiftende Erinnerungen und Hoffnungen für Europa und die ganze Welt.

Lieber Martin Stöhr, mich beeindruckt, wie hartnäckig Du an Deinen Themen geblieben bist und dabei immer zugewandt warst. Denn es gab auch schmerzhafte Niederlagen für Dich auf diesem Weg und vielleicht auch eigene Sackgassen. Vor allem aber gab es bei vielen dieser Fragen einen enormen politischen Widerstand – auch in der Kirche. (Wir können uns das heute nicht mehr vorstellen.) Weil ich das weiß, habe ich mich gefragt, woher Du Deine Kraft bekommst. Denn darüber redest Du als bescheidener Mensch nicht so viel. In Deinen Predigten und den Rundfunkandachten, die Du viele Jahre gemacht hast, lässt sich allerdings erkennen, wie Du mit dem Gott der Bibel und seinen Weisungen ringst. Wie die Texte zu Dir zu sprechen beginnen und Du uns hilfst uns auf die Treue dieses biblischen Gottes zu verlassen. Vor allem aber bist Du ein Zeuge der großen Verheißungen Gottes, auf die wir immer noch hoffen.

Mit dieser Laudatio, diesem Lobpreis, loben wir zugleich den biblischen Gott, und geben ihm damit den Segen zurück, den wir durch Dich, lieber Martin Stöhr, erfahren haben. Und wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, auch durch Dich, liebe Marie-Luise, die Du mit Deinem Mann gemeinsam das gelebt hast, was fromme Schwaben eine „Streiterehe“ nennen, in der auch das gemeinsame Engagement ganz besonders verbindet. Ihr beide seid ein Segen für unsere Kirche und unser Land.

Heute nun, lieber Martin, halten wir den Segenskreislauf für einen Moment an, erinnern Dein Engagement und ehren Dich dafür mit der Martin-Niemöller-Medaille unserer EKHN.

Vielen Dank!

Gabriele Scherle ist Pröpstin für Rhein-Main; Laudatio für Martin Stöhr während der EKHN Synode anlässlich der Verleihung der Martin Niemöller Medaille der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau am 25. November 2016

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