Redaktion: Hans-Georg Vorndran

BlickPunkt.e Nr. 1 / Februar 2017

 

Martin Vorländer
Rache - Der Drang nach Vergeltung im Alten und im Neuen Testament

Die Worte Rache, Recht und Gerechtigkeit haben einen inneren Zusammenhang. Rache verweist darauf: Jemand hat einem anderen ein schweres Unrecht angetan. Das verlangt nach einem Ausgleich, damit die Welt wieder in Ordnung kommt. Das Blut Abels, den sein Bruder Kain erschlagen hat, schreit von der Erde zu Gott im Himmel, heißt es in der Bibel (1. Mose 4,10). Das Blut ist im Alten Testament der Sitz des Lebens, und Gott allein ist Herr des Lebens. Wer Blut vergießt, greift damit auch Gott an.

Rache kommt im Alten wie im Neuen Testament vor. In den sogenannten Rache-Psalmen beten Menschen alles mögliche Unheil auf ihre Feinde herab. »Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Maul. (...) Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Vergeltung sieht, und wird seine Füße baden in des Gottlosen Blut.« (Psalm 58,7.11) Da stockt einem der Atem.

Auch das Neue Testament ist nicht frei von Rachefantasien. Der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefs erwartet, dass sich der »Herr Jesus« vom Himmel her offenbaren wird »in Feuerflammen, Vergeltung zu üben an denen, die Gott nicht kennen« (2. Thessalonicher 1,8). Im Buch der Offenbarung schreien die, die wegen ihres Glaubens umgebracht worden sind: »Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf Erden wohnen?« (Offenbarung 6,10)

Der entscheidende Punkt in der Bibel ist: Die Rache hat ihren Raum. Doch die Macht über Leben und Tod liegt nicht beim Menschen, sondern bei Gott allein. »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« (5. Mose 32,35; Römer 12,19) Es geht bei der biblischen Rache nicht um ungezügelte Emotionen. Vielmehr soll Gott das Recht wiederherstellen und den Opfern von Gewalt Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Die Bibel erzählt, wie die Gewalt seit Kains Brudermord eskaliert – und wie Gott sie begrenzt. Die biblische Formel »Auge um Auge, Zahn um Zahn« hat nichts zu tun mit hemmungsloser Blutrache. Der Alttestamentler Erich Zenger nennt dieses Gebot einen »rechtsgeschichtlichen Quantensprung«. Eben nicht beide Augen für eins, das ganze Gebiss für einen Zahn. Der Ausgleich für ein Unrecht soll nach dem Grundsatz »Gleiches für Gleiches« erfolgen. Das unterbricht die Spirale der Gewalt.

»Rächt euch nicht selbst, meine Lieben«, schreibt Paulus, »sondern gebt Raum dem Zorn Gottes« (Römer 12,19). Das ist nicht nur gut für den anderen, den ich am liebsten bitter büßen lassen würde. Es ist gut für mich selbst. Denn Rache besetzt den ganzen Menschen. Sie fährt in alle Glieder und beherrscht Herz und Verstand, Tun und Reden. Sie umgibt einen wie ein Gewand (Psalm 73,6). Rache »vergiftet die Lebenskraft«, so formuliert es der deutsch-schweizerische Schriftsteller und Psychologe Arno Gruen.

Warum stehen dann überhaupt solch blutrünstige Rache-Passagen in der Bibel? »Weil man im Gebet Gott alles sagen darf«, meint Kurt Schmidt, Theologe des Zentrums für Ethik in der Medizin am Markus-Krankenhaus in Frankfurt. Er schließt sich Erich Zenger an und sagt: »Man darf Gott seine Not klagen, seine Wut, seinen Hass, seine Aggression. Man darf wirklich alles sagen. Solange man es nur Gott sagt und Gott die Rache überlässt.« Schmidt fügt hinzu: »Beten bedeutet, Macht abzugeben.« Die Rache-Psalmen mögen sich für den privaten Hausgebrauch eignen, um Aggressionen abzureagieren. Aus gutem Grund stehen sie nicht im Gesangbuch und werden nicht kollektiv von der Gemeinde gebetet.

Das Alte wie das Neue Testament verwandelt die zerstörerische Kraft der Rache in eine Energie, die Leben ermöglicht. »Du sollst dich nicht rächen«, spricht Gott, »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« Und Gott bekräftigt: »Ich bin der Herr.« (3. Mose 19,18) Im Neuen Testament fragt Petrus: »Wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Reicht siebenmal?« Jesus antwortet: »Nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.« (Matthäus 18,21-22)

Nächstenliebe und Vergebung. Das ist viel verlangt in Zeiten des Terrors und der Gewalt. Rachegefühle liegen da näher. Es hilft, darüber nachzudenken, dass Jesus Bußfertigkeit bei dem voraussetzt, dem man vergeben soll. Vergebung ist also nichts, was man einem anderen frag- und klaglos hinterherwirft.

Mit Rache setzt man sich selbst schnell ins Unrecht. Man stellt sich auf eine Stufe mit dem Übeltäter. Im guten Sinne »überlegen« ist der Mensch, der alleine und mit anderen zusammen seine wildesten Gefühle Gott anvertraut – und ihn bittet, die Spirale der Gewalt zu beenden und Wege zur Gerechtigkeit zu zeigen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Evangelischen Sonntags-Zeitung.

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