"Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen" (Eph. 2,19)
Der Jude Jesus von Nazareth als der Christus der Kirche
von Ulrich Schwemer

"Es kommt niemand zum Vater - anders aber wenn einer nicht mehr zum Vater kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden)."

in: Briefe, hrsg. von Edith Rosenzweig, Berlin 1935, S. 73f; zitiert nach Thoma S. 201
Mitbürger und Hausgenossen (Eph. 2, 19)

"Denn er ist unser Friede, der aus beiden (Heidenchristen und Juden) eines gemacht hat und den Zaun abgebrochen hat, der dazwischen war, nämlich die Feindschaft" (Eph 2,14).

Wenn Juden diesen Satz lesen, werden sie fragen, ob der Zaun, der zwischen Heiden und Juden bestand und der durch den Glauben an Jesus Christus entfernt wurde, nicht besser stehen geblieben wäre. Denn Feindschaft haben sie genug erfahren von denen, die sich Christen nennen. Kaum werden deshalb Juden dem Satz zustimmen können: "So seid ihr (Heidenchristen) nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen (Juden) und Gottes Hausgenossen" (V 19).

Denn das "Bürgerrecht Israels" und den "Bund der Verheißung" (V 12) haben die Christen längst für sich selber vereinnahmt. Es hat eine Machtergreifung stattgefunden, die für die Juden spätestens seit der Errichtung des Staatskirchentums Leid, Verfolgung und Tod brachte.

Aufruf zur Bescheidenheit

Daß der Apostel mit der Bezeichnung "Mit-Bürgerschaft" die Heidenchristen zur Bescheidenheit und zur Dankbarkeit aufruft, ist vergessen worden. Für ihn war der Gegensatz zur Mitbürgerschaft und Hausgenossenschaft die völlige Gottesferne der Heiden, in der kein Wissen besteht um das Wirken Gottes in dieser Welt und sein Lenken dieser Welt.

Das Gebäude, in dem wir Christen Mitbürger sind, ist "erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist" (V 20). Sicher, dieses Gebäude würde zusammenbrechen, wenn Jesus Christus als Eckstein herausgebrochen würde. Aber umgekehrt gilt auch: Wovon soll Jesus Christus noch Eckstein sein, wenn die Propheten herausfallen würden. Was haben aber die Mitbürger, also wir Heidenchristen, gemacht? Die, mit denen sie Frieden haben, die nahe waren, haben sie an den Rand gedrängt. Dies gilt für Judenchristen und Juden. So hat beispielsweise die Bekennende Kirche nicht kompromißlos das Bürgerrecht der Judenchristen in der "Wohnung Gottes im Geist" verteidigt, geschweige denn das Bürgerrecht der Juden, die in ihrer Tora die Grundmauern für dieses Gebäude gelegt haben.

Christen erkannten in ihrer Geschichte fast nie ihre Verantwortung für Judenchristen und Juden, von ihnen setzten sie sich ab, gegen sie kämpften sie und schließlich vergaßen sie überhaupt, daß zum Gemäuer des eigenen Hauses eben auch die Propheten und die anderen Schriften des ersten Bundes gehören. So konnte die Kirche sich ein eigenes Gebäude errichten, das oft genug nur noch wenig Ähnlichkeit hatte mit dem Haus des Verfassers des Epheserbriefes, in dem Christen Mitbürger sein dürfen.

Am Eckstein herumgehauen

Vor allem wurde immer wieder an dem Eckstein herumgehauen. Dieser Eckstein Jesus Christus wurde nicht erst durch die abstrusen Verfälschungen der "Deutschen Christen" mißbraucht. Sie wollten aus ihm einen arischen Menschen machen. Schon bei den frühen christologischen Diskussionen wurde der Boden alttestamentlicher Verheißungen verlassen. Sie allein aber lassen angemessen von einer Gegenwart Gottes in Jesus von Nazareth sprechen. Stattdessen wurde mit philosophischen Gebäuden über die Einheit von menschlicher und göttlicher Natur spekuliert. Aber selbst dabei entschieden oft nicht die Argumente sondern die politische Macht.

Für das Neue Testament ist die Bindung an die alttestamentlichen Weissagungen nicht aufgehoben. Dies zeigt uns beispielhaft die Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus. Aus der Hölle bittet der Reiche, Abraham möge zumindest seinen Brüdern durch den Lazarus eine Warnung zukommen lassen. Denn "wenn einer von den Toten zu ihnen ginge, so würden sie Buße tun" (Lk 16, 30). Abraham antwortet: "Hören sie Mose und die Propheten nicht" (V 31), so hilft auch ein vom Tode Auferstandener nicht.

Dies gilt auch für die Auferstehung Jesu Christi. Für sich allein hat sie keine Verkündigungsqualität. Die Auferstehungsverkündigung muß in die Verheißungen eingebunden werden, wie sie Mose und den Propheten gegeben worden sind.
Israelitische Existenz des Lebens Jesu
Insgesamt wissen wir wenig Historisches über das Leben Jesu. Den Lebensberichten Jesu in den vier Evangelien geht es nicht um eine historische Berichterstattung. Eher sind die Evangelien eine Art Sprachschule des Glaubens.

Keine Sprachschöpfung

Die Evangelisten beginnen nicht mit einer neuen Sprachschöpfung, sondern versuchen das Ereignis Jesus von Nazareth in den Sprachformen ihrer Tradition auszudrücken. "Ohne die Erfahrungen Israels und deren Bewältigung als sprechendes Wort Gottes hätten Tod und Auferstehung den Christen die Sprache verschlagen." (Marquardt I S. 140). Im ganzen Neuen Testament kann man den Rückbezug auf das Alte Testament nachweisen. Dies beschränkt sich nicht allein auf die ältesten Texte von Paulus, der der jüdischen Tradition noch besonders nahe stand. Auch die Evangelisten, der Hebräerbrief oder die Offenbarung des Johannes können nur im Zusammenhang mit dem Alten Testament verstanden werden. Sie haben ihre Sprachgestalt von der Hebräischen Bibel her erhalten. "Warum sollten wir uns der für 'Heiden-Christen' befremdlichen Erfahrung verschließen, etwas in unserem Christengedächtnis zu vernehmen, was älter ist als das Christentum und was wir doch mit derselben Ehrfurcht zu hören haben, mit der die ersten Christen, ja Christus selbst die lebendige Stimme der Tradtition vernahm." (von Balthasar S. 25). Im Lichte des Auferstehungsglaubens sehen sie in dem gekommenen Jesus die Verheißungen erfüllt und im Warten auf den kommenden erkennen sie die Bestätigung dieser Verheißungen. So ist die gestaltende Kraft der israelitischen Verheißungsgeschichte in der neutestamentlichen Verkündigung zu erkennen und ein wesentliches Element der Lehre von Christus.

Daß auch wohlmeinende Theologen nicht darauf verzichten können, in Jesus etwas ganz Neues zu erkennen, belegt ein Satz von F. Mußner (Mußner S. 344): "An und für sich müßte Jesus mit seiner Gnadenbotschaft nicht unbedingt aus dem Rahmen des Judentums gefallen sein - denn auch das Judentum kennt und verkündet ja Gott als den gütigen und barmherzigen - aber in der unlösbaren Verbindung mit seinem Anspruch, der überall durchschimmert, zeigt sich doch in vielem, was Jesus von Nazareth sagte und tat, 'Unjudentum', das ihn im Zusammenhang seines Geschicks am Ende aus dem Judentum herausführte." Nicht erst die nachösterliche "Christologie" habe Jesus vom Judentum getrennt. Hier setzt sich kirchliche Lehrtradition gegen den erhobenen Befund durch.

Beispiel: Kindheitsgeschichten im Matthäusevangelium

Es ist kein Zufall, daß das Neue Testament mit einer Genealogie, einem Stammbaum beginnt. Der erste Vers spannt den Bogen, der die Bedeutung Jesu ausmacht: Christus - David - Abraham. Schon hier wird die doppelte Bedeutung Jesu hervorgehoben: Als Sohn Davids ist er eingebunden in die Heilsgeschichte des Volkes Israel, hier liegt die Möglichkeit, ihn im Rahmen des Messiaskönigtums als Messias zu verkündigen. Als Sohn Abrahams ist er Zeuge des Bundes Gottes mit seinem Volk Israel, den er am Sinai bestätigt hat.

Zugleich aber deutet sich hier auch schon der Taufbefehl am Ende des Evangeliums an, der die Jünger zu den Gojim, zu den Heiden sendet. Denn die Abrahamverheißung betont auch die Bedeutung für alle Völker: "in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden." (Gen 12,3b).

Mit der Genealogie wird Jesus einbezogen in die Vätergeschichte, die der Ursprung der Verheißungsgeschichte ist. Hier wird auch deutlich, daß die Jungfrauengeburt im Sinne eines natürlichen Ereignisses nicht das Problem des Neue Testamentes ist. Denn welche Bedeutung sollte eine Genealogie wohl haben, die auf Josef zielt, aber entgegen allen anderen Vorfahren bei Jesus nicht den Vater sondern die Mutter Maria nennt.

Matthäus läßt hart nebeneinander stehen den Stammbaum Jesu, der eine Vaterschaft des Josef voraussetzt und eine Aussage über die Schwangerschaft Marias aus dem Heiligen Geist. "Der Wechsel von einem aktiven Zeugen zum passiven Gezeugtwerden verändert die Blickrichtung der Aussage im Vergleich mit dem vorherigen: Dort lag das Interesse des Berichts auf den Erzeugern, hier plötzlich wird es auf einen Erzeugten konzentriert" (Marquardt II S. 82). Die Passivform ist im Hebräischen "Ausdruck für ein Handeln Gottes" (aaO). Zugleich wehrt Matthäus die heidnische Vorstellung ab, Gott könne in einer den Vätern vergleichbaren Weise Erzeuger sein (aaO).

In Mt 1,23 folgt zum ersten Mal ein Zitat, das gerne "Reflexionszitat" genannt wird, viel eher aber das die Geschichte prägende Vorwissen des Evangelisten ausdrückt. "Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben." Von diesem Jesajazitat (vgl. Jes 7,14) her entwickelt Matthäus das ganze Geschehen und deutet das göttliche Handeln, das nun mehrmals den Gang der Ereignisse vorantreibt, in der Traummitteilung an Josef.

Schon im Jesajazitat sieht er den Hinweis auf die Jungfrau (selbst wenn Jesaja eine "junge Frau" meinte). Deshalb kann er hier von der Jungfrauengeburt sprechen. Zugleich hält er die Spannung aus, daß zwei verschiedene Namen genannt werden: Jesus und Immanuel. Wichtig ist ihm die Botschaft: der Gott, der in den Schriften sich offenbart hat, kommt in diesem Kind als "Hilfe" (Jeschua, Jesus), und als "Gott mit uns" (Immanuel) in die Welt, sie zu erlösen.

Dieser Immanuel wird ausgehend von der Schrift als Messiaskönig gedeutet. Mit dem Micha 5,1 nachempfunden Satz "Und du, Bethlehem im jüdischen Lande, bist keineswegs die kleinste unter den Städten in Juda, denn aus dir wird kommen der Fürst, der mein Volk Israel weiden soll" (Mt 2,6), wird der Erlöser eingebunden in das, was die Genealogie schon sagte: aus Bethlehem, aus dem Hause Davids also, kommt der Gesalbte.

Daß die Weisen aus dem Morgenland als erste zur Anbetung kommen und damit den Herrscher Herodes verunsichern, ist vorgeprägt in Micha 4. Dort ist von den Heiden die Rede, die zum Zion kommen. Neben die Verheißung des "Gott mit uns" tritt die Verheißung des "Messiaskönigs".

"...und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten"

Die Erzählung stellt diesen Jesus von Nazareth aber noch tiefer in die israelitische Geschichte. Die Anbetung setzt ein anderes Geschehen in Gang. Gott weist Josef mit Maria und dem Kind nach Ägypten. Die Prophezeiung aus Hos 11,1 wird nun auf Jesus gedeutet: "Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn aus Ägypten." Er wird hiermit direkt in die Exodustradition gestellt, so wie Hosea seine Zeitgenossen kritisch an der Exoduserfahrung maß.

Neben den "Gott-mit-uns" und den "Messias-König" treten Mose und letztlich Abraham, von dem ebenfalls der Weg nach Ägypten erzählt wird. Der Kindermord von Bethlehem (Mt 2,16-18) steht parallel zum Kindermord des Pharao. In beiden Fällen rettet Gott wunderbar das Kind, das seinem Volk zum Heil werden soll.

Matthäus nimmt hiermit die Urbewegung des Volkes Israel auf: Von Gott aus Not geführt nach Ägypten, kehrt es zurück in das Land, das Gott Abraham gelobt hatte.

Diese Bindung an das Alte Testament läßt sich im gesamten Matthäusevangelium beobachten (z.B. Versuchungsgeschichte Mt 4,1-11, Bergpredigt mit dem Vater Unser Mt 5ff, Verklärung Mt 17,1-13, Einzug in Jerusalem Mt 21,1-11, Tempelreinigung Mt 21,12-17). "Uns wird immer rätselhaft bleiben, wie christliche Theologen auf die Behauptung kommen, die Gottesanrede 'mein Vater' sei jüdisch nicht belegt und gehöre zu Jesus allein, - die sich darin aussprechende Intimität sei etwas Neues im Gottesverhältnis Jesu, - von 'Unser' Vater spreche das Judentum, aber von 'Mein' Vater nicht." (Marquardt II S. 73 zu Jer 3,19).

Matthäus deutet Jesus vom Handeln Gottes mit Israel her. Gottes Handeln vergegenwärtigt sich in Jesus Christus für die Menschen, die mit ihm gehen, aber auch für alle Menschen, die nach der Auferweckung an ihn glauben. Wie sich Gott in verschiedenen Begegnungsweisen seinem Volk Israel offenbarte, so will er auch in Jesus von Nazareth den Menschen begegnen. Sie werden ihn aber nur erkennen können, wenn sie diese Begegnung als Vergegenwärtigung der Geschichte Israels begreifen.

Jüdisches Nein zu Christus als Vorbehalt des christlichen Glaubens

Daß gerade die Juden, die in vielfältiger Weise Gottes Gegenwart erlebten, Gottes Gegenwart in Jesus nicht erkennen können, müssen die Christen als Vorbehalt ihres eigenen Glaubens ernst nehmen. Die Juden erinnern die Christen damit stets daran, daß zwischen ihrem Glauben und ihrer Lebenswirklichkeit ein tiefer Graben liegt, der mit Dogmen und Behauptungen nicht überbrückt werden kann. Mit Israel gemeinsam erfahren Christen immer wieder aufs neue - und die israelitische Geschichte zeigt dies oft - daß "Für-wahr-Halten" und "Nicht-für-wahr-Halten" notwendige Formen christlicher Existenz sind, die erst aufgelöst werden, wenn der kommt, der schon gekommen ist im Namen dessen, "der da ist und der da war und der da kommt" (Ofb 1, 48). Von Christen wird er Christus/Messias genannt.

Sie müssen aber mit der Tatsache leben, daß Juden in Jesus von Nazareth nicht ihre messianischen Erwartungen erfüllt sehen. "Dies zusammengenommen bewegt uns dazu, Jesus als Messias Israels als eine Hoffnung zu denken, die wir Israel schuldig sind, nicht mehr als eine Erkenntnis, die Israel bisher angeblich Gott schuldig geblieben ist" (Marquardt II S. 217).

Wenn für den christlichen Glauben die israelitische Existenz Jesu grundlegend ist, ist umgekehrt nach der christologischen Existenz Israels zu fragen.
Christologische Existenz Israels
Die in der Überschrift aufgestellte Behauptung mag erschrecken. Sollen hier Aussagen über Israel von außen gemacht werden? Wissen hier Christen wieder genauer als die Juden selber, was Israel ist?

Formale Christologie

Sicher wird man sich nur tastend dieser Frage nähern können. Zu schnell werden christliche Erfahrungen und Überzeugungen Israel übergestülpt. Als erster hat wohl Hans Urs von Balthasar diese Frage gestellt. Er sagt, Israel "hat zumindest messianische Strukturen, ohne selber der Messias zu sein," (von Balthasar S. 30). Er nimmt damit biblische Aussagen auf, die auch innerjüdisch messianisch, also auf die messianische Zukunft hin, gedeutet werden. Aber überschreitet er nicht die Grenze der Beschreibung hin zur Vereinnahmung, wenn er schreibt: "Israel ist seinem Wesen nach formale Christologie: es müßte auf sich selbst sich besinnend, das werdende Christliche erkennen" (aaO S. 83). Auch wenn es nur anklingt, er vermeidet hier nicht den Eindruck, als müßte aus der Geschichte Israels die Erkenntnis eindeutig sein, daß Jesus von Nazareth eben dieses "werdende Christliche" sei. "Als 'formale Christologie' können Israel und das Judentum dann letztlich nur von Christus und dem kirchlichen Glauben her bezeichnet werden" (Marquardt II S. 58). Israel müßte also eigentlich von allein darauf kommen, daß Jesus der Messias ist.

Friedrich-Wilhelm Marquardt sieht in diesem Ansatz die Möglichkeit, "daß eine jüdische Selbstreflexion einen christologischen Sinn der eigenen Existenz auf den Grund kommen müßte und also ohne Christusoffenbarung auf Christologie stoßen könnte" (aaO S. 58).Da aber bei Hans Urs von Balthasar die Form ihre prägende Kraft von Christus Jesus her erhält, ist dieser Gedanke abgeschwächt (aaO). Es bleibt zu fragen, ob wir Christen diese Erwartung aussprechen dürfen, gerade angesichts einer Wirklichkeit, die den messianischen Erwartungen zuwiderläuft und Juden die Christen mit Recht fragen läßt, wo in unserer Welt eigentlich messianische Zeichen zu erkennen seien, wo der Anbruch des messianischen Friedensreiches zu sehen sei. Wie sollten sie da in Jesus Christus ihre eigene christologische Existenz erkennen!

So richtig der Ansatz von Hans Urs von Balthasar ist, so sicher Israel eine messianische Existenz hat, so sehr Christen in Israel eine "formale Christologie" ausmachen können, sie kann Christen doch nur zur Erkenntnis führen, daß Jesus ihnen zwar den Anbruch der messianischen Zeit gebracht hat, daß sie aber bis zum heutigen Tag in diesem Anbruch stehen, d.h. sie stehen in der gleichen messianischen Erwartung, die die Verheißungen Gottes für Israel durchdringt und die von gleichen Bildern und Strukturen geprägt ist.

Kindschaftsverhältnis Gott - Israel

Das Bild vom Gottessohn ist nicht erst mit Jesus vorstellbar, sondern das ganze Verhältnis Gott-Israel wird als ein Kindschaftsverhältnis gedeutet. (Marquardt II S. 71) weist auf Ex 4,22 hin, wo Gott sagt: "Israel ist mein erstgeborener Sohn". "Mit den beiden Worten 'Sohn' und 'Erstgeborener' sind zwei Grundworte der Christologie verwendet, nur daß sie hier auf das ganze Volk Israel angewendet werden" (aaO).

Hierbei ist wichtig, daß der "Erstgeborene" nicht leiblich aufgefaßt wird, wie es die deutsche Übersetzung nahelegt. Im hebräischen Text ist die Rede von "Erbe", was einem Rechtsverhältnis und keiner biologischen Definition entspricht (aaO S. 72). Auch aus dieser Sicht wird die Unsinnigkeit von Naturspekulationen im Blick auf die Jungfrauengeburt unterstrichen. "Israels Sohnschaft beruht auf einer Willenserklärung und Willensentscheidung, die Gott sich selbst verspricht" (aaO S. 71).

Die Vergegenwärtigung Gottes in der Verborgenheit der Wolke, die Mose überschattet, spiegelt sich wider in der Verkündigungsszene zwischen Engel und Maria (Hier steht griechisch episkiazein "Das Verb ... wird in der Bibel gebraucht für die Wolke, in der Gottes Gegenwart begegnet" <aaO S. 87>), aber auch auf dem Berg der Verklärung. Hier kommt außerdem die messianische Bedeutung Moses und Elias zum Ausdruck.

Der leidende Gottesknecht in Deuterojesaja, der in der israelitischen Tradition sowohl auf das ganze Volk Israel als auch auf den stellvertretend Leidenden gedeutet wird, prägt die Gestalt der Passionsgeschichten.

So können wir eine messianische, d.h. eine christologische Existenz Israels in seiner Beziehung zu Gott erkennen. Für Israel wird hierin aber nicht die Messianität Jesu offenbar, sondern für uns Christen der Boden, aus dem das Messiasverständnis Jesu von Nazareth gewachsen ist. Ohne diesen Wurzelgrund würde das Messiasverständnis absterben. Die messianische Existenz Israels prägt unsere Christologie und nicht umgekehrt.
Der entfremdete Christus
Die Kirche ist dem Weg, den die Evangelisten und Paulus einschlugen nicht gefolgt. Nicht die Begegnung mit Jesus, nicht das Geschehen in seinem Leben, nicht seine Verwurzelung in der jüdischen Heilsgeschichte wurden das Thema der Verkündigung von Jesus, dem Christus. Vielmehr fragte die Kirche sehr bald nach dem Wesen Christi. "Es gibt immer Christen, die mit den 'Ideen' des Christentums mehr anfangen können als mit Jesus Christus." "Mit Ideen kann man hantieren, mit der 'Person' Jesu nicht" (Marquardt I S. 108)

Israelitisches Idiom

Das Verhältnis der göttlichen und menschlichen Natur wurde der Kirche zum Problem. Ansätze der gnostischen Philosophie, die sich keine Erlösergestalt vorstellen konnte, sondern Erlösung durch Ausstrahlung von dem Höchsten erwartete, beeinflußten die Entwicklung der Lehre von Christus. In Abwehr der Gnosis wurden manche ihrer Gedanken aufgenommen, die dem eigentlichen Wesen Jesu fremd waren. Der, der nur im Rahmen der Heilsgeschichte des Volkes Israel zu verstehen war, wurde nun in ein naturphilosophisches System gezwängt, in dem seine eigene Geschichte, seine Verwurzelung im Judentum keine Rolle mehr spielte. Verloren gegangen ist das, was Friedrich-Wilhelm Marquardt das "israelitische Idiom" nennt, daß nämlich die Beziehung zwischen Gott und Mensch immer als Geschehen und nie als Begriff beschrieben wird. "Und für die Christologie heißt dies: Das 'israelitische Idiom' der Jesus-Schriften duldet so wenig Begriffsbildungen über Jesus..., wie die Hebräische Bibel Begriffsbildungen über Gott zuläßt" (Marquardt I S. 145).

Biblische Texte, die Begriffe der Gnosis verwendeten, wurden nun auf Jesus im Sinne der Gnosis verwendet. So klingt der Anfang des Johannesevangeliums mit der "Wort"(logos)-Thematik sehr gnostisch. Übersehen aber wird seine enge Anbindung an den Schöpfungsbericht im Alten Testament. "Die berühmten ersten Worte des Johannes-Evangeliums ... spielen bewußt an auf die ersten Aussagen der Hebräischen Bibel, die ebenfalls mit der Formel 'Im Anfang' beginnen" (Marquardt II S. 31).

Aus dem schöpferischen Wort Gottes, das sich in Jesus von Nazareth erneut als wirksam erweist, wird nun der Grundstock einer Seinsaussage über Jesus. Verkannt wird, daß Begriffe wie "Name" Gottes oder auch "Wort" Gottes nicht Aussagen des Seins sein wollen, sondern "Dabeiseinsweisen" Gottes bezeichnen (Marquardt II S.12). "Es handelt sich um eine antiheidnische Unterscheidung, die Gott, nach dem Zeugnis der Hebräischen Bibel, selbst getroffen hat, um sich von den Göttern zu unterscheiden und sein spezifisches Gottsein zu behaupten" (aaO).

Christologische Israelvergessenheit

Genau diese Unterscheidung wird aber in der Dogmenentwicklung der frühen Kirche aufgegeben. Wenn es auch unterschiedliche Deutungen der göttlichen Gegenwart in Christus gegeben hat bis hin zu der arianischen Überzeugung, daß Gott den Menschen Jesus in sein Wesen adoptiert hat, so ist allen gemeinsam, daß sie nach einer Seinsaussage für die Gegenwart Gottes in Christus suchen. Die großen christologischen Kämpfe der alten Kirche sind geprägt von philosophischen Entwicklungen in ihrer hellenistischen Umwelt, nicht aber von den jüdischen Wurzeln des Christusglaubens, wie sie im Neuen Testament und in der Hebräischen Bibel zu erheben sind. "Das heidnische Wort ist wesentlich 'geistige Realität nicht weltbewegende Kraft'. Die christlichen Theologen vom zweiten Jahrhundert an haben nun die biblische Wortbedeutung Jesu je länger, je mehr in diesem heidnischen Sinne gedeutet - eine Folge ihres zunehmenden Abstands von der Hebräischen Bibel " (Marquardt II S. 36).

Schon hier gilt, was die Lehre der Kirche bis in die Gegenwart hinein prägen sollte: Eine Israelvergessenheit, die gerade die Ausformung des christologischen Dogmas überaus beeinflußte. Wenn es auch in den frühkirchlichen Auseinandersetzungen um die kirchliche Lehre stets Abwehrbewegungen gegen Versuche gab, das Alte Testament als nicht mehr bedeutend für das Christentum auszuscheiden, so sind die kirchlichen Entscheidungen deshalb noch nicht von der Erkenntnis geleitet, daß die Messianität Jesu aus ihrer jüdischen Tradition verstanden werden will und nicht aus fremden Philosophien. Im 2. Jahrhundert konnte Marcion seinen eigenen Kanon bauen, in dem das Alte Testament fehlte und der im Neuen Testament nur das Lukasevangelium und zehn Paulusbriefe enthielt. Gott, der Schöpfer, war also eine negative Größe, als Demiurg vorgestellt, über der noch das Gute thronte. Die Kirche lehnte diese weitverbreitete Lehre schließlich ab, weil sie dem Glauben den geschichtlichen Boden entzog, ihn ausschließlich spiritualisierte. So konnte auch Christus für Marcion keinen Leib besitzen (Adam I S. 309).
Die Suche nach dem historischen Jesus
Auch die Erforschung des historischen Jesus hat letztlich nicht den Juden Jesus gesucht. Heute verbinden wir mit dieser Fragestellung vor allem Schriften aus jüdischer Feder, in denen der Jude Jesus in bis dahin für Christen unvorstellbarer Weise nachgezeichnet wird. Der erste Anstoß zur Frage nach dem historischen Jesus kam aber nicht von jüdischer Seite, sondern war eine Konsequenz aus der Aufklärung. Nachdem so vieles in der Welt, das bisher unverständlich war, nun durch Verstand und Wissenschaft erklärt werden konnte, war es konsequent, auch nach der historischen Wahrheit des christlichen Glaubens zu fragen. Es wurde also nach dem historischen Kern der Verkündigung von Jesus Christus gesucht.

Das Reizvolle an diesen Versuchen war: Es hätte ja sein können, daß der christliche Glaube als wahr hätte bewiesen werden können, weil man historisch die Messianität Jesu belegen könnte, bzw. nachweisen könnte, daß Jesus sich selber für den Messias gehalten habe.

Doch die vielen Versuche in der "Leben-Jesu-Forschung" im letzten Jahrhundert führten in eine Sackgasse. Am Ende des Jahrhunderts stellte Albert Schweitzer in seiner "Geschichte der Leben Jesu Forschung" schließlich das Scheitern fest. Daß tatsächlich nicht nur historisches Interesse sondern die Suche nach der Begründung des Glaubens das treibende Element war, zeigt Albert Schweitzers eigene Reaktion auf das Ergebnis seiner Forschung. Er beendete seine theologische Arbeit und wurde Mediziner. Allerdings hat er zumindest versucht, das historische Ergebnis positiv zu deuten: "Jesus ist unserer Welt ... etwas, weil eine gewaltige Strömung von ihm ausgegangen ist und auch unsere Zeit durchflutet. Diese Tatsache wird durch eine historische Erkenntnis weder erschüttert noch gefestigt" (Marquardt I S. 131 zit. S. 621, 1966).

Die Frage mußte in eine Sackgasse führen

Hätte das Ergebnis dieser Forschungen auch anders aussehen können? Nein, die Fragestellung mußte in eine Sackgasse führen, da die Voraussetzung nicht stimmte. Vorgegeben war nämlich die kirchliche Lehre von Jesus, dem Christus, in dem sich göttliche und menschliche Natur vereinigt hatten. Gesucht wurde nach dem historischen Beweis dieser kirchlichen Lehre. Dieses mußte fehlschlagen, weil die Entwicklung des kirchlichen Dogmas im Rahmen der Christologie von Anfang an den historischen Grund der Herkunft Jesu hinter sich gelassen hatte. "Nirgendwo ist uns in den alten und offiziellen Bekenntnissen der Kirche oder in der frühen theologischen Lehre Jesus in seiner Bedeutung als Jude überliefert worden" (Marquardt I S. 138). Die historische Fragestellung der Leben-Jesu-Forschung konnte sie nur auf den Juden Jesus zurückführen, der aber gerade war dem christologischen Dogma schon lange abhanden gekommen.

So mußte am Ende der Leben-Jesu-Forschung die Erkenntnis stehen, daß historisch keine Antwort gegeben werden kann auf die gestellte Frage. Dies war für viele aber mehr als nur das Scheitern einer historischen Fragestellung. Es brach für sie eine Glaubenswelt zusammen. Was historsich sich nicht bewahrheiten ließ, konnte in ihren Augen auch nicht mehr für wahr gehalten werden.

Abschied vom historischen Jesus

Ein konsequente Antwort auf dieses Scheitern war die Ablehnung der Berechtigung der Frage nach dem historischen Jesus. Am klarsten wohl in der Bultmannschule nahm man Abschied vom historischen Jesus, begrenzte seine historische Bedeutsamkeit auf das "daß" seiner Existenz und sah seine Botschaft vor allem im Kerygma des Auferstandenen, also in der Verkündigung von der Auferstehung Jesu durch die Urgemeinde.

Vor einem historischen Scheitern konnte sich dieser theologische Ansatz allerdings auch nicht bewahren; denn was wäre, wenn auch das "daß" in Frage gestellt würde, wenn als die Existenz Jesu überhaupt in Zweifel gezogen werden würde? Daß die Bultmannschule so reagieren kann, hängt mit dem gleichen Ansatz zusammen, von dem auch die Leben-Jesu-Forschung ausgegangen ist. Auch für Bultmann ist die kirchliche Lehre von Christus vorgegeben. Er sucht nur nicht mehr nach ihrer historischen Begründung. Die Israelvergessenheit dieser Lehre nimmt er unverkürzt auf. Hiervon sind auch Jesus-Bücher wie das von Günter Bornkamm geprägt. Sie können zwar sehr eindrücklich die jüdische Umwelt Jesu skizzieren, im Blick auf seine Person sind sie aber geprägt von der Voraussetzung (wie sie v.a. von Herbert Braun vorgebracht wurde), daß all das echt jesuanisch sei, was nicht jüdisch erklärbar ist.

Wiederentdeckung des jüdischen Jesus

Hier haben inzwischen jüdische Forschungen erheblich weitergeholfen, wenn auch vor allem die früheren Arbeiten ihrerseits von den christlichen, dogmatischen Voraussetzungen geprägt waren. Aber gerade die Arbeiten von Josef Klausner auf diesem Gebiet am Anfang des Jahrhunderts waren wegweisend und haben spätere Arbeiten stark beeinflußt. Das wichtigste Ergebnis dieser Arbeiten ist die Wiederentdeckung des jüdischen Jesus. Dies genau war die Blindheit der Leben-Jesu-Forschung, daß sie den jüdischen Jesus nicht erkannte, nicht erkennen konnte, weil sie ihn nicht erkennen wollte. Sie wollte ihn nicht erkennen, weil sie ihn im Blick auf die kirchliche Lehre der Gottmenschlichkeit Jesu nicht erkennen durfte. "Daß man von dem Juden Jesus historisch offenbar 'mehr' wissen und sagen kann als in rein philologischer Analytik, stützt gewiß nicht den christlichen Glauben, denn er hängt nicht von historischen Quantitäten ab. Aber er gibt der Christologie doch eine bisher vernachlässigte Dimension vor: Jesus hat seine Geschichte und damit seine Bedeutung als Sohn des jüdischen Volkes" (Marquardt I S. 138).

So waren für Christen die jüdischen Erkenntnisse zunächst sehr erschreckend. Wo blieb dann das Besondere an Jesus? Wäre also statt einer Christologie eher eine Jesulogie zu gestalten?
Jesulogie - Antwort auf die Leben-Jesu-Forschung?
Der Gedanke statt einer Christologie eine Jesulogie zu suchen, speist sich aus zwei Quellen: Einerseits entfernte sich das christologische Dogma zunehmend von Jesus von Nazareth. Der historische Jesus war für die Ausgestaltung des Dogmas von ihm kaum noch nötig. Andererseits zeigen die neueren, vor allem jüdischen Forschungen zum Leben Jesu, wie stark Jesus in seiner jüdischen Umwelt zu Hause ist. Er strebte keine radikale Wende im Blick auf das Judentum an, sondern sah gemäß der jüdischen Überlieferung das Gottesreich angebrochen.

Aus der Notwendigkeit zu einem sachgemäßen Bezug auf das biblische Zeugnis in der Dogmatik und den neuen Denkmöglichkeiten eines in seinem Judentum beheimateten Jesus von Nazareth entsteht der Gedanke, daß nicht eine spekulative Lehre des erhöhten Christus sondern eine Lehre des irdischen Jesus von Nazareth zu formen sei.

Dies kann ein bestechender Gedanke sein. "Es gibt... Theologen, die sagen: Der historische Jesus muß dem Glauben genug sein" (Marquardt I S. 132).Die tiefe Spaltung zwischen Judentum und Christentum könnte so überwunden werden. Die Gedanken Jesu könnten im Zusammenhang der jüdischen Diskussion betrachtet und genau genommen als ein kleiner Ausschnitt der talmudischen Diskussion verstanden werden. Die Lehre vom nahenden Gottesreich könnte ausgebaut, die Messianität Jesu im Rahmen jüdischer Messias-, Menschensohn- und Knecht-Gottes-Erwartungen ausgelegt werden.

Offene Fragen

Aber es bleiben Fragen offen: Warum soll ausgerechnet dieser Jude Jesus von Nazareth Gründer des Christentums sein, warum nicht ein anderer Rabbiner, warum nicht Bar Kochba, dem doch auch messianische Qualitäten zugesprochen wurden. Daß die in ihn gesetzten Erwartungen sich nicht erfüllten, spricht nicht gegen ihn. Denn das gleiche gilt auch für Jesus: "Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde" (Lk 24, 21), sagen die Jünger auf dem Weg nach Emmaus.

Und hat der historische Jesus von Nazareth wirklich seinen Wirkungskreis und seine Lehre schon so weit über das Judentum hinausgeführt, daß man sich mit Recht auf die biblische Verheißung der Völkerwallfahrt zum Zion zurückbeziehen kann? Welchen Stellenwert könnten dann seine Wunder- und Zeichenhandlungen haben? Müßten sie nicht unter historisch nachvollziehbaren Kritierien hinterfragt werden und würden z.T. als unhistorisch abgelehnt werden müssen.?

Vor allem aber: Wie ist die Lehre von einem Menschen möglich, der als Mensch unter Menschen, mit all seinen Unzulänglichkeiten, seiner Angst, seinem Zorn, seiner Verzweiflung, seiner Liebe und Freude gelebt hat? Er wäre dann nur dieser besondere Mensch, vielleicht uns Normalmenschen etwas überragend. Aber an einen solchen glauben, in ihm mehr sehen als in den anderen Großen der Weltgeschichte, das fällt schwer.

Schließlich müßte eine solche Lehre von Jesus von Nazareth immer unter dem Vorbehalt stehen, daß die Geschichtsforschung einen ganz anderen Menschen zutage fördert als den, der der Lehre von ihm zugrundeliegt. Und was dann?

Am Kreuz scheitert jede Jesulogie

Eine christliche Lehre von Jesus von Nazareth kann nicht absehen von der Erfahrung der Auferstehungszeugen. "Wie im Alten Testament berufene Gottesmänner, Mose und die Propheten, eine Theophanie empfingen und dann ausgesandt wurden, so sind sie im Ostergeschehen 'vorerwählte Zeugen' (Apg 10,29ff), denen in einer Christophanie Auftrag und Sendung zuteil wird" (Kraus S. 15).

Die Auferstehungszeugen sind es, die eine Jesulogie unmöglich machen. Genau genommen hatten sie ähnliches bis zum Kreuz Jesu ja selbst gemacht. Sie waren mit ihrem Lehrer gegangen. Sie erwarteten von ihm etwas besonderes, ohne es schon genau beschreiben zu können. Ihr Bekenntnis zu Jesus, dem Messias ist noch sehr vorsichtig, aber letztlich erwarteten sie wohl von ihm die durchgreifende Tat, die ihn als den Messias, der das beginnende Gottesreich offenbarte, ausweisen sollte.

Diese ihre private Lehre von Jesus, ihre Jesulogie zerbrach am Kreuz - und an diesem Kreuz müßte auch jede heutige Jesulogie scheitern.

Erst die Begegnungen mit dem Auferstandenen gaben ihnen eine neue, andere Deutungsmöglichkeit seines Lebens, Leidens und Sterbens. Diese Deutungsmöglichkeit nun meinte nicht das absolut Neue, das nur in direktem Rückgriff auf die Schöpfung und mit der Lehre der Präexistenz Jesu zu deuten war. Vielmehr - und das hat Friedrich-Wilhelm Marquardt klar herausgearbeitet - erkennen sie in den Begegnungen mit dem Auferstandenen die eigene Tradition, aus der sie und Jesus hervorgegangen sind, neu auf Jesus hin zu deuten.

Dies kann bis zu einem gewissen Grade dann doch wieder Jesulogie sein, insofern bestimmte Erinnerungen an das Wirken Jesu nun im Horizont der Heilsgeschichte Gottes mit Israel neu gesehen werden können. Aber der Glaube, daß in Jesus die Verheißungen des ersten Bundes in ihrer Fülle zum Tragen gekommen sind, ist nicht allein aus dem Leben Jesu abzuleiten. Ganz im Gegenteil, unter dem Gesichtspunkt des historischen Jesus von Nazareth ist das Urteil des Mißlingens schon gesprochen. Und wenn Juden bis zum heutigen Tage dies so sehen und sagen, haben sie recht.

Verheißungen im Licht der Auferstehung

Allein die Erfahrung der Auferstehung Jesu läßt die Verheißungen und Jesu Leben in einem neuen Licht sehen. Für die ersten Christen öffnete sich hiermit ein Horizont, der noch nicht endgültig erfaßt werden kann und deshalb immer die Aussagen hart nebeneinander stellt: Das Leben Jesu ist historisch betrachtet vom Mißlingen geprägt, aus der Erfahrung der Auferstehung aber erfüllt sich in ihm die Zeit. Diese Spannung gilt es auch heute noch auszuhalten. Es ist die Spannung der Jünger auf dem Weg nach Emmaus.
Christus, der Wegbegleiter (LK 24, 13-35)
Weg ist nicht gleich Weg. Sich fortbewegen und doch nicht vorankommen, das ist der Weg der Emmausjünger. Sie erzählen einander von all den Geschichten. Sie wissen schon, was sie eigentlich erwarteten. Sie wiederholen nicht nur das nackte Geschehen der Gefangennahme Jesu, seines Prozesses, seiner Kreuzigung, nicht nur das schmähliche Versagen der Jünger. Nein, ihre Erwartungen waren vorgeprägt in ihren Schriften, in der Tora, bei den Propheten. Jesus selbst hatten sie als solchen erkannt. In seinen "Taten und Worten" (V 19) war er ihnen als Prophet vorgekommen. So wie die Propheten aus der Geschichte ihres jüdischen Volkes, des Volkes Israel.

Doch so schwer ihre Füße gingen, bleischwer von der Trauer und Enttäuschung, so schwerfällig waren auch ihre Gedanken. Die Worte ihrer Schriften wurden ihnen angesichts des Endes Jesu zu Worthülsen, ohne Sinn und Verstand im Blick auf Wirken und Sterben dieses Jesus von Nazareth.

Ihre Gedanken verharrten in ihrer vorgeprägten Bahn, resigniert. Sie konnten die Zeichen der Hoffnung nicht erkennen, die sich gerade im Leid, im Tod auf ihrem Weg andeuteten. Es blieb ihnen verschlossen, daß gerade zum Wesen des Prophetischen nicht nur die machtvolle Tat, das wirksame Wort, sondern auch der eigene Einsatz der ganzen Person gehörte.

Als Juden sehen sie ihre konkrete Hoffnung auf den Anbruch des Gottesreiches in Jesus eindeutig nicht erfüllt. Im Blick auf die Geschichte der Kirche stehen sie für die, die wohl ihre Bibel kennen, sie aber eingemauert haben in ihre feste, starre Lehre. Die mit dogmatischen Begriffen das Wirken des Geistes eingefangen haben und letztlich genauer als die Schrift, ja, noch genauer als Gott wissen, was er eigentlich will. Und wenn die Geschichte nicht dazu paßt, bricht ein Glaubensgebäude zusammen. Eigentlich hätten sie eine andere Möglichkeit: "Wer Gottes Wege mit Israel kennt, braucht sich doch von Ostern nicht verwirren zu lassen, sowohl an Karfreitag wie an Ostern wiederholte sich in Jesus von Nazareth nur das innere Gesetz der Geschichte Israels, will sagen: Gottes Wirksamkeit in ihr." (Marquardt II S. 291).

Aber diese Verwirrung ist nicht mit Worten aufzulockern. Hinweise auf die einschlägigen Aussagen der Schrift helfen nicht weiter, wenn die Ohren nicht geöffnet sind für ihre Botschaft. Erst das existenzielle Erinnern kann das Verstehen eröffnen. "Inhaltlich entscheidend ist, daß diese Schriftöffnung als ein Ereignis geschildert wird und daß es sich um ein österliches Lebensereignis handelt" (aaO S 293).

Jesus vergegenwärtigt den Jüngern die Geschichte Israels, erinnert mit einer Geste an die Sklaverei Israels, an den Auszug, die Wüstenwanderung und auch das Leiden der Propheten: Er feiert mit ihnen das Mahl der Befreiung. "Ostern ist eine alttestamentlich zu verstehende Geschichte" (aaO). Da weht der Geist Gottes durch den Raum. Das Körperliche tritt zurück, indem die innere Sicht des äußeren Ereignisses eröffnet wird. Doch diese innere Sicht setzt selber wieder körperlich in Bewegung, die Erfahrung ist keine private, sie gehört nicht in die stille Herzenskammer, sondern sie will weitergesagt werden, bedarf des Gemeinschaftsereignisses.

Der Jesus von Nazareth wird den Jüngern von Emmaus nun der, der die Erwartungen der Schrift wieder lebendig werden läßt. Was sie schon immer wußten, aber nicht verstanden, wird ihnen nun gedeutet: in der Erinnerungskraft ihres jüdischen Glaubens. Auf sie hat der Auferstandene hingewiesen.

Der Evangelist Lukas läßt die Schriften des Volkes Israel als gestaltende Kraft des Verstehens der Auferstehung Jesu zu. Der Exodus des Volkes Israel wird nicht ersetzt sondern vergegenwärtigt sich in der Auferstehung Jesu. "Besonders wichtig erscheint uns die Unumkehrbarkeit des Verhältnisses zwischen Jesus und den Schriften. (...) Und so geht es nicht nicht um eine christliche Deutung des Alten Testaments, sondern um ein alttestamentliches Verstehen Jesu" (aaO S. 295) "Über ein jüdisches Kernanliegen darf keine Christologie hinwegschauen: Die Rolle Christi darf die einzige Herrschaft Gottes nicht ins Zwielicht bringen" (Thoma S. 199)
Christologischer Neuansatz in der Gemeinde
Schon immer war kirchliche Lehre gebunden an das Lob Gottes. Auch wenn sich die Lehre oft verselbständigte, war ihr Ausgangspunkt wie auch ihr Ziel die Anbetung. Auch die Bekenntnisse der Kirche zielten auf die angemessenen Formen der Anbetung.

Christologie und Gebet

Im Gottesdienst wird neben der Predigt besondere Aufmerksamkeit den Gebeten zugewendet werden müssen. Die Grundformel des Kollektengebetes mit einer Anrede an Gott und einer christologischen Schlußformel sollte auch für andere Gebete vorausgesetzt werden und das Vater Unser betont aus seiner jüdischen Umwelt her begriffen werden.

Damit wird der Gottesdienst kein jüdischer Gottesdienst und die Lehre keine jüdische Lehre. Denn in jedem Fall bleibt der Glaube, daß in Jesus von Nazareth der Messias in unsere Mitte gekommen ist und sein Kommen angesagt hat, bleibend trennend zwischen Juden und Christen. Aber: Gottesdienst und Lehre müssen dann nicht mehr antijüdisch sein. Christlicher Glaube lebt nicht von den Antithesen sondern vom Hören auf die Schrift, in der Gottes Handeln an Israel und der Menschheit bezeugt ist.

Christologie und Ordination

So ist auch der Beschluß der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) vom Dezember 1991 mehr als einfach eine Erweiterung des Grundartikels, wenn sie sagt: "Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen bezeugt sie (die EKHN) neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein."

Auf diesen Satz werden in Zukunft Pfarrerinnen und Pfarrer ordiniert. Sie werden also wahrnehmen müssen, daß das Bekenntnis zu Jesus Christus nicht losgelöst werden kann von Jesu Judesein bis in Tod und Auferstehung hinein. Dieser Satz muß mit Leben erfüllt werden von einer Christologie her, die nicht mit Seinsaussagen versucht, das Wesen der göttlichen und menschlichen Natur Jesu auszusagen, sondern die ausgeht von seiner israelitischen Existenz. Von ihr kann nur die Rede sein, wenn nicht zugleich den Juden ihre bleibend gültige israelitische Existenz bestritten wird.

Christologie und Unterricht

Es gilt nun, die knappe Aussage dieses Satzes umzusetzen in die kirchliche Verkündigung. Im Religions- und Konfirmandenunterricht müssen Klischees überwunden werden, die meinen, Jesus immer nur als den ganz Anderen, den Unbequemen, den Unruhestifter, den Moralischen usw. verkündigen zu müssen. Jesus von Nazareth als Messias zu verkündigen, heißt, ihn aus seiner jüdischen Tradition heraus und nicht gegen sie zu lehren. Diese Voraussetzung gilt es für alle theologischen Ansätze zu überprüfen: die tiefenpsychologische Deutung der Schrift, die feministishe Theologie, die Genitivtheologien und auch die sozialethischen Ansätze.

Das Neue Testament selber setzt den Maßstab für einen angemessenen Umgang mit der Deutung Jesu von Nazareth als Messias. Jede Theologie muß sich fragen, ob sie dem neutestamentlich bezeugten Anspruch Gottes als Einer und Einziger gerecht wird. Paulus bezeugt in 1. Kor 15, 20ff die Einheit, wie sie am Ende der Zeiten offenbar werden wird: "Wenn aber alles untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem" (V 28).
In Stein gemeißelte Erinnerung
In dem Städtchen Bad Schandau im Elbsandsteingebirge überraschte mich in der Kirche ein Altar, der ursprünglich in der Kreuzkirche in Dresden gestanden hatte. Er überstand die Zerstörung des Krieges, weil er nach einem früheren Brand der Kreuzkirche nach Band Schandau gebracht worden war.

Zunächst schien er mir nicht außergewöhnlich. Das Altarbild stellt als Steinrelief eine Abendmahlsszene dar. Jesus sitzt in der Mitte seiner Jünger, bricht mit ihnen das Brot. Judas ist, wie stets bei solchen Darstellungen, an seinem Geldbeutel, dem "Blutlohn", zu erkennen. Er ist der einzige Jünger, der mit dem Rücken zum Betrachter gewendet dargestellt wird.

Doch dann gleitet mein Blick hinunter zum Sockel des Altars. Scheinbar wiederholt sich die oben dargestellte Geschichte. Wieder ist eine Mahlzeit dargestellt, wieder steht eine Person im Mittelpunkt des Geschehens, es fehlt allerdings der Verräter. Die Personen sind deutlich in Eile. Als führe ein Wind durch den Raum, bauschen sich die Gewänder der Teilnehmer an der Mahlzeit. Eine Gemeinde im Aufbruch, das Volk Israel beim Passamahl, dem letzten Mahl in der Sklaverei. Schon wie im Aufbruch, als würde die Bewegung des Auszugs aus Ägypten sich schon in den Kleidern abzeichnen, feiert die Gemeinde ihr Passamahl. Geprägt von dem, was auf sie zukommt, von Aufbruch, von Hoffnung auf Freiheit, von Vertrauen in Gottes Führung.

Spüre ich ähnliches nicht oben in dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern? Doch nein, da weht kein Wind durch den Raum. Da drückt sich nicht Hoffnung auf Zukunft, auf Freiheit, auf Führung durch Gott aus. Da thront Christus inmitten der Seinen, schon fast in der Pose des Weltherrschers. Seine Jünger möchten möglichst nah am Meister sitzen. Sattheit strahlt dieses Bild aus, im Besitz der Wahrheit wähnt man sich, recht hat man schon immer gehabt. Man ist nicht am Anfang eines Weges sondern an seinem Ende: die Kirche.

Wenn da nicht der eine Schönheitsfehler wäre: Der mit dem Rücken zum Betrachter, mit dem Geldbeutel, der Verräter. Der Betrachter kennt ihn, kennt sein Urteil. Es ist allemal der Andere, der mich nichts angeht. Wirklich? Ist er mir nicht näher als mir lieb ist? Er verrät diesen Jesus, diesen Juden. Er sieht in ihm nicht den Erwählten Gottes. Er spürt nichts von den Verheißungen. Er erkennt nicht den bleibenden Bund Gottes mit ihm, dem Juden, mit ihnen, den Juden.

Würde er sich umdrehen, wäre es mein Angesicht, das mich anstarren würde? Wäre es vielleicht das wahre Gesicht der Kirche, die ihn verraten hat, indem sie ihn entwurzelte aus seinem Judentum; die den Juden ihre Daseinsberechtigung absprach und so zum Wegbereiter ihrer Vernichtung wurde?

Voller Entsetzen kann ich mir nur vorstellen, was geschähe, wenn dieser Mensch sich umdrehen würde. Alle Sattheit, alle Rechthaberei, alle Starrheit müßte weichen. Sie würden zerbrechen, zu Staub werden.

So wende ich mich zurück zu dem Bild des Aufbruchs. Von hier aus ist auch Jesus aufgebrochen. Das war seine Gemeinschaft, die hatte Zukunft, Visionen, Vertrauen in den Gott, der gegen alles menschliche Murren sein Volk durch alle Wüsten führen will.

Literatur:

Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden - Eine Christologie Band 1, München 1990

Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden - Eine Christologie Band 2, München 1992

Hans Urs von Balthasar, Einsame Zwiesprache - Martin Buber und das Christentum, Köln/Olten 1958

Franz Mußner, Traktat über die Juden, München 1979

Clemens Thoma, Christliche Theologie des Judentums, Aschaffenburg 1978

Hans Joachim Kraus, Aspekte der Christologie im Kontext alttestamentlich-jüdischer Traditioen, in: Edna Brocke, Jürgen Seim ed., Gottes Augapfel - Beiträge zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, Neukirchen-Vluyn 1986

Alfred Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte Band 1: Die Zeit der alten Kirche, Gütersloh 1965

Vortrag gehalten am 25. Oktober 1992 anläßlich des 40jährigen Bestehens des "Evangelischen Arbeitskreises Kirche und Israel in Hessen und Nassau"
aus: Materialdienst 6/1992

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