Juden und Christen - Beteiligte einer Verheißung
Lernschritte im jüdisch-christlichen Gespräch

von Martin Stöhr

Die Theologie hat an der Produktion von Vorurteilen mitgewirkt.

Leo Baeck:
"Die Hoffnung für die Menschheit ist die Hoffnung für Israel. Das Wort Gottes an die Menschheit ist kein anderes als das Wort Gottes an sein Volk. Der Weg zu dem Ziel, das Gott den Jahrtausenden setzt, geht von der Erwählung Israels aus... Wenn der ganzen Menschheit Heil beschieden sein wird, so wird es kein anderes sein als das, welches vom Zion ausgegangen und für Zion zum Segen ist. Die Weltreligion steht in der Religion des Judentums. Je lebendiger der Universalismus betont wurde, umso bestimmter durfte und mußte auch die besondere Aufgabe der Stellung Israels hervorgehoben werden."1

1. Schuldbekenntnis und Schulderkenntnis

Die Suche nach einer Neubestimmung des Verhältnisses von Juden und Christen beginnt auf christlicher Seite erst nach der Ermordung von sechs Millionen Juden, zu der die übergroße Mehrheit der Christen und Nichtchristen geschwiegen hatte. Die Kirche des Wortes mußte durch einen von ihr mitverantwortenden Massenmord belehrt werden, die Bibel neu zu lesen, das ist und bleibt die Schuld aller Kirchen:

"Jene sechs Millionen Juden stehen deshalb auch auf dem Schuldkonto der Christenheit und der Kirche, und nicht etwa nur auf dem der NS-Partei, der SS oder gar - wie man heute gerne will - jenes Massenmörders allein. Ja, die Schuld ist auf Seiten der Kirche am allergrößten, weil sie wissen mußte und wußte, was sie tat, als sie nichts tat."2

Dietrich Bonhoeffer hat auf den unauflösbaren Zusammenhang von Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis hingewiesen. Beides ist nötig, um Schritte in eine neue Zukunft zu tun. Dabei hat jedes Kalkulieren (über die Zahl der Ermordeten, über die Taten und Untaten anderer etc.) keinen Platz.

"Das Bekenntnis der Schuld geschieht ohne Seitenblick auf die Mitschuldigen. Es ist streng exklusiv in dem es alle Schuld auf sich nimmt. Wo noch gerechnet und abgewogen wird, dort tritt die unfruchtbare Moral der Selbstgerechtigkeit an die Stelle des Schuldbekenntnisses angesichts der Gestalt Christi."3

Allerdings ist der Frage stand zu halten, ob der Mut der am Dialog Beteiligten wirklich reicht, sich der ganzen "Wahrheit über die christlich-jüdische Beziehung zu stellen." Dabei handelt es sich um die "jüdische Erfahrung in der Mitte der Christenheit durch die ganze Geschichte".4

Asymmetrisch ist die Geschichte zwischen Juden und Christen: Die Schuld der Christen und Kirchen ist in ihrer Praxis und in ihrer Theoriebildung groß. Sie gehört in die Vorgeschichte von Auschwitz.

2. Töten beginnt mit Vorurteilen

Der Beginn des jüdisch-christlichen Gespräches nach 1945 ging häufig von der Annahme aus, es handele sich "nur" um ein ethisches Versagen. Es wurde zuerst gefragt, wie Vorurteile und Fehlverhalten gegenüber Minderheiten entstehen und wie sie zu überwinden sind. Das jüdische Volk stand exemplarisch für viele Minderheiten und deren negative Erfahrungen mit den jeweiligen Inhabern von Macht und Mehrheit. Theologisch ist hier die Einhaltung des Zweiten Gebotes gefragt, sich kein Bildnis, weder von Gott noch von seinen Geschöpfen, zu machen. Darüber hinaus ging es um das Gebot, Fremde nicht zu diskriminieren, da man selbst von Fremdherrschaft befreit wurde (3. Mose 19,34). Diese Aufgabe bleibt eine noch weithin ungelöste Aufgabe. Die Theologie hat an der Produktion von Vorurteilen mitgewirkt z.B. durch die Reduktion des Alten Testamentes auf den Satz "Auge um Auge, Zahn um Zahn", die bis in die journalistische Tagesarbeit spürbar ist. Vor allem aber auch durch die Identifikation der jüdischen Erneuerungsbewegung der Pharisäer mit dem gesamten Judentum und deren negativen Charakterisierungen.

"Sie (die Pharisäer) dachten sich Gott als Despoten, der über dem Zeremoniell seiner Hausordnungen wacht, er (Jesus) atmete in der Gegenwart Gottes. Sie sahen ihn nur in seinem Gesetze, das sie zu einem Labyrinth von Schluchten, Irrwegen und heimlichen Ausgängen gemacht hatten ... Sie besaßen tausend Gebote von ihm und glaubten ihn deshalb zu kennen; er (Jesus) hatte nur ein Gebot von ihm und darum kannte er ihn. Sie hatten aus der Religion ein irdisches Gewerbe gemacht - es gibt nichts abscheulicheres - er (Jesus) verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele."5

Professor Werner Ross, München, bat im Rheinischen Merkur/Christ und Welt (6. Februar 1987) um Verständnis für das lange Gedächtnis der Juden. Er fügt hinzu: "Dieses ist nicht zu vergessen, und da die Juden keine Christen sind, kann ihnen auch das Vergeben nicht zugemutet werden". Wieviele Worte der Hebräischen Bibel, die Eingang in unsere Gebete, Liturgien und Absolutionsformeln, z.B. beim Abendmahl, gefunden haben, stammen aus dem Alten Testament und sprechen vom Vergeben.

Der Oberbürgermeister von Neuss hat bei der Gedenkfeier zum 9. November, die versammelten Juden und Christen, aber besonders die Juden angesprochen:

"Wir sind hier in der überwiegenden Mehrheit Christen, für die Verzeihen, Nächstenliebe und gegenseitiges Verständnis wesentliche Merkmale sind. Auge um Auge und Zahn um Zahn sind Begriffe, die ein Zusammenleben nur erschweren. Darum habe ich die aufrichtige Bitte, daß sich eine derartige Auseinandersetzung nicht wiederholt. Auch in Zukunft werden Pannen und unglückliche Äußerungen nicht zu vermeiden sein..." (Frankfurter Rundschau v. 11.11.86).

Er spielt auf die Bemerkung des Bürgermeisters von Korschenbroich an, Graf Spee, der zur Aufbesserung der Gemeindekasse "mal wieder einen reichen Juden" erschlagen wollte. Die Vorurteile theologischer Art sind deswegen so schlimm, weil sie auch bei Nichtchristen in säkularisierter Form Anklang und Benutzung finden. Sie sind zählebig.

3. Die Verführung durch die Macht

Denke ich über die Frage nach, warum denn Vorurteile für Minderheiten lebensgefährlich wurden, dann müssen Christen und Kirchen sich daran erinnern lassen, wie sehr sie sich in die römische Reichsmacht und Reichsideologie oder später in deutschnationale Obrigkeitstradition haben einbinden lassen. Die Folgen unter Kaiser Konstantin ab 313 n. Chr. waren, daß christliche Lehrsätze Reichsgesetze wurden (z.B. Christologie) und damit waren Juden und andere Dissidenten aus dem Corpus Christianum ausgeschlossen. Hinzu kam später, daß Politikverachtung und Gehorsamsbeachtung als christliche Tugenden entsprechend gepriesen wurden.
Gegen die angebliche Eigengesetzlichkeit von Politik, Ökonomie oder Wissenschaft haben Christen und Kirchen sich einzumischen.
Kirchenkampf muß als ein Kampf um die Rechte der Menschen geführt werden.
Das Doppelgebot der Liebe ist die Zusammenfassung der Hebräischen Bibel und des jüdischen Glaubens.
Theologisch geht es hier um das Ernstnehmen des Ersten Gebotes, keiner vorletzten Autorität, weder Staat noch Nation noch Rasse, neben der letzten und ersten Autorität des Einen Gottes, Geltung zu verschaffen. Er allein befreit Menschen von falschen Bindungen. Staats- und Gesellschaftskritik waren bei Christen vielfach verpönt. Eine Rechtfertigung schufen sie sich für diese Haltung durch eine Zwei-Reiche-Lehre, die der im November 1941 von Deutschen ermordete dänische Widerstandskämpfer und lutherische Pfarrer Kai Munk so charakterisiert hatte:

"Es ist uns Christen zur Pflicht gemacht worden, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und wir haben dem Befehl gehorcht; wir waren die gesetzestreuesten Bürger des Staates. Aber wenn der Kaiser mehr forderte, als was ihm zukam, so war niemand aufrührerischer als wir. Nicht zu unterdrücken waren wir, Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhundert, bis wir siegten. Wenn er von uns verlangte, daß wir schwarz als weiß, Tyrannei als Freiheit, Lüge als Wahrheit, Übergriff und Gewalt als Gerechtigkeit bezeichnen sollten, so antworteten wir ihm: Es steht geschrieben: Du sollst keine andern Götter neben mir haben. Das tönt alles sehr schön; aber das Christentum soll unpolitisch sein, behauptet man. Die Kirche dürfe sich mit nichts anderm befassen als mit der Erlösung unserer Seele. Das ist mir eine nette Religion. Wenn nur der kleine Meier sich einrichten und in den Himmel kommen kann, was in aller Welt geht ihn die Welt sonst an? Laß sie zur Hölle fahren. Das ist eine Religion, die dem Kaiser gefällt; er will ihr gerne staatliche Unterstützung gewähren. Diese Religion wird ihm nie in die Quere kommen. Es ist eine Religion, die Gotteslästerung heißt. Die Wahrheit ist nicht ruhig und würdevoll und erhaben; sie beißt und reibt und schlägt drein. Die Wahrheit ist nicht für vorsichtige Menschen; sie brauchen nicht die Wahrheit, sondern ein Sofa."6

Gegen die angebliche Eigengesetzlichkeit von Politik, Ökonomie oder Wissenschaft haben Christen und Kirchen sich einzumischen. Deshalb ist in der Christenheit eine Tradition neu zu lernen, die die Dinge beim Namen nennt, die widerspricht, protestiert, demonstriert und Widerstand leistet. Der italienische Chemiker und Überlebende von Auschwitz, der im vergangenen Jahr Selbstmord beging, Primo Levi, schrieb in seinen Erinnerungen:

"Wir kamen im Turnsaal der Talmud-Tora-Schule zusammen und brachten uns gegenseitig bei, wie man in der Bibel Recht und Unrecht und die das Unrecht besiegende Kraft wiederfindet."7

Diese biblische Tradition ist neu zu lernen und zu lieben. Ich zitiere Konrad Adenauer, der an Pastor Dr. Custodis am 23.2.46 schrieb:

"Man kann also wirklich nicht behaupten, daß die Öffentlichkeit nicht gewußt habe, daß die nationalsozialistische Regierung und die Heeresleitung ständig aus Grundsatz gegen das Naturrecht, gegen Haager Konvention und gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verstießen. Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das kein Schade, im Gegenteil."8

Deswegen ist an die Tradition auch der Bekennenden Kirche zu erinnern. Warum gibt es heute nicht Selbstverpflichtungen, im Widerstand gegen Unrecht und Gewalt zusammenzustehen? Selbstverpflichtungen, wie sie die Bekennende Kirche im Oktober 1933 formulierte:

"1. Ich verpflichte mich, mein Amt als Diener des Wortes auszurichten, allein in der Bindung an die Hl. Schrift und an die Bekenntnisse der Reformation als die rechte Auslegung der Hl. Schrift. 2. Ich verpflichte mich, gegen alle Verletzung solchen Bekenntnisstandes mit rückhaltlosem Einsatz zu protestieren. 3. Ich weiß mich nach bestem Vermögen mit verantwortlich für die, die um welchen Bekenntnisstandes willen verfolgt werden. 4. In solcher Verpflichtung bezeuge ich, daß eine Verletzung des Bekenntnissstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche Christi geschaffen ist."

An dieser Stelle ist eine Lehre aus dem "Kirchenkampf" zu ziehen: Er darf nie wieder als ein Kampf um die Rechte der Kirchen, sondern immer und zuerst als ein Kampf um die Rechte der Menschen geführt werden.

Was 1936 in der Denkschrift der vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche an Hitler geschrieben wurde und was nicht recht zum Zuge kam, ist noch immer ein gutes Beispiel davon, wie Kirchen und Christen die Dinge beim Namen zu nennen haben und für die Verfolgten einzutreten haben:

"Wenn dem Christen im Rahmen der nationalsozialistischen Weltanschauung ein Antisemitismus aufgedrängt wird, der zum Judenhaß verpflichtet, so steht für ihn dagegen das christliche Gebot der Nächstenliebe... Das Evangelische Gewissen, das sich für Volk und Regierung mitverantwortlich weiß, wird aufs härteste belastet durch die Tatsache, daß es in Deutschland, das sich selbst als Rechtsstaat versteht, immer noch Konzentrationslager gibt und daß Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei jeder richterlichen Nachprüfung entzogen sind."9

4. Gemeinsamkeit von Juden und Christen

Überraschend wurde für viele Christen in den Anfängen des jüdisch-christlichen Gespräches entdeckt, daß die Wurzeln des christlichen Glaubens im jüdischen Volk und in seinen reichhaltigen Traditionen stecken. Das ist nicht nur historische Gegebenheit, sondern gilt als eine Aussage für bleibende Gemeinsamkeiten heute. Die EKD-Studie Christen und Juden von 1975 nennt folgende Gemeinsamkeiten: Der Glaube an den selben Gott, die Heilige Schrift, die gemeinsame Aufgabe, Gottes Zeugen in der Welt für Liebe und Gerechtigkeit, Befreiung und Menschenwürde, Weltverantwortung und Hoffnung, Frieden und Erlösung zu sein. Daß Jesus Jude ist, taucht unter der abendländisch-hellenistischen Übermalung wieder auf. Die biblische Botschaft ist reicher als sie die abendländisch eingeführte Auslegung uns übermittelt hat. Wir müssen also protestieren, wenn im Handbuch der christlichen Ethik10 zu lesen ist, daß das Liebesgebot von Jesus stamme. Das Doppelgebot der Liebe ist die Zusammenfassung der Hebräischen Bibel und des jüdischen Glaubens. Warum haben wir Christen Rö 13,1 höher geschätzt als jene Verse aus demselben Kapitel, die davon sprechen, daß die Liebe des Gesetzes Erfüllung ist - ein gut jüdischer Grundsatz? Gottes Wahrheit ruht in dieser Welt auf zweier Zeugen Mund, auf dem des jüdischen Volkes und auf dem der Kirche. Ist die Kirche dieser Aufgabe gerecht geworden?

Neu zu lesen sind Rö 9-11 und all jene Stellen, die über die Verheißung, die für Israel nie widerrufen wurde, sprechen, z.B. Rö 15,8 u. 9 oder Rö 9,1-5. Warum haben wir Christen nicht wahrgenommen, daß im Morgengebet am jüdischen Versöhnungstag, dem Yom Kippur, jeder Jude betet: "Unser Vater, unser König, erbarme dich und antworte uns, denn wir haben kein Verdienst." Warum haben wir die Rechtfertigungslehre in der jüdischen Tradition nicht entdeckt, sondern Judentum auf Leistung und Gesetzlichkeit festgelegt, als ob es dergleichen nicht im Christentum als Perversion der gesamtbiblischen Botschaft, des Evangeliums, gäbe? Dietrich Bonhoeffer hat in seinem Buch "Nachfolge" (1947) gegen die "billige Gnade" protestiert, die aus der Diffamierung des Gesetzes, z.B. der Bergpredigt, stammt. In einem Midrasch (Tehellim zu Ps. 72) heißt es:

Warum haben wir die Rechtfertigungslehre in der jüdischen Tradition nicht entdeckt, sondern Judentum auf Leistung und Gesetzlichkeit festgelegt?
Die christliche Kirche behauptete von sich, das wahre Israel zu sein und das alte enterbt und ersetzt zu haben
"Wenn wir Verdienste haben und wenn wir gute Werke besitzen, so gibt Er uns von dem Unsrigen, wenn aber nicht, so erweist er uns Gerechtigkeit und Gnade nach dem Seinigen. Gibt es wohl einen größeren Gerechten als Diesen?"

In Avoda Sara 19a steht in einem rabbinischen Kommentar zu Ps. 112,1:

"Selig der Mann, der Gott fürchtet und an seinem Gebot recht seine Lust hat - dazu sagt Rabbi Elasar: Das ist es was gelehrt wird: Er sagt: Seid nicht wie Knechte, die dem Meister dienen, um Lohn zu erhalten, sondern seid wie Knechte, die dem Meister dienen, nicht um Lohn zu erhalten."

5. Der Vorwurf des "Gottesmordes"

Eine sich vertiefende Fragestellung mußte nicht nur nach Gründen für eine christliche Anfälligkeit gegenüber Vorurteilen und Staatsvergötzung, gegenüber gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Anpassung und Bravheit fragen, sondern auch nach den spezifisch christlichen Beiträgen zur Judenfeindschaft.

Hier muß ich vor allem den Vorwurf des Gottesmordes gegenüber den Juden nennen. Er wurde aufgenommen in vielen Sündenbock-Theorien, als ob Israel leiden müsse, weil es Jesus gekreuzigt oder als Messias verworfen habe. Dieser Vorwurf findet sich auch in Ahasver-Legenden, die, eine christliche Erfindung, davon reden, daß die Juden durch die ganze Geschichte ruhelos leiden müssen, weil sie Jesus verstoßen hätten. So wurde Leid nicht bekämpft und überwunden, sondern gerechtfertigt, gerade so als säßen die Christen und Kirchen mit ihren Dogmengebäuden im Jüngsten Gericht und hätten endgültige Urteile zu sprechen. Diese elende Praxis fing schon sehr früh an. Im Jahre 170 nach Christus hat der Bischof Melito von Sardes diesen Vorwurf in einer glänzend formulierten Passionspredigt, die er durch eine Umschreibung der jüdischen Passah-Liturgie gewann, formuliert:

"Das Volk Israel wurde entwertet durch das Erstehen der Kirche, und das Vorbild wurde aufgelöst durch die Erscheinung des Herrn. Und heute ist das, was einst wertvoll war, wertlos geworden durch die Offenbarung des wesenthaft Wertvollen ... und du bandest seine schöne Hände, die dich aus Erde gebildet haben; und seinen schönen Mund, der dich mit Leben genährt hatte, den nährtest du mit Galle; und so tötetest du deinen Herrn an dem großen Festtag. Und du warst fröhlich, jener aber hungerte; du trankest Wein und aßest Brot, jener Essig und Galle ... Du aber wurdest nicht als Israel erfunden, denn du hast Gott nicht gesehen; du hast den Herrn nicht erkannt, du hast, o Israel, nicht gewußt, daß dieser der Erstgeborene Gottes ist ... Getötet hast du den Herrn inmitten Jerusalems in der Stadt des Gesetzes, in der Stadt der Hebräer, in der Stadt der Propheten, in der Stadt, die für gerecht galt! Und wer wurde gemordet? Wer ist der Mörder? ... Der die Erde aufhing, ist aufgehängt worden; der die Himmel festmachte, ist festgemacht worden; der das All festigte, ist am Holz befestigt worden. Der Herr ist geschmäht worden; der Gott - ist getötet worden; der König Israels ist beseitigt worden von Israels Hand."11

Die frühchristliche Linie wird von fast allen großen Kirchenlehrern aller Konfessionen, subtil oder massiv, ausgezogen. Chrysostomus ("Schweine"), Augustinus ("Sie sind Zeugen ihrer Bosheit unserer Wahrheit") oder Luther ("Zündet ihre Synagogen an...").

6. Die Ausgrenzung

Die Christen versuchten ihre christliche Position durch die Negation der jüdischen bzw. durch die qualitative Entgegensetzung von Buchstaben und Geist, Verheißung und Erfüllung, Gesetz und Evangelium, Rachedenken und Liebe, Alt und Neu - jeweils das Negative auf das Alte und das Positive auf das Neue Testament verteilend - zu gewinnen. Aus der via negationis, die das Evangelium gegen das Judentum ging, wurde dessen via dolorosa. Die christliche Kirche behauptete von sich, das wahre Israel zu sein und das alte enterbt und ersetzt zu haben. Die Dramaturgie von Passionsspielen (Oberammergau), von vielen Predigten und Unterrichtsentwürfen lebt davon, einen dunklen Hintergrund zu malen, vor dem sich dann Gestalt und Werk Jesu hell abheben, so als sei er seinem Urgrund, dem jüdischen, überbietend oder gar feindlich gegenübergetreten.

Drei Positionen von Nichtnazis:

Adolf Schlatter schreibt 1935 eine Schrift "Wird der Jude über uns siegen?":

"Während der Weihnachtszeit sieht Deutschland seltsam aus. Nun marschieren zahlreiche und überzeugte Deutsche auf einmal Arm in Arm in der Judenschaft. Aus dem Reichstag und der Universität, aus Amtsstube, Theater und Zeitung haben wir die Juden verdrängt. Nun aber gewähren wir ihnen für ihr wichtigstes Anliegen unsere Unterstützung... Da aber Blindheit und Feigheit sich für uns, die wir im Dritten Reich leben, nicht ziemen, kann dem Juden nicht bestritten werden, daß im deutschen Bereich die Lage für seine Weltanschauung noch nie so günstig war wie jetzt. Ihn kann es nur freuen, wenn die Feier der wiederaufsteigenden Sonne das Weihnachtsfest verdrängt und der Jugend eingeprägt wird ihr einziges Bekenntnis sei von nun an, daß sie Deutsche seien, weil der Name 'Christ' für sie sinnlos geworden sei... Die nordische Seele ist deshalb dazu angelegt, etwas von der Größe Jesu zu spüren, weil sie die verabscheut, die sich feig und weichlich nur um ihr eigenes Wohlsein bemühen. Gegen diesen Mißbrauch des Lebens hat keiner so ernst und so sieghaft gestritten, wie Jesus es tat. Einen gewaltigeren Widersacher als ihn hat das Judentum nie gehabt. Er beugte sich nicht vor dem, was die Meister auf ihren Kathedern sagten, und war nicht an das gebunden, was die Priester im Tempel taten. Er stand über dem heiligen Gesetz und handhabte die Schrift als ihr Herr. Was ihn hielt, war nicht das Judentum; der Grund seiner Kraft lag in ihm selbst."12

Wenn auch Schlatter nicht so weit geht wie der Neutestamentler Herbert Grundmann13 der den historischen und theologischen Versuch macht, Jesus von Nazareth als Arier zu beschreiben, weil er in Galiläa lebte, wo Germanen die römischen Besatzungstruppen stellten, so fällt an diesem Schlatter-Text auf, wie absolut blind er für die schon geschlagenen und ermordeten Juden ist, die 1936 durch die Nürnberger-Gesetze, von Adenauers späterem Staatssekretär Globke damals exakt kommentiert, als Untermenschen definiert waren. Zum anderen fällt auf, wie er Jesus entwurzelt, ihn von Gott und der heiligen Schrift abtrennt.

Rudolf Bultmann schrieb in seiner Theologie des Neuen Testamentes: "Israel war das erwählte Volk Gottes; aber die Erwählung schwebte gleichsam immer nur als Bestimmung und Verheißung über und vor ihm, bestimmte auch in der Folge göttlicher Führung und Segnung und Strafe seine Geschichte, hat sich aber doch nie realisiert... Israel als Ganzes aber ist wegen seiner Verwerfung Jesu selber verworfen worden. Die christliche Gemeinde ist das wahre Volk Gottes (vgl. Mk 12,1-11)".14

Die Christen setzen sich auf den Richtstuhl Gottes und wissen das definitive Urteil über das jüdische Volk.
Christlicher Glaube hat sich um die Verfolgten und Ermordeten zu kümmern.
Die Lehre des Judentums ist die Theologie des alltäglichen Handelns.
Kardinal Faulhaber predigte am 3. Dezember 1933 in München15 und begann seine Predigten gegen die Diffamierung des Alten Testamentes durch die Nazis mit der klassischen Zusammenfassung des christlichen Antijudaismus, zu dem er sich bekannte:

"Wir müssen erstens unterscheiden zwischen dem Volk Israel vor dem Tode Christi und nach dem Tode Christi. Vor dem Tode Christi ... war das Volk Israel Träger der Offenbarung. ... Nur mit diesem Israel der biblischen Vorzeit werden meine Adventspredigten sich befassen. Nach dem Tode Christi wurde Israel aus dem Dienst der Offenbarung entlassen. Sie hatten die Stunde der Heimsuchung nicht erkannt. Sie hatten den Gesalbten des Herren verleugnet und verworfen, zur Stadt hinausgeführt und ans Kreuz geschlagen ... Die Tochter Sion erhielt den Scheidebrief, und seitdem wandert der ewige Ahasver ruhelos über die Erde."

Ich führe bewußt drei Theologen an, die keine Nazis waren und doch den antijüdischen Geist vertraten, der den Nazis ihre Arbeit erleichterte. Was spielt sich hier ab? Die Christen vertreten im Blick auf sich selbst einen historischen Idealismus. Sie dispensieren sich von dem Gedanken der Verwirklichung des Reiches Gottes, das Kernstück der Predigt Jesu von Nazareth, verschieben die Erlösung in die Innerlichkeit oder ins Jenseits nach der Todesgrenze. Unglauben von Christen und Kirchen, die Greueltaten von Christen und Kirchen durch die Jahrhunderte werden gering gewertet. Warum eigentlich? Der Glaube der Juden, ergreifende Gebete, Selbstkritik und leidenschaftliches Ringen um ein Verstehen (z.B. in der rabbinischen Literatur oder im vierten Esrabuch), was die Zerstörung des Tempels von Jerusalem im Jahre 70 bedeute, werden nicht wahrgenommen. Die Christen setzen sich auf den Richtstuhl Gottes und wissen das definitive Urteil über das jüdische Volk. In einem historischen Materialismus betrachten sie die jüdische Geschichte: Die Zerstörung des Tempels ist ihnen der Beweis dafür, daß die Geschichte Israels zu Ende ist. Martin Noth beendet seine "Geschichte Israels"16, mit dem Verweis auf die Zerstörung Jerusalems und die Niederschlagung des Bar Kochba-Aufstandes 135, mit dem Satz: "Damit endete das schauerliche Nachspiel der Geschichte Israels.". Wieso, so muß nicht nur jeder Jude fragen, weiß dieser Autor, daß die Geschichte Israels zu Ende ist? Wo bleibt die nicht nur im Römerbrief (9-11) behauptete Gültigkeit der Verheißung und Gebote Gottes? Wo bleibt der Respekt vor der Mahnung Jesu, sich nicht am Vollzug des Jüngsten Gerichtes zu beteiligen und Unkraut und Weizen jetzt zu sortieren? Wo bleibt der Respekt vor dem biblischen und jüdischen Selbstverständnis, das eben nicht aus sich heraus das Wort Gottes für Israel außer Kraft setzen kann? Wo bleibt die Wahrnehmung jüdischer Positionen, die auch eine große Freiheit vom Gesetz kennen - "An dem Tage, an dem der Tempel zerstört wurde, ist eine eiserne Mauer gefallen, die sich zwischen Israel und dem Vater im Himmel erhoben hatte."17

Warum hören die Christen nicht auf die jüdische Einrede: "Was nur in Ewigkeit kommt, kommt in Ewigkeit nie", mit der Franz Rosenzweig die unbiblische Spiritualisierung und Verjenseitigung des christlichen Glaubens kritisiert? Hat vielleicht der als Philosophieprofessor von seiner Heidelberger Universität entlassene, aus jüdischer Familie stammende Christ, den seine westfälische Kirche, nachdem er dort Pfarrer geworden war, ebenso unchristlich verstieß, recht, der feststellte: "Das Judentum ist von der Kirche als Sprungbrett benutzt worden, um von ihm in die Vollendung und Vollkommenheit ins Himmelreich hineinzuspringen, und wenn es diesen Dienst geleistet hat, bekommt es einen Fußtritt."?18

Was habe ich eigentlich von der Wissenschaftlichkeit von Teilen des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament19 zu halten, wenn, nach einem vorzüglichen Aufsatz über "Heil" im Alten Testament in der Arbeit über das Verständnis von Soteria im Neuen Testament geschrieben wird:

"Die neutestamentliche soteria bezieht sich nicht auf irdische Verhältnisse. Ihr Inhalt ist weder, wie für griechisches Verständnis, Wohlergehen, Gesundheit des Leibes und der Seele, noch eine irdische Befreiung des Volkes Gottes vom heidnischen Joch wie im Judentum... Sie hat es nur mit dem Verhältnis des Menschen zu Gott zu tun. Darum bringt weder eine volle Selbstbeherrschung des Menschen durch die autonome Vernunft - so die griechische Philosophie - noch eine vollkommen geleistete Buße, d. h. die absolute Übernahme der heteronom verstandenen Thora - so der Pharisäismus - das Heil".

Die Praxis von Auschwitz stellt die Christen vor die Frage, ob sie die Lüge eines so verstandenen Christentums weiter vertreten wollen, daß der christliche Glaube nichts mit den irdischen Verhältnissen zu tun hat, sich also nicht um die Verfolgten und Ermordeten und eine darauf hinzielende Politik zu kümmern habe oder ob sie sich dann doch lieber an die Leben rettende Botschaft der ganzen Bibel halten wollen.

Die biblische Botschaft wird von dem aus Berlin vertriebenen Rabbiner und späteren Philosophieprofessor in Toronto, Abraham Heschel, so beschrieben:

"Die Götter kümmern sich um große Dinge, die kleinen beachten sie nicht, erklärt Cicero. Aristoteles zufolge kümmern sich die Götter überhaupt nicht um die Verteilung von Glück oder Unglück oder um äußerliche Dinge. Für den hebräischen Propheten jedoch gibt es nichts, das der Beachtung so wert wäre wie die mißliche Lage des Menschen. Ja, Gott selbst wird als einer beschrieben, der über die Not des Menschen nachdenkt und nicht ewige Dinge betrachtet. Er ist ganz von den Menschen, von den konkreten Ereignissen der Geschichte in Anspruch genommen und nicht so sehr von zeitlosen gedanklichen Problemen... Die Lehre des Judentums ist die Theologie des alltäglichen Handelns. Die Bibel betont immer wieder, daß Gott sich um das Alltägliche, um die Kleinigkeiten des Lebens kümmert. Die große Herausforderung besteht nicht darin, feierliche Demonstrationen zu organisieren, sondern das Alltägliche zu bewältigen. Die Sorgen des Propheten gilt nicht den Geheimnissen des Himmels oder dem Glanz der Ewigkeit, sondern den Schäden der Gesellschaft und Geschäften des Marktes. Er wendet sich an jene, die die Bedürftigen zertreten, den Getreidepreis erhöhen, falsche Gewichte benutzen und den Abfall des Korns verkaufen."20

Diese korrekte Beschreibung der biblischen Botschaft entlarvt den christlichen Gottesglauben wie er in meinen vorangehenden Zitaten beschrieben wurde, als einen Glauben an heidnische Götter und nicht als einen Glauben an den biblischen Gott, der Zuspruch und Anspruch an seine Menschen und zuerst an sein Volk Israel richtet. Wenn aber das biblische Hauptwort Schalom bzw. Soteria nichts mit "irdischen Verhältnissen" zu tun hat, dann ist ein solcher weltloser Glaube der Christen absolut überflüssig, ja menschenfeindlich und Gott verachtend.

7. Der Streit um Jesus

Das Judentum ist keine Konfession, sondern ein Volk, das mit dem Land Israel verbunden ist.
Seit 40 Jahren wird Israel eine Anerkennung durch seine Nachbarn verweigert.
Was Juden und Christen verbindet ist Jesus von Nazareth. Er, als der von den Christen geglaubte Christus, trennt Juden und Christen. Haben wir Christen nicht positiv zu lernen, daß das jüdische Warten auf den Messias, den Kommenden, den Anfänger des Reiches Gottes, uns mit den Juden verbindet, die auf den Wiederkommenden warten? Noch mehr: haben wir nicht zu lernen, daß im jüdischen Nein zu Jesus als dem Messias, als dem Christus, eine Treue zur biblischen Botschaft steckt, die durch die Bibel belehrt wird, daß die Erneuerung des Himmels und der Erde mehr ist, als was Kirche und Christentum gebracht haben? Uns allen ist die rabbinische Geschichte bekannt: nach der ein Junge zum Rabbi gelaufen kommt, ihn bittet das Schofarhorn zu blasen, das die Ankunft des Messias ankündigt. Der Meister geht an die vier Fenster seines Hauses und schaut in alle Richtungen hinaus. Hier hört er ein Kind weinen, dort sieht er eine kranke Frau, aus dem anderen Fenster hört er Kriegsgeschrei, Hungrige erblickt er aus dem vierten. Er schließt die Läden und sagt dem Jungen: Nein, noch ist der Messias nicht gekommen. Was sich in dieser Haltung ausspricht ist kein Unglaube, sondern tiefer Glaube an Gott und sein Wort, daß die Erneuerung des Himmels und der Erde eine wirkliche Erneuerung der ganzen Schöpfung ist.
Israel verhindert, daß die Christen aus Christus einen abgeschlossenen Besitz machen.

Dietrich Bonhoeffer weist in seiner Ethik darauf hin wenn er schreibt: "Der Jude hält die Christusfrage offen".21 Israel verhindert, daß die Christen aus Christus einen abgeschlossenen Besitz machen, der mit einer Lehre, einer Christologie, verteidigt wird gegen andere Menschen. Die Bibel, so läßt sich das Bonhoeffer-Zitat verstehen, hält daran fest, daß Jesus Christus nicht eine Christologie von uns, seinen Besitzern, erwartet, sondern nichts als die Christus-Nachfolge. Noch mehr: kein menschliches Urteil oder Dogma schließt für Israel die Geschichte.

Warum haben wir Christen eigentlich nicht das jüdische Volk geliebt und gelobt, daß es der Christusbringer ist? Warum haben wir ihm den Vorwurf des Christus- und Gottesmordes angehängt? Ist das nicht die schlimmste Verleugnung der Rechtfertigungslehre durch die Christen? Franz Rosenzweig schrieb am 21. April 1918 an Hans Ehrenberg, der Christ war, und mit dem er einen der tiefgehendsten jüdisch-christlichen Dialoge führte: "Ob Jesus der Messias,war, wird sich ausweisen, wenn - der Messias kommt."22

Wo Christen die Hoffnung auf das kommende Gottesreich nicht aushalten, verdinglicht diese Hoffnung entweder zu einer Dogmatik, zu einer Kirche als Heilsanstalt mit Unfehlbarkeitsanspruch oder aber zu einem Feindbild gegenüber dem jüdischen Volk, in dem diese Hoffnung lebendig ist. Abraham Heschel hat in dem schon angeführten Buch geschrieben: "Die Kinder standen nicht auf und nannten ihre Mutter gesegnet statt dessen nannten sie sie blind."23 Er spricht von Israel als "Vater und Mutter" der Christenheit."

Nun ist das, was hier als christliche Haltung beschrieben wird, nicht nur eine christlich - unchristliche Haltung geblieben. Hitler nannte einmal das Gewissen eine "jüdische Erfindung". Um also gewissenlos Politik machen zu können, mußte er die "Erfinder" des Gewissens, die Menschen wie alle anderen sind, mit denen aber Gott eine Geschichte begonnen hatte, beseitigen. Europa judenrein zu machen bedeutete für ihn, Europa gewissensfrei zu machen. Rauschning, der frühere Senatspräsident von Danzig, notiert aus einem Gespräch mit Hitler aus dem Jahre 1933 folgende Worte Hitlers:

"Es handelt sich nicht bloß um Christentum und Judentum. Wir kämpfen gegen den ältesten Fluch, den die Menschheit über sich selbst gebracht hat. Wir kämpfen gegen die Perversion unserer gesundesten Instinkte. Ach, der Wüstengott, dieser verrückte, stupide rachsüchtige asiatische Despot mit seiner Macht, Gesetze zu machen! Diese Peitsche des Sklavenhalters! Dieses teuflische du sollst, du sollst! Und dieses dumme du sollst nicht! Es muß heraus aus unserem Blut, dieser Fluch vom Berge Sinai! Dieses Gift, mit dem sowohl Juden wie Christen die freien wunderbaren Instinkte der Menschen verdorben und beschmutzt und sie auf das Niveau hündischer Furcht herabgedrückt haben".

8. Das jüdische Volk und der Staat Israel

Im Blick auf den Staat Israel geht es darum, einen Weg zwischen jenem Fundamentalismus zu finden, der das Entstehen des Staates Israel als Indikator in Gottes endzeitlichem Zeitplan beachtet und auf der anderen Seite, jenem Verständnis des Staates Israel, das ihm jede Verbindung zur Tradition jüdischen Glaubens und Lebens abspricht. Das Judentum ist nicht eine Konfession oder Denomination, sondern ein Volk, das mit dem Land Israel verbunden ist, weil die Verwirklichung seines Glaubens hier auf dieser Erde stattfindet. Das bedeutet weder ein Plädoyer für ein theokratisches Gesellschaftsmodell noch die Legitimation eines expansiven Staatsverständnis Israels.

Christliche Zionisten, die, um die Herbeikunft des Messias zu erzwingen, die Errichtung des jüdischen Staates 1948 als einen Beweis für ihren christlichen Glauben und die Gültigkeit der Bibel ansehen, instrumentalisieren wieder einmal das jüdische Volk, diesmal "gut" gemeint. Statt zum Beweis für Verworfenheit wird es zum Beweis für eine "Erwählung", die völlig durch Christen funktionalisiert ist. Wieder einmal löst sich schwacher christlicher Glaube in historischem Materialismus auf.

Genauere Geschichtskenntnis wird nicht vergessen wollen, daß die jüdische Erfahrung, unter christlicher Mehrheitsgesellschaft zu leben, entweder dem Zwang der Assimilation oder der Unterdrückung bedeutete. Nicht vergessen werden darf, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes einschließt. Den frommen Rechnern unter den Christen wäre zu raten - wie den Fundamentalisten unter Juden und Muslimen - sich um das Leben und Überleben des jüdischen Volkes zu bemühen und um ein Zusammenleben mit dem palästinensischen Volke. Das könnte z. B. auf der Grundlage des UNO-Beschlusses vom November 1947 geschehen, der einen jüdischen und einen palästinensischen Staat vorsah, eine salomonische Lösung, die von Israel damals sofort bis heute akzeptiert wurde, von den Arabern damals abgelehnt wurde. Wer die Militarisierung Israels heute beklagt, muß die 40 Jahre bedenken, in denen diesem Volk eine Anerkennung durch seine Nachbarn verweigert wurde.

9. Wissenschaft, Technik und Industrie

Eine kritische Bearbeitung der Nazizeit zeigt, daß Menschen und Institutionen sich gegen Gott und seine Ebenbilder gebrauchen ließen. Naturwissenschaft und Technik, Industrie und Kultur, Kirche und Universität, Schule und Bürokratie, Justiz und Militär - sie alle ließen sich in den Dienst der Vernichtung des jüdischen Volkes stellen. Die in ihnen tätigen Mitglieder hatten die Verantwortung an die Institution abgegeben. Befehl ist Befehl, hieß eine Entschuldigung, eine andere wies darauf hin, daß die Wissenschaft oder der christliche Glaube ja hinlänglich bewiesen habe, wie über die Juden zu denken sei, daß also das, was ihnen geschehe, auch wenn man es persönlich nicht wolle, doch irgendwie gerechterweise geschehe. Die auf die Institutionen abgeschobene Verantwortung der einzelnen wurde von den Institutionen nicht wahrgenommen. Albert Einstein schrieb 1953 an seinen Freund und Physikerkollegen Max Born, als dieser nach Deutschland zurückzog, ins "Land der Massenmörder", daß "das Kollektivgewissen ein ganz lausiges Pflänzchen sei, das immer dann einzugehen pflege, wenn es gebraucht wird."24

Sind die Institutionen für die Menschen da oder die Menschen für die Institutionen?
Der jüdisch-christliche Dialog besteht vor allem aus einer kritischen Analyse unseres Denkens und Handelns
In der Tat, Kollektive und Institutionen handelten gewissenlos. Der christliche Glaube hatte sich selbst um seine soziale und politische Dimension gebracht, als er - im Blick auf die Bibel - fälschlicherweise behauptete, ein Gewissen könne nur ein Individuum haben. Hinzu kam das Gesetz der Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft. Niemand ist für das Ganze verantwortlich. Jeder funktioniert arbeitsteilig. Die Arbeitsteilung führt zu Gewissensteilung. Die Frage wurde nicht gestellt: Wem dient, was wir tun? Wozu sind wir da? Sind die Institutionen für die Menschen da oder die Menschen für die Institutionen? Das ist eine gute jüdische Frage, die Jesus in seiner Auffassung des Sabbatgebotes aufgreift.

Das ethische Subjekt war verschwunden. Der amerikanische Historiker, Raul Hilberg schreibt: "Die IG-Farben-Hierarchie - Ausschüsse, Fabriken und Hauptverwaltungen - war ein Koloß ohne Kopf, der sich wie eine autonome Maschine bewegte, die jemand einmal in Fahrt gesetzt hatte und die nun ohne Unterlaß weiter produzierte und expandierte. Bezeichneterweise ging die Beteiligung der IG in Auschwitz nicht auf den Wunsch zurück, Juden umzubringen und sich zu Tode arbeiten zu lassen, sondern auf ein kompliziertes Herstellungsproblem - die Erweiterung der Produktion von Buna oder Kunstkautschuk."25 Es gab kein ethisches Subjekt, das beschloß Juden zu vernichten und die zwanghaft vollstreckte Notwendigkeit, billige Arbeitskräfte (ohne Versorgungsanspruch) einzusetzen. Der Massenmord wird zum Abfallprodukt einer nach Menschen und Menschlichkeit nicht fragenden Wissenschaft, Technik und Industrie.

Albert Speer, Hitlers Rüstungsminister und Erbauer der Konzentrationslager, schreibt in seinen Erinnerungen, daß "die Diktatur Hitlers die erste Diktatur eines Industriestaates dieser Zeit moderner Technik war, eine Diktatur, die sich zur Beherrschung des eigenen Volkes der technischen Mittel in vollkommener Weise bediente... Als Folge davon entsteht der Typos des kritiklosen Befehlsempfängers."26 Eine nur instrumentell tätige Vernunft, die nach den biblischen Haupttugenden Gerechtigkeit und Liebe, Befreiung und Schalom nicht fragt, entmenschlicht den Menschen zum Mitläufer oder zur Funktion eines von ihm nicht durchschauten und nicht mitgestalteten Apparates.

1961 wird in Jerusalem Adolf Eichmann, der, ohne selbst einen Juden anzurühren oder zu töten, den Massenmord organisiert hatte, zum Tode verurteilt. Im Todesurteil steht folgender Satz: "Das Verantwortlichkeitsausmaß wächst vielmehr im allgemeinen, je mehr man sich von demjenigen entfernt, der die Mordwaffe mit seinen Händen in Bewegung setzt."27 Ein Kennzeichen der Neuzeit ist es, daß nicht der nur der Mörder ist, der jemand im Lager oder in der Gaskammer zu Tode quält, sondern auch der, der es intellektuell oder moralisch vorbereitet, duldet oder rechtfertigt. Sollte Jesus dies gemeint haben, als er in der Bergpredigt darauf hinwies, daß das Töten des Nächsten schon mit dem Verurteilen beginnt?

10. Kirche und Gesellschaft

Dietrich Bonhoeffer28 hat von einer dreifachen Möglichkeit kirchlichen Handelns dem Staat gegenüber gesprochen:

1. Die Kirche hat den Staat nach der Legitimität seines Handelns zu fragen. Es geht nicht nur darum, ob etwas Gesetz ist, sondern ob es gerecht ist. Die Geschichte lehrt, daß es ungerechte Gesetze gibt. Christen und Kirchen haben die Gerechtigkeit ins Spiel zu bringen.

2. Kirchen und Christen sind für alle Opfer staatlichen Unrechtshandelns verantwortlich nicht nur für die Christen.

3. Christen haben nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden oder zu beerdigen, sondern dem Rad in die Speichen zu greifen, damit nicht immer neue Opfer produziert werden.

Der Gedanke der Zivilcourage, der hier Christen und Kirchen, einzelnen und Institutionen, zugemutet wird, ist der alte christliche Gedanke des Widerstandes in Gestalt von die-Dinge-beim-Namen-nennen, protestieren, demonstrieren, widerstehen und das Martyrium auf sich zu nehmen. Der Herborner Jurist und Theologe Althusius hat es, wie Bonhoeffer, mit dem Bild vom Rad ausgedrückt. Dem Steuerrad haben die Mitreisenden auf einem durch Fehler, Wahnsinn, Krankheit oder Trunksucht des Kapitäns gesteuerten Schiff in die Speichen zu greifen. Die Reduktion christlicher Verantwortung auf Einzelfallhilfe ist zu wenig. Martin Luther King hat einmal in einer Predigt davon gesprochen, daß die Straße von Jerusalem nach Jericho umgebaut werden muß, wenn immer wieder Leute unter die Räuber fallen.

Wir sind erst am Anfang des jüdisch-christlichen Dialogs. Er besteht zu 95% nicht aus Gesprächen zwischen Juden und Christen - dazu haben wir zu wenige Juden in unserem Lande überleben lassen - sondern vor allem aus einer kritischen Analyse und Reinigung unseres theologischen Denkhaushaltes, unserer kirchlichen Praxis, unserer gesellschaftlichen Verantwortung und der staatlichen und ökonomischen Strukturen. Wir stehen erst am Anfang. Aber es gilt für uns die Hoffnung, die Martin Buber einmal bei einem Treffen religiöser Sozialisten 1928 in Heppenheim ausgesprochen hat:

"Wir können das nicht eine Utopie nennen, woran wir unsere Kräfte noch nicht erprobt haben. Erst wenn wir darauf losgehen, entdecken wir wieviel Raum zum Handeln uns Gott gibt."29

Anmerkungen
1) Leo Baeck: Das Wesen des Judentums, Berlin 1925 (4. Aufl.), S. 66 u. 68
2) Martin Niemöller Reden 1955-1957, Darmstadt 1958, S. 152
3) Dietrich Bonhoeffer, Ethik, München 1956, S. 44
4) Eliezer Berkovits, Faxing the Truts, in: Judaism 1978, S. 232
5) Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1901, S. 33
6) Aus: H. W. Bähr (Hg.), Die Stimme des Menschen, München 1961, S. 248 f
7) Das periodische System, München 1987, S. 58
8) Aus: G. Denzler/V. Fabricius (Hg.), Die Kirchen im Dritten Reich, Bd. 2, Frankfurt 1984, S. 255
9) Kirchliches Jahrbuch, Gütersloh 1948, S. 133
10) Hg. von A. Hertz/W. Korff/T. Rendtorff/H. Ringeling; Basel - Wien - Gütersloh 1979, Bd. 1, S. 259
11) Übersetzt u. hrsg. v. J. Blank, Freiburg 1963
12) Essen 1935, S. 3 f.
13) Herbert Grundmann, Wer ist Jesus von Nazareth? Weimar 1940
14) Tübingen 1954, S. 96
15) Judentum, Christentum, Germanentum, Adventspredigten, München 1933, S. 11
16) Göttingen 1954, S. 406
17) Rabbi Eleasar, in: L. Baeck, Das Wesen des Judentums, Darmstadt o. J., S. 184
18) Paradoxien des Evangeliums, München 1957, S. 15
19) Stuttgart 1961
20) Die ungesicherte Freiheit, Neukirchen 1985, S. 86
21) München 1956, S. 31
22) Die Schrift, Frankfurt o. J., S. 226
23) A. a. 0., S. 137
24) Aus: A. Einstein/M. Born: Briefwechsel 1916-1955, München 1969, S. 166
25) Die Vernichtung der europäischen Juden, Berlin 1982, S. 626
26) Berlin 1969, S. 522
27) Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Reinbek 1978, S. 293
28) Gesammelte Schriften, Bd. 2, München 1959, S. 48
29) Sozialismus aus dem Glauben Zürich-Leipzig 1929, S. 93

Vortrag gehalten im September 1990 vor dem Pfarrkonvent in Wuppertal
aus: Materialdienst 3/1992

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