Welche Früchte hat sie getragen?
Die Erweiterung des Grundartikels der Kirchenordnung in Hessen und Nassau
Eine Fragebogenaktion 10 Jahre danach

von Rudolf Weber

Im Herbst 2001 versandte der "Evangelische Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau" 1800 Fragebögen an Pfarrerinnen und Pfarrer und an die Dekanate. Der Bogen enthielt 10 Fragen zum Thema, deren Beantwortung nachfolgend dargelegt wird. Der Rücklauf von 5 % verbietet es, das Ergebnis als repräsentativ anzusehen.

Dass bei der Frage, welche Bedeutung die Grundartikelerweiterung für die Befragten habe, 75% von ihnen Zustimmung äußern, verwundert nicht. Man wird damit rechnen müssen, dass überhaupt weit überwiegend die Interessierten geantwortet haben. Dieses Ergebnis reibt sich allerdings etwas mit Äußerungen zur Frage, ob die Verpflichtung auf die Grundartikelerweiterung im Ordinationsgespräch eine Rolle gespielt habe: Knapp 33 % verneinen dies, mehr als 6 % bleiben ohne Angabe; nur gut 8 % bejahen die Frage ausdrücklich. Für mehr als die Hälfte aller entfällt sie wegen früherer Ordination. Die zustimmende Wertung hat eine große Spannbreite: kardinal, selbstverständlich, grundlegend für das christliche Selbstverständnis, Verwurzelung im Judentum, überfällig, Chance eines Miteinanders von Juden und Christen ohne gegenseitige Verurteilungen, zum ersten Mal Röm. 9-11 ernst genommen, korrigiert Luthers Kritik am Judentum. Neben solchen Äußerungen ist auch einige Skepsis zu hören: andere Landeskirchen haben "sauberere" Erklärungen, die Grundartikelerweiterung verdunkele die Christologie des Grundartikels. Die Gegenstimme dazu sagt: 'Die jetzige Form der Grundartikelerweiterung schließt einen zweiten Heilsweg aus, das ist gut so.' Sie sei wichtig für das Gespräch mit Gemeindegliedern, jedoch sei sie der Gemeinde unbekannt bzw. gleichgültig. Zugleich wird die Formulierung sprachlich wie theologisch für fragwürdig gehalten und für politisch ungeschickt.

Eine breite Palette bieten die Antworten zur Frage nach Themenbehandlung in Veranstaltungen in Gemeinde und Schule. Abgesehen von 1(!) Stimme 'Keine' sind reichliche Nennungen zu notieren: Judentum zur Zeit Jesu, jüdisches Brauchtum, Entwicklung des Antijudaismus, Festkalender, Judentum und Weltreligionen, Messiaserwartungen; Holocaust, Geschichte der Synagoge, Synagogenbesuch, KZ-Besuch; Staat Israel, Studienreisen nach Israel; Jerusalem: Stadt von Juden, Christen und Muslimen; mit einem Juden die 10 Gebote lesen, jüdische Stellung zu Jesus und Paulus. Entsprechend reich sind die Angaben zur Frage nach Vorschlägen zur Weiterarbeit und Konkretisierung. Allgemein wird gesagt: Erwachsenenbildung, Dialog mit jüdischen Gemeinden, gemeinsame Projekte; das Verhältnis zum Staat Israel und seiner Politik gestalten. Negativ: Durch Ungeschicklichkeiten sei das Thema für die nächsten 20 Jahre in der Gemeinde verdorben, gar habe das ganze Unternehmen auf diesem Wege keine Konsequenzen. Die praktischen Vorschläge sind konkret: Gestaltung der Liturgie, Arbeitshilfen für Konfirmanden- und Religionsunterricht und Kirchenvorstand; Hilfen für die Predigtarbeit, Weiterbildung der Religionslehrer/innen; eine 7. Perikopenreihe mit jüdischen, eine 8. mit apokryphen Texten; aktuelle Arbeitshilfe zum Thema 'Intifada und Versöhnungsarbeit'; Gemeinden sollten Juden und Muslime bei Festen und Tagungen treffen und sich austauschen, besonders ihre Frömmigkeitsformen; die Kirchenleitung sollte ein Symposion zur Klarstellung der Relevanz abhalten und sich mit anderen Landeskirchen abstimmen für eine gemeinsame EKD-Erklärung; der gesamte Grundartikel sei zu revidieren im Blick auf alle Religionen; Judentumskunde und Staat Israel müssen entzerrt werden; Judaistik sollte statt Prakt. Theologie Pflichtfach werden; ein Akademiepreis sollte für nicht-antijüdische Dogmatik verliehen werden. Pflichtfortbildungen für Theolog/innen werden vorgeschlagen.

Weniger als die Hälfte der Befragten gibt Kontakte zu jüdischen Gemeinden und Einrichtungen an, und knapp 20 % bleiben ohne Angabe. Dabei spielt wohl der Mangel an Möglichkeiten eine Rolle. Abgelehnt werden Kontakte aber von niemandem. Ein widersprüchliches Gesamtbild dagegen zeigen die Antworten zur Frage nach Veränderungen der Erfahrungen mit dem Judentum und Einstellungen zu Israel durch Reisen ins Land. Das Verständnis für die neuere Geschichte und die aktuelle Politik sei gewachsen, da vor Ort vieles lebendiger sei: die Wüste mit ihrer Stille; Israel als säkulare Gesellschaft; die Einsicht in die religiöse Vielfalt des Judentums und die Bedeutung der abrahamitischen Tradition. Das Selbstverständnis als Deutsche sei gewachsen; die Auffassung, Israel sei das 'jüdische Land', sei verändert. Die wichtigste Frage sei die nach Gerechtigkeit zwischen Juden und Palästinensern. Neben vielen gebliebenen Vorbehalten wird gefordert, auf Pauschalisierungen und Ratschläge von außen zu verzichten.

Diesen zustimmenden Äußerungen stehen kritische gegenüber. Ein 'gewisses Unverständnis' für Israels Vergeltungsdenken wird ebenso ausgesprochen wie die Solidarisierung mit Palästina und kritische Haltung zur Politik Israels und gebrochenem Verständnis für das israelische militärische Vorgehen - mit dem Stichwort 'Golan' -; es falle schwer, gegen Israel Position zu beziehen, aber es sei wichtig, es einmal zu tun. Die Sturheit der Orthodoxen wird ebenso beklagt wie die Begegnung mit bettelnden Ultraorthodoxen. Seit Sharon seien Israelreisen undenkbar. Der Staat Israel und religiöse Gruppen im Lande seien nicht so tolerant wie das Judentum insgesamt.

Unter den Arbeitsfeldern, in denen Veranstaltungen zur Grundartikelerweiterung erlebt oder selbst durchgeführt wurden, werden häufig Gottesdienst, Religions- und Konfirmandenunterricht, Kirchenvorstand und Dekanatskonferenzen genannt. Im Bereich der Jugendarbeit scheint ein großes Defizit zu bestehen. Dem entspricht eine große Anzahl von Aussagen zur Frage nach sprachlichen oder inhaltlichen Veränderungen in Liturgie, Predigt und Unterricht, die durch die Grundartikelerweiterung veranlasst sind: größere Sensibilität für judenfeindliche Formulierungen oder gegenüber Aufforderung zur christlichen Judenmission, Relativierung des christlichen Wahrheitsanspruchs, die Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln, die Erklärung von Antijudaismen, Verzicht auf christliche Vereinnahmung von Texten der hebräischen Bibel.

Unter den Kritikpunkten, die die Befragten gehört haben, erscheinen Plattitüden wie: 'Die Juden sollen aufhören, auf uns herumzuhacken'; unnötig, dass die Kirche sich überhaupt damit im Grundartikel befasst; es sei viel Lärm um nichts Konkretes. Gewichtiges aber ist zu hören, das zeigt, wie groß das Arbeitsfeld zum Thema 'Juden und Christen' noch ist: die Grundartikelerweiterung sei eine Abschwächung des Christusbekenntnisses durch naiven Philosemitismus; die Erwählung sei auf die Christen übergegangen. Die ältere Generation frage: 'Welche Schuld?', die jüngere, Entschuldigung sei nicht möglich.

Die Liste der Kritikpunkte, die die Befragten selbst haben, ist lang. Sie reicht vom Anstoß an der Form: Sprache Kanaans, sprachlich unklar bis zur grundsätzlichen Ablehnung der Grundartikelerweiterung: Grundartikel sei Grundartikel und nicht beliebig veränderbar. Außerdem wird der Zeitpunkt beklagt: die Grundartikelerweiterung komme 60 Jahre zu spät. Inhaltlich wird gefragt, ob es zwei Heilswege gebe; das Stichwort 'Erwählung' sei für Laien und Schüler schwer verständlich; es sei für Juden zutiefst verletzend, dass wir ihnen eine 'Erwählung' dedizieren. Es müsse für die Einhaltung der Grundartikels gesorgt werden, da immer noch judenfeindliche Predigten und Aufrufe zur Judenmission zu hören seien. Nach einer nochmaligen Sichtung aller Fragebögen wird ein erstes gemeinsames Gespräch zwischen dem Evangelischen Arbeitskreis Kirche und Israel und denjenigen Personen stattfinden, die sich daran besonders interessiert gezeigt haben.

 

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