Arbeitskreis Kirche und Israel in der Evangelischen Kirche Hessen und Nassau

Zur Geschichte des Sonntags - Konsequenzen für heute

von Martin Stöhr

These 1: Jeder Sonntag ist ein kleines Osterfest.
Der christliche Sonntag war zuerst nicht als Ruhetag gestaltet, sondern als Tag des Gottesdienstes, der an die Aufweckung Jesu von den Toten erinnerte. So wie das Osterfest zum Grundfest des christlichen Kirchenjahres wurde, so wurde der Sonntag im Laufe der Zeit der Feiertag, der die christliche Gemeinde versammelte. Der erste Ostertag, der erste Tag der Woche, hat das Sabbatfest nicht beschädigt und verdrängt - in der Urgemeinde. Der erste Tag der Woche ging zunächst nicht auf Kosten des siebten Tages der Woche, des Sabbats. Der Sabbat blieb Sabbat er wurde ins Osterfest hinein gefeiert, die urchristliche Gemeinde blieb zusammen; man las die Exodusgeschichte und begrüßte den Ostermorgen als Beginn der neuen Schöpfung (2. Kor 5, 19). So wie Jesus, seine Jünger und die Apostel als Juden den Sabbat hielten, so hielt die sich erst langsam von der jüdischen Gemeinde trennende christliche Gemeinde selbstverständlich den Sabbat und den sich allmählich entwickelnden Sonntag. Dieser war durch das Lob des Leben schaffenden Gottes und durch Erinnerung der in Jesu Auferstehung sich erneuernden Schöpfung bestimmt. Die messianische Hoffnung auf Vollendung zeigte Anfänge ihrer Realisierung. Das gemeinsame Mahl der Agape (=Liebe) und/oder der Eucharistie (= Danksagung) spiegelte in der Gemeinde das Fest der Vollendung, wozu alle, vor allem die von den "Hecken und Zäunen", geladen sind.

In der Tradition der Orthodoxen Kirche heißt der Sonntag Auferstehungstag (vaßkreßenje). Im Westen wurde der Akzent stärker auf die neue Schöpfung, im auferstandenen Christus gegenwärtig, gesehen. Hinzu kam das Gedenken an den Tag der Ausgießung des Heiligen Geistes (Apg 2).

In den ersten Jahrhunderten wurde sowohl die Tatsache des Sonntags wie die Frage seiner Gestaltung nie mit dem Sabbatgebot begründet. Der Sonntag wurde nicht zum Ersatz für einen verdrängten Sabbat. In den Ostergeschichten (Joh 20; Mt 28, 1) ist es der erste Tag der Woche, an dem der Auferstandene den Frauen begegnet. Im syrischen, juden-christlich stark geprägten Raum feierte man noch Generationen beide Tage; hier taucht der Name "Tag des Herrn" auf (kyriake hemera), lateinisch dies domenica. Hieraus entstanden die bleibenden Bezeichnungen für den Sonntag in den romanischen Sprachen: domenica (italienisch); domingo (spanisch) und dimanche (französisch).

Die erste Erwähnung des "ersten Tags der Woche" ist im Korintherbrief zu finden, der aus dem Jahr 55/56 stammt. Hier wird auf die zentrale Bedeutung der Auferweckung Christi von den Toten hingewiesen. Ohne sie ist der Glaube hohl. Die Perspektive geht auf die Vollendung der Welt, auf den Zeitraum, in dem "Gott alles in allem" ist (1. Kor 15, 28). Dann wird auch Christus seinen Dienst beendet haben. Im Anschluß an dieses Auferstehungskapitel wird in 16, 2 von der Sammlung in Galatien berichtet. Paulus treibt weiterhin die Tempelsteuer für Jerusalem ein, für die Heiligen, für die Gemeinde dort. "An jedem ersten Tag der Woche lege ein jeder von euch bei sich etwas zurück und sammle an, soviel wie möglich ist, damit die Sammlung nicht erst geschieht, wenn ich komme."

Das Gebot, den Sabbat zu heiligen, ist das am ausführlichsten formulierte Gebot, gerade auch mit der doppelten Begründung: In 2. Mose 20 wird es mit Gottes Ruhen am siebten Tag verbunden und in 5. Mose 5 mit der Erinnerung an die Befreiung der Sklaven aus Ägypten. Analog ist das Gewicht des Sonntages durch die zentrale Stellung des Auferstehungsglaubens in der Christenheit geprägt. Auferweckung Christi bedeutet, daß die messianische Zeit anfängt. Zur messianischen Zeit gehört der Sieg über den Tod und seine Subunternehmen. So wie Gott die Welt aus dem Nichts geschaffen, so hat jetzt neues Leben angefangen. Gott wird (Röm 4, 17) vorgestellt als der, "der das, was nicht ist, ins Dasein ruft". Der Sonntag ist der Tag des Anfangs einer neuen Welt und damit einer neuen Weltgestaltung. An das in Christus erschienene neue Leben zu glauben, heißt in einem neuen Leben zu wandeln, also nicht mehr Instrument der Ungerechtigkeit, sondem der Gerechtigkeit zu sein (Röm 6).

Franz Rosenzweig kennzeichnet (Stern der Erlösung III, 127) das Christentum so: "Der Christ ist der ewige Anfänger; das Vollenden ist nicht seine Sache, Anfang gut alles gut." Der lateinamerikanische Befreiungstheologe Sergio Arce erinnert daran, daß, das Christentum gegenüber der griechischen Antike, wo die Arbeit die Sache der Sklaven war, den biblischen Gedanken verfolgt, daß die Arbeit wie ihre "Zwillingsschwester", die Freizeit, durch ein Leben in der Nachfolge Christi bestimmt sind. "Die Tatsache, daß unser Herr am ersten Tag der Woche auferweckt wurde, heiligt ein für allemal jene sechs Tage, die im Gesetz Mose für die Arbeit bestimmt wurden. So ist durch die Kraft der Auferstehung unseres Herrn dem Sabbat, dem Ruhetag, alle gesetzliche Heiligkeit genommen. Gleichzeitig aber bekommt jeder Arbeitstag, wie der erste Tag der Woche, sakramentalen Charakter, nun aber nicht mehr als eine Angelegenheit des ersten Äons oder des ursprünglichen Handelns Gottes in der Welt, sondern als etwas, das im neuen Äon (in dem mit Christi Auferweckung begonnenen messianischen Zeitalter) erfüllt ist - und als ein versöhnendes Element." Abgesehen davon, daß hier deutlich wird, daß die Verachtung angeblich jüdischer "Gesetzlichkeit" in allen Strömungen der alten und der modernen Theologie auffindbar ist, bleibt doch der Gedanke zu unterstreichen, daß der erste Tag der Woche wie die ihm folgenden sechs Tage, also auch Arbeit und Freizeit, durch den Beginn des neuen Lebens bestimmt sind. Die Auferweckung Christi durch Gott wird nicht dadurch größer, daß ich den Tag der Schöpfung der Welt der, Hoffnung auf die Neuschöpfung der Welt und der Befreiung Israels, den Sabbat, herabwürdige.

These 2: Im Feiertag des Sonntags ist die Hoffnung auf den endgültigen Feiertag am Ende der Zeiten aufgehoben. Dorthin sind wir alle unterwegs.
Wie beim Sabbat ist die messianische Dimension des Sonntags Teil der biblischen, also auch der christlichen Hoffnung. Der Tag des Herrn ist seinerseits wieder eine Vorankündigung des endgültigen Tages des Herrn. Hier bezieht sich Hebr 4 auf Jes 57, 2. Der Text aus dem Hebräerbief hat als Hintergrundfolie den mehrfach zitierten Psalm 95. Dieser spricht vom Ungehorsam des Volkes Gottes während der Wüstenwanderung und vom Umkehrruf, der jederzeit (heute!) zum Neuanfang, zur Umkehr ruft. Ich zitiere ausfühlich Hebr,4: "So laßt uns nun mit Furcht darauf achten, daß keiner von euch etwa zurückbleibe, solange die Verheißung noch besteht, daß wir zu seiner Ruhe kommen. Denn es ist auch uns verkündigt wie jenen. Aber das Wort der Predigt half jenen nichts, weil sie nicht glaubten, als sie es hörten. Denn wir, die wir glauben, gehen ein in die Ruhe, wie er gesprochen hat (Psalm 95, 11): 'Ich schwor in meinem Zorn: Sie sollen nicht zu meiner Ruhe kommen.' Nun waren ja die Werke von Anbeginn der Welt fertig; denn so hat er an einer anderen Stelle gesprochen vom siebenten Tag (1. Mose 2, 2): 'Und Gott ruhte am siebenten Tag von allen seinen Werken.' Doch an dieser Stelle wiederum: 'Sie sollen nicht zu meiner Ruhe kommen.' Da es nun bestehen bleibt, daß einige zu dieser Ruhe kommen sollen, und die, denen es zuerst verkündigt ist, nicht dahin gekommen sind wegen des Ungehorsams, bestimmt er abermals einen Tag, ein 'Heute' und spricht nach so langer Zeit durch David, wie eben gesagt:. 'Heute, wenn ihr seine Stimmen hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht.' Denn wenn Josua sie zur Ruhe geführt hätte, würde Gott nicht danach von einem anderen Tag geredet haben. Es ist also noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes. Denn wer zu Gottes Ruhe gekommen ist, der ruht auch von seinen Werken so wie Gott von den seinen. So laßt uns nun bemüht sein, zu dieser Ruhe zu kommen, damit nicht jemand zu Fall komme durch den gleichen Ungehorsam. Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinn des Herzens. Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen." Es war ein christliches Mißverständnis, aus diesen Worten eine doppelte Gewißheit zu gewinnen: Die der eigenen, sicheren Erwählung und die der jüdischen, sicheren Verwerfung. Vor der Vollendung der Welt ist jeder Gerichtsort eine Einladung zur Umkehr.

Augustinus greift in seinem Buch vom Gottesstaat (XXII, Kap. 30) auf Hebr 4 zurück wenn er schreibt: "Keine Freude wird in der Tat größer in jener Gemeinschaft sein als dieses Gloria auf die Gnade Christi, durch dessen Blut wir befreit worden sind. Hierin soll sich vollenden das Wort: feiert und schaut denn ich bin Gott. Das wird wahrlich der größte Sabbat sein, der keinen Abend hat, der, den der Herr bei der ersten Weltschöpfung gewiesen hatte, als er sagte: Und Gott ruhte am siebenten Tag von all seinen Werken, die er geschaffen hatte, und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm geruht hatte von allen seinen Werken, die er zu schaffen begonnen hatte. Der siebente Tag werden nämlich auch wir selbst sein, wenn wir durch seine Segnung und Heiligung erfüllt und wiedergeschaffen sein werden."

Die neutestamentlichen Texte vermitteln nicht den Eindruck, daß Jesus sich als Messias selbst bekannt und ausgerufen hat. Wohl aber wird deutlich, daß er sich durch seine Verkündigung ("Das Reich Gottes ist nah herbeigekommen, kehrt um!") und durch seine Lebenspraxis in messianischen Zeichen als der verstand, der am Anfang der messianischen Zeit steht. So schickt er seine Jünger aus (Mt 10, 7f). Sie sollen nicht auf die Straße der Heiden gehen, sondern zu den "verlorenen Schafen des Hauses Israels". Wieder ist Inhalt der auszubreitenden Botschaft die Nähe der messianischen Zeit, des Gottesreiches, des Himmelsreiches. Die Zeichen, von denen die Evangelien und die Apostelgeschichte berichten, sind: Kranke werden gesund, Tote aufgeweckt, Gefangene frei und das Gnadenjahr Gottes, das Halljahr der Schuld(en) - Vergebung ist angebrochen. In Mt 11, 1 ff fragt Johannes der Täufer zweifelnd, weil von einem Duodezfürsten eingesperrt und durch das mit Jesus gemeinsam verkündete Gottesreich nicht befreit, bei Jesus an, ob er der sei, der da kommen soll oder ob man auf einen anderen warten solle? Jesus antwortet nicht mit einem Messiasbekenntnis, nicht mit einer Christologie. Er verweist Johannes wie die Jünger an die Suche der messianischen Zeichen. Wo sie geschehen, da hat Gott begonnen, an der Erneuerung seiner Welt zu arbeiten. Die berühmte Antrittspredigt Jesu in seiner Heimat, in Nazareth, wird in Lk 4, 8ff berichtet. In der Synagoge beteiligt sich Jesus an der Auslegung des Propheten Jesaja (61, 1-4). Jesus sagt. "Der Geist Gottes liegt auf mir, weil mich der Herr gesalbt hat, er hat mich gesandt den Elenden frohe Botschaft zu bringen, zu heilen, die gebrochenen Herzens sind, den Gefangenen Befreiung, den Gebundenen Lösung der Fessel, auszurufen ein Gnadenjahr des Herrn, einen Tag der Rache (also der Gott zustehenden Gerechtigkeit und Rechtsprechung!) unseres Gottes und des Trostes der Trauernden." Jesus ist der Meinung, daß "heute diese Schrift vor euren Ohren" erfüllt sei.

So oft sich die Kirche mit dem Reich Gottes in eins gesetzt hat, hat sie diesen A n f a n g s charakter der messianischen Verwirklichung und den H o f f n u n g s charakter der noch ausstehenden Vollendung des Reiches Gottes übersehen. Sie hat mehr an sich gerissen, als durch ihre Nachfolge und durch ihren Glauben, daß Christlichkeit Messianinät gleich, gedeckt ist. Jürgen Moltmann hat in den zwei neugeschriebenen Bänden seiner Dogmatik (Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre. München 1985 und Der Weg Jesu Christi. Christologie in messianischen Dimensionen. München 1989) diesen Gedanken der begonnenen Neuschöpfung im Weg Jesu Christi und der noch ausstehenden Vollendung in der messianischen Sabbatzeit beschrieben (wenn auch mit einigen unnötigen Polemiken gegen den jüdisch-christlichen Dialog).

An dieser Stelle ist es notwendig, auf die im Neuen Testament erzählten Geschichten einzugehen, in denen von Heilungen Jesu am Sabbat berichtet wird. Sie sind mißverstanden, wenn sie nicht in diesem Rahmen der messianischen Verkündigung gesehen werden. Sie sind einmal Fortsetzung der prophetischen Kritik an rituaIisierten Festtagen oder Festvollzügen (vgl. Jes. 58, Jer. 7 oder Amos 5). Auf der anderen Seite wird im Lichte des Anfangs der Sabbat nicht außer Kraft gesetzt, wohl aber neu gesehen. Jürgen Moltmann schreibt: "Jesus hat keine heiden-christliche Freiheit vom Sabbat verkündet, sondern messianische Erfüllung des israelitischen 'Traums von Vollendung'. Er hat nicht Gesetz und Kult profanisiert. Er hat nicht den Sabbat zugunsten guter Werke und guter Werktage abgeschafft. Er hat vielmehr die Werktage in jener messianischen Festlichkeit des Lebens aufgehoben, von der der Sabbat Israels ein einzigartiger Vorgeschmack ist. Unter Jesu Verkündigung des nahen Reiches wird das ganze Leben zum Sabbatfest."

In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, daß der jüngste Tag, der "dies novissimus", auch Tag des Herrn genannt wird. Das ist der Tag der Wiederkunft Christi. Der Bund Gottes kommt mit seinen Menschen richtend und gnädig zur Vollendung. Die Zeichen ("signa diagnostica") sind: Verbreitung des Evangeliums über die ganze Erde, das Auftreten des Antichrists mitten in der Kirche und die Bekehrung Israels. An dieser Stelle sind bestimmte chiliastische Gruppen der Kirche - bis zu den christlichen Zionisten - immer wieder einem falschen Errechnen der Endzeit erlegen. Dann wird etwa heute die Gründung des Staates Israels als ein solches Zeichen (nicht der Treue Gottes!) der christlichen Berechnung und Selbstvergewisserung. Eine solche Zeichenwertung ist nicht besser als die früher übliche negative Deutung, die in der Zerstörung Jerusalems und in der Zerstreuung Israels ein Zeichen der Verwerfung Israels sah.

These 3: Die Sabbatkritik Jesu ist eine innerjüdische Auseinandersetzung.
Unmittelbar zu dieser These gehört der Schlüsselsatz aus Mt 23, 2: "Auf den Stuhl des Mose haben sich die Pharisäer und Schriftgelehrten gesetzt. Alles nun, was sie euch sagen tut und befolgt!" Dieser Satz ist von der Christenheit immer wieder überlesen worden, um das Feindbild der Pharisäer und Schriftgelehrten "rein" zu halten. Entsprechend wurde auch überlesen, daß Jesus ihre Verkündigung des Wortes Gottes, der Tora, nicht angreift, wohl aber ihre Werke ("Aber nach ihren Werken tut nicht, denn sie tun selber nicht, was sie sagen!"). Jesu Kritik an den Pharisäern, die sehr scharf sein kann, ist nichts anderes als die innerjüdische Kritik an den Pharisäern, die z.B. sieben Sorten von Pharisaem unterscheidet. Vielleicht entspricht dieser Siebenzahl das siebenfache Wehe in Mt. 23. Auf alle Fälle ist wichtig zu lernen, daß die Gemeinsamkeit Jesu mit den Pharisäern darin groß ist, daß beide Gottes Wort ernstnehmen und auf ihre jeweils heutige Bedeutung und Praxis hin befragen. Die Kritik an den Pharisäern ist in nichts spezifisch neu bei Jesus.

Soviel als Vorbemerkung zu den Geschichten der Heilungen. Ich lenke zunächst unseren Blick auf die Heilungsgeschichte in Joh 5, 1-17. 38 Jahre liegt hier ein chronisch Kranker am Teich Bethesda. Jesus heilt ihn am Sabbat und läßt ihn sein Bett wegtragen. "Darum verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte. Jesus aber antwortete ihnen: Mein Vater wirkt bis auf diesen Tag, und ich wirke auch. Darum trachteten die Juden noch viel mehr danach, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein Vater, und machte sich selber Gott gleich."

Die generalisierende Aussage "die Juden" macht deutlich, daß zur Zeit der Abfassung des Johannesevangeliums (Ende des 1. Jahrhunderts) in den Trennungsprozeß zwischen jüdischer und christlicher Gemeinde sich sowohl antijüdische Töne mischten wie auch die Unkenntnis der innerjüdischen Diskussion sich belegt findet. Das Bild innerhalb des Johannesevangeliums ist nicht eindeutig. Auf der einen Seite gibt es die Aussage, daß das Heil von den Juden kommt (Joh,4, 22). Auf der anderen Seite werden sie als Satanskinder dargestellt (8, 44). Eine grausame Wirkungsgeschichte ging von der zweiten Bemerkung aus. Wir stehen hier vor der Entscheidungsfrage, welche Texte des Neuen Testamentes wir neu lesen, neu auslegen und gegen Texte auch aus dem Neuen Testament durchzusetzen versuchen. Wir haben bei Paulus dasselbe Problem: Röm 9-11 muß gelernt werden und 1 Thess. 2, 13-16 muß verlernt werden). Es nützt auch nichts, zu sagen, Jesus habe doch nicht nur die Juden Satanskinder genannt, sondern auch Petrus einen Satan. Es sei - was richtig ist - die Schärfe der Auseinandersetzung damals zu berücksichtigen. Nur muß ich dann sogleich feststellen, daß diese Kennzeichnung der überaus erfolgreichen kirchlichen Karriere des Petrus nicht geschadet hat, wohl aber die Kennzeichnung der Juden zu deren Diskriminierung und Verfolgung führte.

Im Johannesevangelium ist dem Verfasser und der Botschaft dieses Evangeliums wichtig, daß Jesus nichts anderes tut und tat als was Gott tut und tat: heilen und helfen. Die "Identifikation" Jesu mit Gott kann nur in einer Zeit innerchristlicher, christologischer Auseinandersetzung zu einem Vorwurf gegen die Juden gemacht werden. Dort war die Tatsache, Gottes Kind zu sein, nie ein ketzerwürdiger Vorwurf.

Mt 19, 9-14 und die Parallelen berichten von einer Heilung am Sabbat. Wieder geht es (die Hand ist verdorrt) um eine chronische Krankheit. Die Vollmacht Jesu und seine drängende Liebe, Unglück sofort zu lindern, verschärfen wieder den Konflikt mit den Pharisäern. Einmal wird hier eine Gruppe aus dem jüdischen Volk als kritischer Gesprächspartner genannt, zum anderen muß in allen drei synoptischen Stellen gesehen werden, daß eine innerjüdische, mit biblischen Argumenten operierende Debatte geführt wird. Es wird daran erinnert, daß es geboten sei, am Sabbat ein Schaf zu retten, das in den Brunnen gefallen ist, es wird daran erinnert, daß dasselbe von einem Kind oder von einem Ochsen gilt oder daß die Heilung durch das Wort eine erlaubte Handlung sei. David Flusser meint in seinem Jesusbuch, daß nur in der Geschichte vom Ährenraufen am Sabbat Jesus gegen die damalige Gesetzespraxis verstoßen habe. Er verweist darauf, daß z.B. Rabbi Jehuda, wie Jesus aus Galiläa stammend, das Zerreiben von Ähren mit den Fingern und das Essen erlaubt habe. Lukas verschärft den Konflikt durch den Bericht, daß die Jünger Ähren abgerissen hatten und sie mit den Händen zerrieben hätten. Auch hier wird wieder innerbiblisch argumentiert. David aß, als ihn und seine Begleitung hungerte, die Schaubrote.

Das von den Christen so oft als das zentrale Motto christlicher Freiheit gegenüber jüdischer Gesetzlichkeit benutzte Wort: "Der Sabbat ist für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat", findet sich in der jüdischen Tradition sowohl als theologischer wie als hermeneutischer Schlüsselsatz auch: "Euch ist der Sabbat übergeben, nicht ihr dem Sabbat!" (Mechilta zu 2. Mose 31, 13). Außerdem ist nicht zu vergessen, daß das Doppelgebot der Liebe in der jüdischen Tradition, und so wird Jesus (Mk 12) auch abgefragt, die Zusammenfassung der Thora ist. Dieses Doppelgebot hat Vorrang vor allen Einzdgeboten. Von Jesus werden "pädagogische Angriffe gegen die Stockfrommen" berichtet. Jeder "kleine Dorfpharisäer" wußte (nach D. Flusser) in der Reinheitsdebatte, dem zweiten kontroversen Punkt Jesu mit den Pharisäern und Schriftgelehrten, daß nichts äußerliches den Menschen unrein machen kann. Joh 7, 22 zeigt noch einmal, wie stark sich in der Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten eine innerjüdische Debatte widerspiegelt. Die Alternative wird dadurch falsch, daß der eine Teilnehmer an diesen Streitgesprächen, Jesus als der erste Christ und nicht als Jude verstanden wird, während die entgegengesetzte Gruppe, die Pharisäer und Schriftgelehrten, als die typischen Juden verstanden werden. Zu verlernen sind Sätze wie die von Oskar Cullmann: "Ein Festhalten am Sabbat bedeutet ein Festhalten am alten Bund, als ob Christus nicht gekommen wäre!"

These 4: Wer Gesetz als Gegensatz zum Evangelium versteht und dementsprechend die Sabbatgesetzgebung (auch die rabbinische) als Inbegriff von Gesetzlichkeit, der mißinterpretiert die Bibel.
Für die Verkündigung der biblischen Botschaft unter den Heidenvölkern war die Freiheit vom Gesetz Israels ein Teil der Verkündigung Jesu. Schon in der jüdischen Tradition konnte Tora sehr frei oder sehr eng verstanden werden. Der Satz, daß der Mensch nicht für den Sabbat, sondern der Sabbat für den Menschen da sei, entspricht auch der jüdischen Tradition (Mk 2, 27f.

In der Arbeit des Paulus spielt diese Frage eine große Rolle. Für ihn bekommt die Freiheit noch eine neue Qualität dadurch, daß sie die Freiheit des anbrechenden messianischen Reiches ist. "So laßt euch nun von niemanden ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen eines bestimmten Feiertages, Neumond oder Sabbat. Das ist alles nur ein Schatten des Zukünftigen; leibhaftig aber ist es in Christus." Im Blick auf die Beachtung von Festtagen oder den Genuß von Götzenopferfleisch schreibt Paulus Röm 14, 1: "Ein jeder sei seiner Meinung gewiß. Wer auf den Tag achtet, der tut's im Blick auf den Herrn." Auch in Mk. 2, 28 ist die messianische Gestalt des Menschensohns aus Dan. 7 "Herr über den Sabbat". Es gibt also eine doppelte Freiheitsbegründung in der christlichen Botschaft. Einmal ist es die Fortsetzung der innerjüdischen Auseinandersetzung um freiere oder engere Toraverständnisse, an denen Jesus und seine entstehende Gemeinde selbstverständlich in unterschiedlichen Positionen teilhat. Zum anderen ist es die aus dem Anbruch der messianischen Zeit in die Gegenwart hineinragende Befreiung der Menschen.

Daran ist zu erinnern, wenn ich nun mit aller Schärfe die Positionen ablehne, die auf dem Gegensatz von Gesetz und Evangelium, den Gegensatz von Judentum und Christentum aufbauen. In der Auffassung von Herbert Braun (in seinem Jesusbuch) hat Jesus das Sabbatfest "durchbrochen" und "vergleichgültigt". Nach Leonhard Goppelt "durchbricht" Jesus den Sabbat durch ein "demonstratives Verhalten". Die Begründung dafür ist, daß er die totale Erfüllung der Tora ist und damit die Einzelgebote aufhebt.

Bei Joachim Jeremias ist zu lesen: "Das Liebesgebot als Lebensgesetz der Königsherrschaft Jesu" begründet Jesu "Kritik am Gottesrecht des Alten Äon". "Jesus lehnt die Sabbathalacha ab." Gewiß, er strapaziert bis aufs Äußerste die Sabbathalacha, aber gerade aufgrund der für ihn nicht angezweifelten Gültigkeit der Tora und der ebensowenig angezweifelten messianischen Hoffnungen - beides sind jüdische Denk- und Verhaltenskategorien.

Wie sich ein innerjüdischer Streit als innerchristlicher Streit darstellt, das wird an der Auseinandersetzung zwischen Petrus und Paulus deutlich. Paulus schreibt Gal 5, 9f: "Aber zu der Zeit, als ihr Gott noch nicht kanntet, dientet ihr denen, die in Wahrheit nicht Götter sind. Nachdem ihr aber Gott erkannt habt, ja vielmehr von Gott erkannt seid, wie wendet ihr euch dann wieder den schwachen und dürftigen Mächten zu, denen ihr von neuem dienen wollt? Ihr haltet bestimmte Tage ein und Monate und Zeiten und Jahre. Ich fürchte für euch, daß ich vielleicht vergebens bei euch gearbeitet habe." Der Kompromiß zwischen beiden basiert auf den noachidischen Geboten (Apg. 15, 28). An dieser Stelle ist hinzuzufügen, daß die heidenchristliche, also mehrheitliche Christenheit immer mehr als nur die noachidischen Gebote als gültig ansah. Das Alte Testament war und blieb - gegen viele Traditionen der Verachtung und Versuche des Ausschlusses - das Buch auch der Kirche.

Noch dem Auseinandergehen der Wege zwischen Juden und Christen wird der Sonntag in zunehmenden Maße Erkennungszeichen der Christen. Die Distanz zum Sabbat, vor allem nach der Zerstörung Jerusalems und der antijüdischen Gesetzgebung von Hadrian wächst. Ignatius, Bischof von Antiochien (er findet um 108 den Tod im Stadion von Rom) schreibt an die Magnesier (8, 1): "Wenn wir bisher noch dem Judentum lebten, bekennen wir, die Gnade nicht ernpfangen zu haben." In der frühen Christenheit läßt sich die doppelte Bemühung erkennen, einmal das Erbe der jüdischen Tradition anzutreten; immer stärker im Verständnis, der Alleinerbe zu sein. Zum anderen geht man auf Distanz zur jüdischen Tradition der Gegenwart. In der Apostellehre, der Didache heißt es (14, 1): "An jedem Herrentag versammelt euch, brecht das Brot und sagt Dank, indem ihr eure Übertretungen bekennt, damit euer Opfer rein sei!" Es wird verlangt, sich vorher mit dem Nächsten zu versöhnen. Das Gebet über Brot und Wein heißt (9,2): "Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes, den du uns offenbart hast durch Jesus deinen Knecht." Die jüdische Urfassung des Gebetes heißt bekanntlich: "Gepriesen seist du Herr, unser Gott der König der Welt, der da schafft die Frucht des Weinstocks." Der Weinstock, das alte Bild für Israel, ist nicht mehr der lebendige Wurzelgrund und der lebendige Nachbar der Kirche, sondern personifiziert in David nur den Vorläufer Jesu Christi.

Nachdem Hadrian den Tempel in Jerusalern als Zeustempel wieder aufgebaut hatte (was zum Auslöser für den Bar-Kochba-Aufstand wurde) steht im Barnabasbrief (ca. 130 n.Chr.) zu lesen: Wie die Heiden haben die Juden im Tempel Gott verehrt; deswegen sei er niedergerissen worden (16, 1ff). Vorher lautete die Diskreditierung des jüdischen Gottesdienstes so: "Gott spricht: Nicht die jetzigen Sabbate sind mir angenehm, sondern der, den ich gemacht habe, an dem ich das All zur Ruhe bringen werde und den Anfang eines 8. Tages machen werde, also den Anfang einer neuen Welt. Deshalb begehen wir den 8. Tag unserer Freude, an dem auch Jesus von den Toten auferstanden und, nachdem er erschien, in den Himmel aufgestiegen ist." Der Auferstehungstag und der Himmelfahrtstag werden zu einem Unterpfand der Hoffnung auf die Erneuerung der Welt - ein Gedanke, der vor allem in der orthodoxen christlichen Tradition lebendig blieb. Hier wie dort baut er auf Enterbung auf.

Erst 321 wird der Sonntag unter Bezug auf das Sabbatgebot zum staatlich verordneten Feiertag. An diesem Ruhetag, so vor allem wird er qualifiziert, dürfen keine Gerichtsverhandlungen und Urteilsvollstreckungen stattfinden. Ebenso haben opera servilia, schwere Arbeiten der Sklaven, zu unterbleiben, damit die Sklaven Gelegenheit zum Gottesdienstbesuch haben. Später wird in der Gesetzgebung der christlichen Staaten alle schwere Arbeit verboten. Die Anordnung von Konstantin (321) enthält auch den Satz: "Ich Petrus und ich Paulus ordnen an, daß die Unfreien fünf Tage arbeiten und den Sabbat und den Herrentag freihaben sollen."

Ist das Alte Testament Teil der christlichen Bibel, werden die Sabbatgebote jetzt auch staatsrechtlich relevant. Unter Bezug auf 4. Mose 15, 31 ff werden schwere Strafen für die "Sabbatschänder" angeordnet. Wer Gebote übertritt, als Fremder oder Einheimischer, soll ausgerottet werden aus dem Volk. Erst die Reformation beseitigt die staatlichen Strafen für Sonntagsschändung. Erst bei den Puritanern und Pietisten gibt es Ansätze, sie wieder einzuführen. Thomas von Aquin hält an der 7-Tage-Woche fest und am 7. Tag als Ruhetag, aber "nicht unter dem Zwang des Gebotes im Gesetz, sondern infolge der Anordnung der Kirche und der Gewohnheit des christlichen Volkes". Hier findet sich der Gedanke, möglichst konkrete Regelungen aus der Souveränität und Anordnung Gottes in die des Staates und des Brauchtums zu überführen.

Zwei Blicke auf die Unwelt sind in diesem Zusammenhang noch einmal notwendig. In der babylonisch-assyrischen Überlieferung war der 7. Tag ein böser Tag. Er war frei für König und Hofstaat. Der 7. Tag war in Rom schon vor der Christianisierung (wahrscheinlich durch die jüdische Diaspora) eingeführt. Die Tage bestimmten sich nach Götternamen: Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus. Namen, die in die Wochentagsnamen fast aller europäischen Sprachen bis heute eingegangen sind.

Wichtiger wurde in der christlichen Ausprägung der Sonntagstradition die Abgrenzung gegen den Hellenismus. Aristoteles hatte (im 10. Buch seiner nikomachischen Ethik) auf die Notwendigkeit von Muße hingewiesen. Muße ist wie der Frieden gegenüber dem Krieg. Aber es war der Krieg, wo es Ehre und Ruhm zu ernten gab, eine Sache der nichtarbeitenden Schicht. Arbeit war Sache der Sklaven, der Unfreien. "Geistig zu leben ist etwas Göttliches." Das schließt die Beteiligung an gesellschaftlichen Aufgaben ein. Für Politik (auch für die vielgerühmte griechische Demokratie) war nur die Minderheit der Freien verantwortlich, nicht der Frauen und nicht der Sklaven. Sie mußte sich nicht um die Sicherung ihrer materiellen Lebensgrundlagen bemühen.

These 5: Die Leidenschaft der Reformatoren stützt den Sonntag mit einer pragmatischen Argumentation ab.
Es ist praktisch und gut zusammenzukommen. Theologisch steht dahinter: Jeder Tag ist Sonntag, so wie alles, was Menschen tun in ihrer Alltagsarbeit auch Gottesdienst ist. Damit sind zwei Grenzzäune, die die mittelalterliche Kirche durchzogen, niedergelegt. Einmal ist es die Grenze zwischen sakralem und profanem Bereich und zum anderen die Grenze zwischen verschiedenen Ständen durch den Gedanken des Priestertums aller Gläubigen. Jetzt wird der Sonntag der Tag des öffentlichen Lernens, Lobens und Zusammenkommens. Calvin betont stark Gottes Gebot, das die Christengemeinde zusammenbringt, um sein Wort zu hören. Zur Heiligung des Lebens setzt Gott eine Grenze durch den 7. Tag gegenüber den 6 Tagen. Luther schreibt im kleinen Katechismus zur Erklärung des Gebotes "Du sollst den Feiertag heiligen": "Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern es heilig halten, gerne hören und lernen." Die Universalisierung des Sonntags wird im großen Katechismus noch deutlicher ausgesprochen: "Wir halten Feiertag nicht um der verständigen und gelehrten Christen willen; denn diese bedürfens nicht.. Wir Christen sollen immer den Feiertag halten, bloß heilige Dinge treiben, d.h. täglich mit Gottes Wort umgehen und es in Herz und Mund tragen. Aber weil wir nicht alle Zeit und Muße haben, müssen wir die Woche etliche Stunden für die Jugend oder zum wenigsten einen Tag für den ganzen Haufen dazu brauchen, daß man sich allein darum bekümmere und eben die Zehn Gebote, den Glauben und das Vaterunser treibe und so unser ganzes Leben und Wesen nach Gottes Wort richte." Dahinter steht bei ihm ein Grundgedanke, den er in der Schrift von 1520 "An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung" deutlich ausgeführt hat (und den zum Glück noch niemand den Regierungen des Bundes und der Länder verraten hat).

Unter Punkt 18 fordert er dort: "Sollte man alle Feste abschaffen und allein den Sonntag behalten. Wollte man aber durchaus die Feste unserer Frau und der großen Heiligen halten, so sollten sie alle auf den Sonntag verlegt werden, oder es sollte nur Morgenmesse gehalten werde, und man sollte danach den ganzen Tag Werktag sein lassen. Ursache: Mißbrauch mit Saufen, Spielen, Müßiggang und allerlei Sünde, so erzürnen wir Gott mehr an den Heiligentagen als an den anderen. Und es ist gerade umgekehrt: daß die Heiligentage nicht heilig, Werktage heilig sind."

Luther rechnet nach und kommt zu dem Ergebnis, daß die Leute "zweifachen Schaden" dadurch nehmen, daß sie ihre Arbeit versäumen und daß mehr verzehrt als sonst und dadurch der Leib geschwächt wird. Das Argument der christlichen Tradition läßt er nicht gelten, wenn er die Abschaffung der Kirchweihfeste verlangt. Sie solle man ganz austilgen, "sie werden Tavernen, Jahrmärkte und Spielhöllen - Gott zur Unehre, den Menschen zur Unseligkeit. Es hilft nichts, daß man sagt sie hätten einen kirchlichen Ursprung." Die Lebendigkeit, Neues auszulegen aus Gottes Wort wird in seiner Begründung zu dieser Haltung deutlich, wenn er schreibt, Gott könne sein eigenes Gesetz aufheben, wenn es mißbraucht wird. (Analog hat Luther die 7 Sakramente der katholischen Tradition auf die zwei in der Bibel begründeten reduziert).

Der Heidelberger Katechismus formuliert als Antwort auf die Frage, was Gott im vierten Gebot wolle: "Gott will zum einen, daß das Predigtamt und die christliche Unterweisung erhalten bleiben, und daß ich fleißig, besonders am Feiertag, zu der Gemeinde Gottes komme. Dort soll ich Gottes Wort lernen, die heiligen Sakramente gebrauchen, den Herrn öffentlich anrufen und Gaben christlicher Liebe darbringen. Zum andern soll ich an allen Tagen meines Lebens mich von meinen bösen Werken abwenden und den Herrn durch seinen Geist in mir wirken lassen. So fange ich den ewigen Ruhetag schon in diesem Leben an." In der Confessio Augustana wird unter Berufung auf Gal. 5, 1 auf den Unterschied zum jüdischen Gottesdienst (CA 28) großer Wert gelegt. Der Unterschied zwischen Gottes Wort und Menschensatzung gibt dafür die Begründung. Der Sabbat ist durch die Heilige Schrift "ein für allemal abgetan". Pragmatisch wird begründet, warum es den Sonntag geben muß, "auf daß das Volk weiß, wenn es zusammenkommen soll, hat die christliche Kirche den Sonntag dazu verordnet". Philip Jakob Spener hat in seiner Reformschrift, mit der er unter Rückgang auf die Bibel und die Reformationszeit die Kirche erneuern möchte, Wert auf einen strikten Gottesdienstbesuch am Sonntag gelegt. Er erreichte einen Beschluß des Stadtrates von Frankfurt 1665, daß die Jugend am Sonntag zum Gottesdienst gehen muß, an jedem Sonntag solle ein Artikel des Katechismus gelehrt werden. Auf der anderen Seite betont er - gerade auch gegen die Strenge der reformierten Kirche in den Niederlanden und in Schottland, Sonntag wie den Sabbat zu heiligen - die evangelische Freiheit in der Sonntagsheiligung. Er kritisiert heftig die Juden in Frankfurt, daß sie den Sonntag nicht halten und durch die Einrichtung des Schabbesgoi Christen verführten, den Sonntag zu schänden.

These 6: Der siebte Tag ist der Tag der Freiheit und nicht der Freizeit, der den Menschen nach Gottes Schöpfung vor der völligen Verdinglichung bewahren soll.
Karl Barth hat (KD III, 1, S. 108) als Zielpunkt des ersten Schöpfungsberichtes die "Sabbatfreiheit, Sabbatfeier und Sabbatfreude, an der doch auch der Mensch teilzunehmen berufen ist", genannt. Sabbat wird von ihm "Heiligtum in der Zeit" genannt. Bei allen Antijudaismen, die sich in Karl Barths Dogmatik auch finden, beendet er die Diffamierung des Gesetzes als Gesetzlichkeit. Gesetz ist für ihn eine Gestalt des Evangeliums, beide sind Gestalten des Wortes Gottes, dessen Inhalt die Gnade ist. Der Feiertag ist für ihn der Beginn der Ethik. Seine Regeln der Freiheit sollen auch die Regeln des Alltags sein. Er betont bei seinen Konkretionen: a) die Freiheit in der Gemeinschaft und Mitmenschlichkeit zum Leben; b) die Freiheit, Ehrfurcht vor dem Leben zu haben und dadurch Gottes Handeln mit unserem Handeln zu entsprechen und c) die Freiheit in der Beschränkung.

Luther und Calvin hatten die Verdinglichung des Gottesdienstes und des Christseins kritisiert. Weder Gottesdienst noch Christsein sind durch bestimmte Rituale zu erfüllen, ohne daß die Rituale dadurch überflüssig würden. Die Reformatoren verkünden eine Freiheit zu und nicht eine Freiheit von der Praxis. In ihrer Kritik an der Verdinglichung von Riten, Verrechtlichungen und Kommerzialisierungen des Glaubenslebens stehen sie in der Linie der Propheten, des Paulus und vor allem Jesu. In einem Gespräch mit dem gerade aus stalinistischer Haft freigelassenen früheren Kultusminister von Ungarn (1919 und wieder 1956) kritisierte Georg Lukacs, daß der Marxismus einer idealistischen Kurzsichtigkeit verfallen sei. Er habe übersehen, daß auch die Freizeit industrialisiert und der Mensch dadurch - in Konkurrenz- und Leistungsdruck mit anderen - sich selbst entfremdet werde. Schaut man sich die Freizeit- und Unterhaltungsindustrie an, dazu deren Auswirkungen auf die Schule, so kann man Lukacs nur recht geben. Die Globalisierung des Marktes gefährdet auch den Sonntag. Ihn als privates Biotop zu retten ist sinnlos und unmöglich. Georg Lukacs steht in der Tradition von Paul Tillich, der 1928 schon auf die Verdinglichung des Menschen, d.h. die Herrschaft der Dinge, die für den Menschen eigentlich da sind und die ihn aber in der wachsenden Automaten-und Maschinenwelt sich untertan machen, hingewiesen hatte.

Wie kann man in der Industrie-Gesellschaft den Ruhetag gestalten, besser: neu gewinnen?
I. Beobachtungen
  1. Wissenswert ist, daß von je 1000 Beschäftigten in Italien sonntags 23, im EU-Durchschnitt 47, in Deutschland 46 und in Dänemark 91 Menschen arbeiten müssen. Deutschland liegt also im Mittelfeld.
  2. Niemand sollte die Risiken der schönen neuen Arbeitswelt leugnen. Wo die alten Arbeitszeiten erodieren, steht zwangsläufig die Verläßlichkeit der Freizeit auf dem Spiel. Gerade in Familien, in denen beiden Eltern arbeiten, darf das gemeinsame Leben nicht der Zufälligkeit der Schichtpläne ausgeliefert werden. Aber gerade, weil in den meisten Fällen nicht alle Mitarbeiter am Wochenende bereitstehen müssen, gibt es Raum für individuelle Lösungen. Wo immer es geht, sollte niemand zur Wochenendarbeit gezwungen werden; wo immer es geht, muß der Sonntag freibleiben und die Zeitplanung für die Betroffenen langfristig und verbindlich sein. Den Unternehmen ist zuzumuten, die Arbeitswilligen durch attraktive Zeitmodelle zu belohnen." (DIE ZEIT 18.08.1995)
II. Wertekonsens in einer pluralistischen Gesellschaft?

Eine Gesellschaft braucht gewisse Spielregeln, um menschliches Leben, Zusammenleben und Überleben zu ermöglichen.

Faktisch ist es Aufgabe der Religionen (gewesen und in Zukunft), einen Beitrag zu diesen Spielregeln zu leisten. Dabei geht es nicht nur um Spielregeln des Rechtes und der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe, sondern auch um Spielregeln im Umgang mit der Zeit. Es geht auch nicht nur um Regeln für die Gläubigen. Judentum und Kirche haben durch Sabbat und Sonntag ähnliche Beiträge geleistet. Da es sich um einen Beitrag als Wohltat für alle, Gläubige und Nichtgläubige, handelt, muß geklärt werden ob Feiertagsregelungen mit staatlicher Hilfe durchgesetzt werden sollen?

In der französischen Revolution wurde vom Oktober 1793 bis zum Dezember 1805 das Jahr in 12 Monate eingeteilt, zu je 3 Dekaden, also 10 Tage. Im Schaltjahr wurde als Gedenktag "der Tag der Revolution" hinzugegeben.

Die russische Revolution führte 1917 für eine kurze Zeit eine gleitende 5-Tage-Woche ein. Beide revolutionäre Veränderungen wurden wieder aufgegeben. Die jetzt stattfindenden Veränderungen in den Marktwirtschaften zeigen, daß ein hochnäsiger Blick auf revolutionäre Veränderungen nicht erlaubt ist. Es gilt die Beobachtung, daß durch nichts die Religionen (überall auf der Welt) mit ihrer lebensgestaltenden Kraft und Praxis so infrage gestellt werden wie durch die Industriegesellschaft. Sie ist nicht wertneutral, sie verändert gültige Werte. Die dominanten Werte wie Effizienz, Konkurrenz oder Wachstum dringen auch in die zwischenmenschlichen Beziehungen ein. Feiertags-und Zeitregelungen folgen keinen Festjahren und religiösen Fixpunkten, sondern den Rhythmen der Medien und Maschinen.

Welche Strategie ist zu verfolgen? Gegensteuern oder Anpassen? Verteidigen, was wir haben? Um jeden Preis?

Das Grundgesetz garantiert in Art. 139 (wo der Art. 140 der Weimarer Verfassung aufgenommen wurde): "Der Sonntag und staatlich anerkannte Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und seelischen Erhebung geschützt." In der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik hieß es: "Der Sonntag, die Feiertage und der 1. Mai sind Tage der Arbeitsruhe und stehen unter dem Schutz der Gesetze."

Die Gewerbeordnung, in kaiserlichen Zeiten 1895 erlassen, bestimmte, daß Arbeiter an Sonn- und Feiertagen nicht beschäftigt werden dürfen. Dieser Erlaß wurde 1938 in der Zeit der Hochrüstung und der Kriegsvorbereitung durch eine neue Arbeitsordnung verändert Weitgehende Ausnahmen waren jetzt möglich, "wenn sie im öffentlichen Interesse dringend notwendig sind". 1957 gab es Ausnahmebestimmungen für die Stahlindustrie. Sie waren - man höre und staune! - mit den Kirchen ausgehandelt. Lese ich die damaligen Verhandlungen nach und höre auf die heutigen Stimmen, zum Beispiel zur Abschaffung des Buß- und Bettages, so fällt ein wichtiger Unterschied auf: Damals haben sich in den kirchlichen Kommissionen, die mit Gewerkschaften und Arbeitgebern zusammensaßen, die kirchlichen Vertreter sachkundig gemacht, z.B. über Laufzeiten und Beschichtung von Siemens-Martin-Öfen. Es wurde darüber verhandelt, ob sie die Wärme, wie bei Hochöfen in Zeiten der Ruhe durchhalten. Es wurde eine 42-Stunden-Schicht vereinbart, 13 Sonntage sollten unbedingt (mit drei bis vier anhängenden Tagen) frei sein. Heute wird postuliert, kaum jemand läßt sich auf die Bedingungen der Industriegesellschaft und ihrer Einzelheiten in den vielen Sektoren von Produktion und Dienstleistung ein. Es hat sich gezeigt, daß die Vereinbarung von 1957 einen Dammbruch bedeutete. Die chemische Industrie und Papierindustrie folgten.

Ein Blick in die USA zeigt, daß in fast allen Bundesstaaten Arbeit und Handel am Sonntag verboten sind mit Ausnahme von "work of necessity and charity". Die USA sehen sich selbst und akzeptieren sich selbst sehr viel stärker als eine multireligiöse Gesellschaft, in der die religiösen Feiertage der verschiedenen Religionen nicht durch staatlich geschützte Arbeitsruhe gefeiert werden.

III. Sinngebung gegen Rotation und Eigengesetzlichkeit

Zum biblischen Erbe gehört eine Auffassung von Geschichte, die Anfang und Ende, Ursprung und Ziel und damit Sinngebung kennt. Das gilt auch für Freizeit und Arbeit. Ist die 7-Tage-Regelung eine Analogie zum Biorhythmus, wie mein biologischer Kollege in Siegen mir erklärt? Ist es deswegen sinnvoll, die gesellschaftliche Verteilung von Freizeit und Arbeit an diesem Biorhythmus zu orientieren? Ist deswegen eine zyklische Geschichtsauffassung weniger akzeptabel. weil es dann nahe liegt, "Rotation als Lebensstil" zu installieren? Wird dadurch nicht die gänzlich andere biblische Vorstellung von Zeit zerstört?

Ich warne an dieser Stelle vor jeder Illusion: Nicht nur unser Wirtschaftsminister spricht von der radikalen Autonomie der Wirtschaft: "Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt." Eigengesetzlichkeiten und damit verbundene Zwangsläufigkeiten waren nicht nur ein Kennzeichen für Wirtschaft in der Nazizeit. Damals beteiligte sich, nach dem amerikanischen Historiker Raul Hilberg z.B. die IG Farben an der Errichtung von Fabriken in Auschwitz, also in einem für die Firma stabilen, für die Arbeitskräfte tödlichen Investitionsklima. Raul Hilberg schreibt, daß "das Ziel natürlich nicht war, Juden zu vernichten, sondern die Produktion auszuweiten."

Ich vergleiche nicht die Industrie der damaligen Zeit mit der Industrie heute. Ich weise nur auf das Faktum hin, daß Werte (oder Unwerte) durch die Industrie- und Mediengesellschaft geschaffen werden, die im Konflikt mit Werten der Menschlichkeit treten. Extreme Zeiten machen das extrem deutlich, demokratische Zeiten, wie unsere, lassen es aber nicht undeutlich.

Ich ziehe daraus die Folge, daß ethische, d.h. auch biblische Normen, für alle Institutionen gelten, wenn sie denn für die Menschen da sind und nicht die Menschen für sich dasein lassen. D.h. sie gelten auch für die Industrie. Und hier tauchen meine Fragen auf. Wird genauso viel Scharfsinn darauf verwandt, Sonntagsarbeit zu minimalisieren oder zu vermeiden wie auf die Entwicklung der Dienstleistungen und Produktionsanlagen, die dauernd im Dienst sind? Eine Marktwirtschaft ist nur dann sozial, wenn sie gegen die Zielsetzung einer reinen Marktwirtschaft verstößt.

IV. Unmenschliche oder menschliche Deregulierung

  1. Wer eine marktwirtschaftliche und soziale Deregulierung fordert, schafft auch eine ethische Deregulierung, d.h. ethosfreie Zonen. Ich erinnere an geschichtliche Beispiele ethischer Deregulierungen, die von Staat und Gesellschaft weitgehend nicht nur durchgesetzt, sondern auch gesellschaftlich akzeptiert worden waren:
  2. Euthanasie. Der Mainzer Rechtsphilosoph Robert Hoerster schreibt "kirchliche Dogmen behindern humane Regelungen der Sterbehilfe". Er kann es nicht einsehen, wie weit der Staat Sterbehilfe verbieten darf bei Alten, die unheilbar krank sind, bei Behinderten und bei psychisch Kranken. Sie könnten Sterbehilfe verlangen. Was hatten Staat und Gesellschaft hier zu tun? Liegt es nicht an den Patienten und den gewissenhaften Ärzten, die Entscheidung zu treffen? Wenn der Kranke selbst den Wunsch nicht aussprechen kann, können es Ärzte oder Verwandte, um dessen "mutmaßlichen Willen" zu erfüllen.
  3. Der Nobelpreisträger für Wirtschaft August von Hayek schrieb vor Jahren: "Wirtschaftliche Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich... Gerade die Unterschiede in der Entlohnung sind es, die den Einzelnen dazu bewegen, das zu tun, was das Sozialprodukt erst entstehen läßt... Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist in einer marktwirtschaftlichen Ordnung völlig sinnlos... Wer ihn in den Mund nimmt, sollte sich schämen!"

    Über den Zusammenhang von ökonomischer und ethischer Deregulierung zwei Zitate:

    "Sonntagsarbeit. Verzwickt. Den Feiertag zu ehren befiehlt das 3. Gebot. Bemühe dich darum, dich vor Gott zu erweisen als ein rechtschaffener und untadeliger Arbeiter, sagt wiederum Paulus. Unter profanen Standortbedingungen erweisen sich diese Mahnungen als verzwickt. Denn als untadeliger Arbeiter gilt heute, wer sich als flexibel erweist, als rechtschaffen, wer immer einen Schritt schneller ist als die internationale Konkurrenz. Und die läßt auch am 7. Tag die Arbeit nicht ruhen. Das bekommen nun auch die Arbeiter des Reifenherstellers Pirelli zu spüren. Künftig sollen sie ohne Unterlaß Pneus fertigen, Tag und Nacht und auch an Sonn- und Feiertagen. Andere Unternehmen der Branche sollen folgen und auch Volkswagen drängt in diesen Tagen seine Werktätigen, endlich den Samstag als Regelarbeitstag freizugeben. Sie fürchten, daß dies nur der Einstieg in die Sonntagsarbeit ist. Allenthalben ertönt der Ruf noch FlexibiIisierung, und glaubt man den Meinungsforschern von Emnid, haben die Menschen ihn erhört. Demnach meint die Mehrheit, daß vor allem eine bessere Maschinenauslastung durch geschmeidigere Arbeitszeiten die Jobs in diesem Lande retten kann - ohne Arbeit am Tag des Herrn droht dem Standort das jüngste Gericht. Doch auch in einer säkularisierten Arbeitswelt muß der Mensch im Mittelpunkt stehen - eine wahrhaft verzwickte Aufgabe." (DIE ZEIT 11.08.1995)

    Was soll die christliche Gemeinde, die zerrissen ist, raten?

    "Der CDU-Sozialpolitiker H. Geißler hat den Sonntag als regulären Arbeitstag strikt abgelehnt. 'Gegen eine 7-Tage-Woche sprechen nicht nur religiöse und gesellschaftliche, sondern auch arbeitsökonomische Gründe', sagte Geißler im Südwestfunk. 'Denn die Leute brauchen, wenn sie 5 oder 6 Tage gearbeitet haben, ihre Ruhe.' Das Prinzip der Sonntagsruhe habe für ihn da seine Grenzen, wo die Existenz von Betrieben auf dem Spiel stehe.

    Schon Jesus habe den Pharisäern vorgeworfen, daß sie den Bauern verbieten wollten, am Sabbat die Kuh aus der Grube zu ziehen. 'Was damals die Kuh für den Bauern gewesen ist, daß ist heute in vielen Fallen für den Arbeitnehmer der eigene Betrieb.' An der bisherigen Praxis der Zuschläge für Wochenendarbeit darf nach Ansicht Geißlers nicht gerüttelt werden." Nicht nur Befreiungstheologen, auch christlich-demokratische Politiker sind von Antijudaismen nicht frei.

  4. 2. Eine Deregulierung im guten Sinne bedeutet auch die Flexibilisierung, besser die Dynamisierung von Ethik und Glaubenspraxis. Das bedeutet, Worte der Bibel nicht wie Dogmen anzusehen ("Seid untertan der Obrigkeit!"; "Da suchten die Juden ihn zu töten"). Das biblische Motiv für eine solche Dynamisierung der Ethik besteht darin, daß die Gebote, die Tora eben keine Dogmen formuliert sondern konkrete Gebote in konkreten Situationen. Das gilt für die Gottesdienste-, Tempel- und Feiertagskritik in Amos 5, 21 oder Jer 7. Die Lebendigkeit des Willens Gottes und die sich wandelnden Lebenssituationen der Menschen bedingen die Freiheit, die Gebote immer neu auszulegen, ohne sie aufzugeben.

    Wenn nun die Beziehung zwischen Juden und Christen nicht vergiftet ist durch eine prinzipiell unterschiedliche Auffassung von Sabbat und Sonntag, die sich feindlich gegenüber stünden, sondern durch das christliche Verständnis, daß der Sabbat angeblich durch Gesetzlichkeit charakterisiert sei (vgl. die Zitate von Arce und Geißler), was müssen wir dann lernen, um die Freiheit für neue Gebote heute zu gewinnen, die den alten Geboten treu bleiben?

V. Was tun?

Wir haben den ganzen Mut zusammenzunehmen, der uns vom biblischen Mut geblieben ist, die Bibel neu auszulegen und ihrer Selbstauslegungsdynamik zu folgen. Das kleine Sabbatgebot mit der doppelten Begründung (Gott ruhte am 7. Tag und Erinnerung an den Exodus) hat unter den Zehn Geboten die ausführlichste Begründung. Es hat in sich eine ungeheure Keimkraft oder Sprengkraft, Sklavenbefreiung, die Brache für die Natur und die Erntefreiheit für Arme und die Kreatur, die Restitution der Lebensgrundlagen für alle der Schuldenerlaß, das sind Beispiele wie in neuen Situationen das Sabbatgebot neu ausgelegt wurde. Bei uns ist davon eine kümmerliche Form übriggeblieben, die es alle 7 Semester den Professoren erlaubt, ein Sabbatical zu beantragen (das tun auch solche, die der Meinung sind, daß die Sabbatgesetzgebung im alten Israel nie funktioniert habe!)

Die Tradition Israels ist schon eine Dynamisierung und Demokratisierung der asyrisch-babylonischen Praxis, die auch einen 7. Tag kannte - allerdings nur für den König und die Menschen, die nah bei Hofe lebten. Die Bergpredigt ist ein weiteres Beispiel, wie innerhalb der Bibel das Alte gültig bleibt aber (gerade nicht in Antithesen!) zu neuen Geboten hin entfaltet wird.

Wenn die Christinnen und Christen nicht mit größerer Frechheit und Freiheit sich am Streit um Sonn- und Feiertage, genauer - am Streit um sinnvolle Werte, beteiligen, dann verraten sie ihre würzende und erhellende Aufgabe: Salz und Licht der Welt zu sein. Lassen wir uns nicht von den Experten einschüchtem oder vor Rissen ängstigen. Wir gehören als Gläubige, die alle gleichberechtigt Priester sind, zu verschiedenen Einkommensklassen, politischen Richtungen oder Frömmigkeitstypen. Uns verbindet das Geschenk Gottes im Sabbat oder im Sonntag sowie sein Auftrag, Zeit und Welt zwischen Schöpfung und Neuschöpfung menschlich zu gestalten.

Vortrag auf einem LOMDIM-Seminar im Ostertal, September 1995

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