Obadjas Bitte an die Nachbarn.   Predigt über Obadja 12-15 am 9. November 1999

von Martin Stöhr

I.
An einem Gedenktag wie dem 9. November zu einem ökumenischen Gottesdienst zusammenzukommen bedeutet, sich einer doppelten Wirklichkeit zu stellen: Der Wirklichkeit von Gottes Wort, d.h. von s e i n e r Vorstellung vom Menschen und von Menschlichkeit. Zum anderen sich der Wirklichkeit der Geschichte zu stellen. Ich mache an 5 Stationen nachdenklich halt:
·  Am 9. November 1620 landete die Mayflower mit den Pilgervätern,-kindern und -frauen in Nordamerika: Flüchtlinge aus Europa, denen ihre Glaubens- und Gewissensfreiheit verbietet, sich einem Staat oder einer Religion zu unterwerfen, die vorschreiben, was zu glauben oder zu denken sei. Dem Gewissen und dem Nonkonformismus solcher und ähnlicher Minderheiten verdanken wir die Menschenrechte, dh einen kräftigen Schub in Richtung Demokratie, also einer gelebten Verantwortung aller fürs Ganze des menschlichen Zusammenlebens. Was sich in den USA aus christlichen Quellen speiste, erwuchs in Frankreich aus antichristlichem Engagement. Aber hier wie dort wurden biblische Begriffe wie Menschenwürde aufgrund der Gottebenbildlichkeit aller Menschen, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit benutzt. Es gibt keine anderen. ·  Am 9. November 1918 wurde in Deutschland eine parlamentarische Demokratie ausgerufen. Für sie engagierten sich weniger Leute als gegen sie. ·  Am 9. November 1923 putschten völkische Mafiosi , darunter ein ausgemusterter Feldmarschall Ludendorff und ein ausgemusterter Gefreiter, gemeinsam mit ihren deutsch - nationalen Gesinnungsgenossen vor der Münchener Feldherrnhalle. Nichtsdestotrotz wählte unser Volk 10 Jahre später diese Leute in die Regierung. Sie hatten ihr Programm nie verheimlicht: Hochrüstung, Vernichtung des jüdischen Volkes, Verachtung von Recht und Freiheit. ·  Am 9. November 1939 versuchte ein pietistisch erzogener und kommunistisch wählender Schreiner . Johann Georg Elser, in einem einsamen Gewissensakt den Tyrannenmord an Hitler im Bürgerbräukeller. ·  Am 9. November 1989 öffneten Reform- und Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa die Berliner Mauer. Sie drückte in Beton und mit Minen die Verweigerung von Partizipation und Menschenrechten aus. Sie war ein Symbol des Kalten Krieges und der Teilung Europas in Ost und West. Diese Teilung ihrerseits war eine direkte Folge einer seit 1933 von unserem Land ausgehenden Teilung Europas in Herrenmenschen und Untermenschen. Diese Teilung Europas war als Neuordnung Europas seit den 20iger Jahren von rechts gedacht und gewollt.
II.
Und dann der 9. November 1938. In den Gottesdiensten der Synagogen wird um diese Jahreszeit der Prophet Obadja gelesen. Damals meldeten die Berichte der Schutz (!)- Polizei sehr genau, was alle Medien brav widergaben und was alle Bürgerinnen und Bürger dieses Landes sahen, wieviel Geschäfte, jüdische Wohnungen, Synagogen, Bethäuser, Friedhofskapellen, Altersheime oder Schulen belästigt, zerstört oder verwüstet worden waren. Nach Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau wurden Tausende von Juden, zwischen 16 und 78 Jahre alt , verschleppt. Wie in allen deutschen Dörfern und Städten damals ist die Statistik besser als die Solidarität mit den Geschlagenen.

Der Text der Predigt heute steht in den Versen 12 - 15 des Propheten Obadja. Er nennt seine Mitteilung eine "Vision". Er sieht, wie das Leben mit weniger Gewalt und Häme, mit weniger Unzuständigkeit und Gier gelebt werden könnte. Er lädt ein, zwischen den Geschichten der Bibel und unserer Geschichte hin und her zu gehen. Das erhöht sowohl unsere Sehschärfe wie unsere Zivilcourage. Das wirft ein erhellendes Licht auf unsere Wirklichkeit - wie sie ist und wie sie sein könnte. Obadja ist kein Wahrsager. Er ist wie alle Propheten ein Wahrheits - Sager, nennt die Dinge beim Namen, trifft ins Leben der Jäger und der Gejagten, der Mehrheit und der Minderheit, der Angepassten und der Bedrohten. Er schreibt an Edom, Israels Nachbar:

"Weide dich nicht an deinem Bruder am Tag seines Unglücks; freue dich nicht über die Söhne Judas am Tag ihres Untergangs und reisse dein Maul nicht auf am Tage ihrer Not . Dringe nicht ein in die Türen meines Volkes am Tage seines Verderbens, weide nicht auch du dich an seinem Unglück am Tage seines Verderbens, strecke die Hand nicht aus nach seinem Eigentum am Tage seines Verderbens. Stelle dich nicht an den Scheideweg, um seine Flüchtlinge niederzumachen und liefere seine Davongekommenen nicht aus am Tage der Not. Wie du getan hast, wird dir geschehen; die Tat fällt zurück auf dein Haupt."
III.
Zum geschichtlichen Hintergrund des kleinen Obadjabuches gehört die Zwillingsbruderschaft zwischen den Völkern Edom und Israel, personifiziert in den Zwillingsbrüdern Esau und Jakob, den Kindern Rebekkas und Isaaks. Sie stehen in ihrer Geschwisterlichkeit wie in ihrem Hass für nichtjüdische und jüdische Nachbarschaft. Esau, der sein Erstgeburtsrecht für ein Linsengericht verkauft hat ,und Jakob, der wahrhaftig kein Engel ist: Beide sind sehr wohl in der Lage, sich zu versöhnen. Diese Geschichte zeigt auch, dass es in der Geschichte Verhaltensalternativen gibt. Fatalistisch zu sagen, so sei die Geschichte nun einmal, das alles habe so kommen müssen - das ist die Einstellung von Menschen, die sich aus ihrer menschlichen Verantwortung selbst verabschieden und damit die Verantwortungslosigkeit vermehren.

In der deutschen Geschichte stehen für eine andere Möglichkeit, unsere Geschichte zu gestalten, Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn. Nein, die Geschichte muss nicht einer Automatik von Gewalt folgen. Mischen wir uns ein, folgt sie der Macht der Menschenrechte. Lessings und Mendelssohns Alternative wurde damals nicht gewählt. Erst nach der Katastrophe sind wir dabei, neu zu lernen, wie das Leben von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen, von Mehrheit und Minderheit humaner zu gestalten ist.

Obadja, wörtlich übersetzt "Knecht/Arbeiter Gottes", deutet die politischen Ereignisse zur Zeit der Zerstörung Jerusalems 586 v.Chr., als der Tempel verbrannt und geplündert und das jüdische Volk nach Osten, nach Babylon deportiert wurde. In der Erinnerung wird die Erfahrung so beschrieben:

"An den Wassern Babylons
sassen wir und weinten,
wenn wir an Zion gedachten.
Unsere Harfen hängten wir
an die Weiden dort im Lande.
Denn die uns gefangen hielten,
hiessen uns dort singen
und in unserem Heulen fröhlich sein." (Psalm 137)

Israel lehnte es ab, Elend und Gewalt auch noch mit Kunst zu kaschieren. In Auschwitz und Theresienstadt sowie in anderen Lagern zwang man gefangene Künstler, für die Wärter zu spielen ..."Ein Lied....einen Walzer....und zur Weihnachtszeit 'Stille Nacht....'" Der Psalm 137 aus der Deportationszeit richtet sich wie der Prophet voller Trauer und Wut an Edom, den Nachbarn Israels. Die bittere Erfahrung der jüdischen Bevölkerung ist: Die Nachbarn stellen sich in den Dienst derer, die verwüsten und deportieren.

Heinrich Heine beschreibt sein Edom, die christlichen Nachbarn, 1824 so:

"An Edom
Ein Jahrtausend schon und länger
dulden wir uns brüderlich;
du, du duldest, dass ich atme,
dass du rasest, dulde ich.
Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,
ward dir wunderlich zumut,
und die liebefrommen Tätzchen
färbtest du mit meinem Blut.
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
und noch täglich nimmt sie zu;
denn ich selbst begann zu rasen,
und ich werde fast wie du."

Israels Geschichte ist nicht nur eine Leidensgeschichte, sondern auch eine Geschichte der Selbstbehauptung und des Widerstandes.

Obadja sagt, was geschieht und was eigentlich nicht geschehen sollte: "Wegen Mordes, wegen des Frevels an deinem Bruder Jakob bedeckt dich Schande, wirst du vernichtet..." Damals, "als Fremde sein( Jakobs) Gut wegschleppten... da warst du wie einer von ihnen", eben kein Nachbar, sondern einer, der daneben stand, ein Mitläufer vielleicht, der die Frage von Kain nicht einmal mehr formulierte: "Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Nein, die Frage war zum Zeitpunkt der Schande, die kein Denkmal symbolisieren kann, längst beantwortet. Man war nicht der Hüter des Bruders, die Hüterin der Schwester. Sie waren für die meisten gleichgültig. Medien und Propaganda, Wissenschaft und Religion, Politik und Justiz, Militär und Industrie, Verwaltung und Schule hatten mehrheitlich Jakob/Israel schon lange als Fremde definiert, behandelt oder mit Worten niedergemacht, lange bevor sie physisch niedergemacht wurden. Gewalt hatte wie immer mit der Definitionsgewalt der Einen über die Anderen begonnen. Nichtstun wurde zur höchsten Aktivität, weil es Plünderung und Mord duldete. Reinhold Schneider notierte damals in sein Tagebuch, dass die Kirche an diesem Tag der Gewalt an der Seite der Synagoge hätte stehen müssen; dass sie es nicht tat, sei unsere Schuld.

Das Problem für Obadja ist in diesem Text nicht die Brutalität des vergöttlichten Nebukadnezar und der babylonischen Eroberer, die es lieben, dass die Leute vor ihnen das Rückgrat verbiegen und kuschen. Ihn beschäftigt der Mitläufer Edom, der Nachbar, der Bruder, der im Schatten der Gewalttäter entweder schweigt oder im Stillen denkt, wen das Unglück trifft, der sei doch irgendwie selber schuld. Warum sind sie hier und nicht woanders? Gehören sie überhaupt zu uns? Der sich bereichert am Eigentum der Deportierten und ihre Plätze einnimmt, ihre Geschäfte, Arzt- und Rechtsanwaltspraxen, ihre Stellen in Universitäten und Theatern, in Schulen und Turnvereinen, in den Medien und Handwerkskammern, in der Industrie- und Handelskammer - der weidet sich im wahrsten Sinn des Wortes am Unglück der anderen.
IV.
Obadja stellt in seiner Zeit fest, dass unter den Nachbarn der Juden "in Edom die Weisen verschwunden sind ... und keine Einsicht mehr da ist." Die Alltagsweisheit, wie Menschen zusammenleben, verdunstet, wo Hass und Gleichgültigkeit sich breit machen. Da sind keine dämonischen Kräfte am Werk, da regiert Dummheit auf Kosten der Menschlichkeit. Was aber ist fehlende Einsicht, also Dummheit?

Zwei bedeutende Theologen treffen sich nach 1945 in Basel. Helmut Thielicke, der als Mitglied der Bekennenden Kirche seinen Lehrstuhl verloren hatte, und Karl Barth, der 1934 aus seiner Bonner Universität nach Basel abgeschoben worden war. Der in Deutschland verbliebene Thielicke versucht die Schwierigkeiten in Nazi-Deutschland zu erklären. Tiefsinnig sagte er zu Karl Barth:" Wir haben Dämonen ins Auge geblickt!" Barth kontert spöttisch, diese hätten dann wohl fürchterlich gezittert, um sofort sehr ernsthaft hinzuzufügen: "Warum sagt ihr nicht: Wir sind politisch dumm gewesen?"

Das heisst doch: Warum werden politische Richtungen gewählt, die Minderheiten verachten, die nationalistisch die Sündenböcke bei denen suchen, die angeblich oder wirklich anders leben, glauben, singen, zweifeln? Warum wird Politik als schmutziges Geschäft betrachtet? Hat sie mehr Schmutzflecken auf der Weste als Unterhaltungsindustrien oder Wissenschaften, als Presse oder Religionen, als Wirtschaft oder der berühmte Mann auf der Strasse?Warum werden Antisemitismus wie Rassismus nicht wahrgenommen, geschweige denn ernstgenommen? Einsicht und Weisheit beginnen mit der Mühsal, "Warum - Fragen" zu stellen und sich mit oft unbefriedigenden Antworten zu plagen. Warum - Fragen verhindern Gedankenlosigkeit: Warum gibt es nur 5O Firmen, die nach 5O Jahren, nachdem die meisten nicht mehr leben, Zwangsarbeitern den gestohlenen Lohn endlich zahlen wollen? Warum gibt es zu viele Menschen, die das menschliche Zusammenleben - und nichts anderes heisst Politik - "denen da oben" überlassen statt den Produzenten und Verbrauchern von Vorurteilen und Feindbildern entgegenzutreten?:
" Deutsche Arbeit für Deutsche. - Nein, unsere Firma kann denen keinen Lohn nachzahlen, die, wie in allen namhaften Firmen hierzulande, durch ihre Zwangsarbeit unserer Wirtschaft zu Wachstum und Gewinn verholfen haben. - Deutschland den Deutschen. - Das Boot ist voll. - Macht endlich Schluss mit der Vergangenheit. - ."
Diesen Parolen sich nicht zu stellen, heisst den fragenden Gesichtern derer auszuweichen, die gelitten haben und leiden. Wie aber kann ich Verantwortung heute für morgen lernen, wenn ich nicht ein paar elementare Anständigkeiten heute leiste z.B. gegen den unanständigen Lohnbetrug an den Zwangsarbeitern und Lagerinsassen von gestern keinen Einspruch erhebe und über die arisierten Bankkonten und Häuser schweige? Verdränge ich das Unrecht, dann werde ich zu jenem Edom, das Obadja kritisiert. Ich vergesse die Geschwisterlichkeit, die Esau und Jakob verbindet. Diese Vergesslichkeit verlängert das Leiden der Leidenden und produziert mir eine Orientierungslosigkeit durch Gedächtnisverlust.

Dietrich Bonhoeffer schreibt in seiner Bilanz der l0 Jahre l933 - l943, kurz vor seiner Verhaftung: "Die Macht der einen braucht die Dummheit der anderen." Er sieht, wie hochbegabte Leute dumm sind und dumm handeln. Diese Dummheit misst sich nicht an Zeugnissen und Intelligenzquotienten, sondern an den Fragen: Verliere ich die aus den Augen, denen Unrecht geschieht? Sehe ich, was geschieht? Merke ich, was verdrängt wird? Will ich wissen, was ich wissen kann? Steigert sich meine Freude an der eigenen Kultur und Geschichte, wenn ich sie mit Geringschätzung anderer Kulturen und der Geschichte anderer verknüpfe? Sich am Unglück anderer zu weiden, heisst doch einen solchen billigen Lustgewinn zu kassieren: Gott, ich danke dir, dass ich nicht so bin wie die anderen, dass ich dazugehöre und nicht zu irgendwelchen Aussenseitern gezählt werde. Gefragt ist dagegen e t h i s c h e I n t e l l i g e n z , um menschlich mit unseren Mitmenschen ,unseren Fähigkeiten und unseren Defiziten umgehen zu können. Das ist die Vision des Obadja gegen Ausgrenzung, Diskriminierung oder Abschiebung von Problemen und Menschen.
V.
Ethische Intelligenz heisst, an den Nachbarn, seien sie fern, seien sie nah, nicht vorüberzugehen. Christa Reinig fordert ethische Intelligenz mit ihrem Gedicht " Gott sucht Kain" ein:
Als Gott mich suchte traf er mich nicht auf dem Acker
Als Gott mich suchte traf er mich beim Zeitunglesen
Er kam ganz schwarz, es war ein Kohlenpacker
Er sprach: Was ist mit Abel gestern losgewesen?
Ich sagte: Ich hab nichts gelesen
Er sprach: Der Mensch lebt nicht von Zeitung und vom Essen
Ich sagte: Sondern vom Vergessen
Er sprach: Was glaubst du, hast du ein ewiges Gesicht?
Ich sagte: Manchmal glaube ich, manchmal nicht
Er sprach: Und weißt von nichts und hörtest keinen Schrei
Ich sagte: Ich hörte wohl, ich ging vorbei.

Ein Gedenkgottesdienst am 9. November hat keine andere Aufgabe als die Einsicht einzuüben, dass unser Alltagswissen sich nicht von einem alltäglich wachsamen Gewissen abkoppelt, also nicht apathisch - gleichgültig, sondern sympathisch - mitfühlend handelt.

Dann werden Israel und seine Nachbarn wieder sicher im Lande wohnen, so schreibt Obadja in Fortsetzung unseres Textes - das ist damals so nötig und schwierig wie heute Diese Vision gibt er nicht auf. Aber bleiben wir in unserem Land: Dann leben nichtjüdische und jüdische Deutsche, Afrikaner, Türken oder Roma und Sinti ohne Angst und Prügel in deutscher Nachbarschaft. Obadja schliesst mit der Hoffnung, "dass Gott sein Reich aufrichten wird". Dies ist kein Wolkenkuckucksheim, sondern "das Reich der Menschen, wie es einmal werden wird" (Martin Buber). Zu diesem Weg und Ziel sagen wir Amen, Ja, es werde wahr - auch mit uns und unseren Nachbarn.

Predigt von Prof. D. Martin Stöhr am 9.11.1999 im Ökumenischen Gottesdienst in der Bonifatiuskirche Wiesbaden

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