50 Jahre christlich-jüdischer Dialog
Himmler und Mutter Teresa

Ein Gespräch mit Micha Brumlik

von Hedwig Gafga

In Rechtfertigungslehre und Judenmission hat der christliche Antijudaismus nach Ansicht des Heidelberger Hochschullehrers bis heute überlebt

Vor zwei Jahren zog Rabbiner Nathan Peter Levinson aus Heidelberg eine positive Bilanz des jüdisch-christlichen Dialogs. Es sei darin mehr erreicht worden als in achtzehn Jahrhunderten zuvor.
Micha Brumlik: Ich kann Nathan Peter Levinson insoweit folgen, als nicht nur in der deutschen, sondern vor allem in der französischen und angelsächsischen Theologie die antijudaistischen Züge des Christentums aufgedeckt wurden und sich herausstellte, dass das Christentum tatsächlich die Tochterreligion des Judentums und nur des Judentums ist. Deutlich wurde auch, dass Jesus in seinem Leben und Sterben Jude war.

Die Theologie hat Stereotypen aufgegeben, die einst mit dazu führten, dass Juden verfolgt wurden. Sie behauptet nicht mehr, Juden hätten Jesus gekreuzigt und Pogrome seien eine Strafe Gottes. Lebt Antijudaismus dennoch fort?
Brumlik: In dieser kruden Weise - im Sinne des Vorwurfs des Mordes Jesu, im Sinne des Vorwurfs, die Juden seien die Kinder des Satans, oder im Sinne des Vorwurfs, dass die Juden in irgendeiner Weise verworfen seien und Gott seine Verheißungen ihnen gegenüber aufgehoben habe, lebt der Antijudaismus nicht mehr fort. Jedenfalls nicht im aufgeklärten Teil der akademischen Theologie. Dennoch zeigte etwa die Auseinandersetzung auf dem letzten Kirchentag um die Judenmission, dass noch immer nicht klar ist, ob Christen bereit sind zuzugeben, dass Juden auch ohne Bezug auf Jesus und das Neue Testament in den Zustand von Liebe, Gerechtigkeit und Gnade des Gottes Israels kommen können.

Verhält sich die evangelische Kirche uneindeutig?
Brumlik: Sie kann sich jedenfalls nicht zu einer eindeutigen Ablehnung jeder Form von Judenmission, die beschönigend auch Zeugnis vor Juden für Christus genannt wird, verabschieden. Das empfinde ich als unbefriedigend.

Wieviel Bedeutung messen Sie den Aktivitäten kleiner Gruppen am Rand der Kirche zu?
Brumlik: Sie sind moralisch zu verurteilen, weil sie sich an Einwanderer aus dem Osten richten, die religiös überhaupt nicht gebildet sind und sich dagegen nicht wehren können. Zahlenmäßig kommt diesen Aktivitäten kaum eine Bedeutung zu. Viel beunruhigender ist die Art und Weise, wie die Mehrheitskirche diese Leute dennoch duldet und verteidigt. Das zeigt, dass das, was von diesen Gruppen nach außen gezeigt wird, in den Kirchen hinter vorgehaltener Hand als akzeptable Position verstanden wird.

Sollte die gesamte Kirche ihre Anerkennung des bleibenden Bundes Gottes mit Israel in einem Bekenntnis zum Ausdruck bringen? Brumlik: In vielen landeskirchlichen Grundordnungen ist eine veränderte Haltung zum Judentum formuliert. Sie sollte in Predigten, im Konfirmandenunterricht und in den Ordinationsgelübden von Pfarrerinnen und Pfarrern tatsächlich zum Ausdruck kommen.

Welches Thema steht zurzeit im jüdisch- christlichen Dialog auf der Tagesordnung?
Brumlik: An erster Stelle müsste in Deutschland der Dialog zwischen Juden und Protestanten stehen. Da scheint mir das, was ich als Antijudaismus bezeichnet habe, am ehesten überlebt zu haben. Und zwar in einer sehr anspruchsvollen Art und Weise. Wenn wir gegenwärtig die Auseinandersetzung der Universitätstheologie um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre mit der katholischen Kirche beobachten, sehen wir, dass immer wieder in äußerster Schärfe ein Gegensatz von Werkgerechtigkeit - das heißt, etwas verkürzt, Ethik - und Gnade konstruiert wird. Das ist ein großes Problem. Denn es kann gar nicht anders sein, als dass Theologen immer dort, wo sie verschärft gegen die so genannte Werkgerechtigkeit zu Felde ziehen, Erinnerungen an den Antijudaismus wecken und zugleich die ethisch-moralische Bedeutung von Judentum und Christentum herabstufen.

Führt die Gegenüberstellung von Werkgerechtigkeit und Gnade Ihrer Ansicht nach automatisch in den Antijudaismus? Gesetz und Gnade sind Themen des Alten Testaments.
Brumlik: Zwischen Judentum und Katholizismus oder Calvinismus spielt diese Frage überhaupt keine Rolle. Es ist ein spezifisch deutsches, ein lutherisches Problem. Da sehen die Protestanten in Thora (fünf Bücher Mose) und Halacha (gesetzlicher Teil der jüdischen Überlieferung) den Prototyp einer falschen Haltung der Werkgerechtigkeit - ohne dass nach jüdischer Tradition gerechtes Handeln so zu verstehen wäre, dass man sich von Sünden freikaufen könnte.

Martin Luther verwarf die Vorstellung, Menschen seien in der Lage, sich durch gute Taten, durch Leistung vor Gott zu rechtfertigen.
Brumlik: Der Gedanke, dass ein Mensch faktisch immer fehlbar sein kann, ist im Judentum gegenwärtig. Wir Juden beten an jedem Versöhnungstag, am Jom Kippur, um die Vergebung für das, was wir falsch gemacht haben, und sind gehalten, uns mit unseren Mitmenschen zu versöhnen. Aber die Vorstellung, dass Menschen generell nicht in der Lage sind, aus eigener Anstrengung gerecht zu handeln, hat nicht nur auf der motivationalen Ebene verheerende Folgen, sondern führt auch zu der paradoxen Konsequenz, dass letzten Endes - aus der Perspektive Gottes, aber bitte, wer will sie kennen? - zwischen Mutter Teresa und Heinrich Himmler kein Unterschied ist. Weil es ja auf das Handeln offensichtlich kaum ankommt.

Was Sie fordern, ist eine Neuformulierung des Kerns der reformatorischen Lehre.
Brumlik: Wenn die lutherische Theologie in diesen Grundsatzfragen bereits Schwierigkeiten hat, sich mit dem Katholizismus zu einigen, wird es umso schwerer sein, sich mit dem Judentum oder gar dem Islam zu verständigen.

Kann im Dialog ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Juden und Christen wachsen?
Brumlik: Beide Seiten des Dialogs empfinden eine starke Verpflichtung auf den Teil der Bibel, den man als hebräische Bibel oder Altes Testament verstehen kann. Obwohl man sich eingestehen muss, dass die hebräische Bibel eine andere ist, je nachdem ob sie durch die Brille des Neuen Testaments oder des rabbinischen Judentums gelesen wird. Es gibt eine große Nähe, aber es ist die Nähe aus unterschiedlichen Perspektiven.

Weder in der Arbeit der christlich- jüdischen Gesellschaften noch im jüdisch-christlichen Arbeitskreis des evangelischen Kirchentags geht es allein um Glaubenswahrheit. Der Theologe Martin Stöhr nannte die Gesellschaften einmal eine Bürgerbewegung für Menschenrechte und Demokratie. Allerdings scheint es heute schwer, Menschen dafür zu begeistern. Haben sich bestimmte Formen, etwa die Veranstaltungen zur Woche der Brüderlichkeit, überlebt?
Brumlik: Richtig ist, dass die Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit Schwierigkeiten mit der Nachwuchsrekrutierung haben. Es gibt einen bildungsbürgerlichen Überhang, der einen Teil der Jugend, die ohnehin immer weniger religiös ist, nicht interessiert. Die Gesellschaften müssen große Anstrengungen unternehmen, um Jüngere zu erreichen.

Im letzten Jahrzehnt haben Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in Deutschland zugenommen. Müssten die Kirchen gegen rassistische Anschläge deutlicher Stellung beziehen?
Brumlik: Ich glaube nicht, dass Antisemitismus und Rassismus zugenommen haben. Aber aufgrund bestimmter politischer Entwicklungen ist es für Rassisten heute leichter, ihre Einstellungen offen zu zeigen. Zudem ist Rassismus im östlichen Teil Deutschlands sehr viel stärker ausgeprägt als im Westen. Die Anzahl der rassistischen Straftaten ist gleich hoch, nur dass im Osten nur rund ein Viertel der Bevölkerung lebt. Dies ist ein ostdeutsches Problem, und dort ist der Einfluss der Kirchen begrenzt. Gleichwohl würde ich mir wünschen, dass die Kirchen auch in dieser Situation kompromisslos - auch auf die Gefahr hin, den einen oder anderen vor den Kopf zu stoßen - gegen derartige Machenschaften angingen. Mir scheint, dass insbesondere in Brandenburg immer ein bisschen zu viel Verständnis für derartige Straftäter geäußert worden ist.

Wird die Erinnerung an die Judenvernichtung im Dialog in Zukunft eine geringere Rolle spielen? Tritt stattdessen, wie manche meinen, der kulturelle und religiöse Austausch in den Vordergrund?
Brumlik: Ich glaube nicht, dass man beides, das Eingedenken und die Ausrichtung auf die Zukunft, voneinander abtrennen kann. Wer sich in Deutschland für universelle Rechte, für den Dialog mit anderen Kulturen engagiert, muss sich immer wieder des Irrgangs der deutschen Gesellschaft und Kultur in den Jahren des Nationalsozialismus versichern. Wenn man das unterlässt, kommen die alten Gespenster wieder, wie man bei einem Teil der linken Palästina-Solidarität gesehen hat, die unversehens antijudaistische Motive wieder belebte.

Ist es an der Zeit, dass sich der Dialog zwischen den Religionen ausweitet, beispielsweise auch Muslime einbezieht?
Brumlik: Man wird damit allmählich anfangen müssen. Aber eines ist klar: Es hat in Deutschland 50 Jahre gebraucht, bis man zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Juden und Christen gekommen ist. Schneller wird es in Bezug auf die anderen Religionen auch nicht gehen. Man wird das mit der gleichen Hartnäckigkeit betreiben müssen. Auf der anderen Seite wäre es furchtbar, wenn der jüdisch-christliche Dialog eine Modeerscheinung gewesen wäre, die wir jetzt abhaken. Die Debatte um Judenmission und Rechtfertigung zeigt, dass trotz dieser 50 Jahre sehr viele Aufgaben noch nicht in Angriff genommen sind.

aus: DEUTSCHES ALLGEMEINES SONNTAGSBLATT, 22. Oktober 1999 Nr. 43/1999

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