Krieg ohne Front

Der Hass hätte niemals ausbrechen dürfen

von Yoram Kaniuk

Im Abgrund, der sich seit den Gesprächen von Camp David aufgetan hat, sterben Menschen. Es stirbt aber auch der Traum von einem nahen Frieden. Jahre haben wir darauf hingearbeitet, einen Punkt zu erreichen, an dem über einen historischen Ausgleich gesprochen wird. Die politische Rechte hat nur gelacht, wir haben daran geglaubt. Sehr viele Jahre voller Höhen und Tiefen. Und dann kam Oslo und entfachte noch größere Hoffnungen. Doch künftig werden wir nach anderen suchen müssen, die an unserem Traum teilhaben.

Vor einer Woche war ich mit einem Fernsehteam in der Nähe von Ramallah unterwegs, als sie anfingen, uns mit Steinen zu bewerfen. Ein von einer Schleuder abgefeuerter Stein flog mit enormer Geschwindigkeit durch die rechte Seitenscheibe des Wagens herein und durch die linke wieder hinaus. Der Stein war groß und scharfkantig und zischte ungefähr einen Zentimeter an meinem Gesicht vorbei. Wären wir auch nur eine Sekunde schneller oder langsamer gefahren, müsste jetzt der Stein diese Zeilen schreiben.

In der Spanne zwischen diesen beiden Geschwindigkeiten befinden sich sowohl Israel als auch das palästinensische Volk. Ein Team des italienischen Fernsehens zeichnete den Lynchmord an zwei israelischen Reservisten in Ramallah auf, nachdem wenige Tage zuvor auf allen Fernsehkanälen der palästinensische Junge zu sehen war, der in Gaza-Stadt mit seinem Vater vergeblich Schutz hinter einer Mülltonne suchte. Die israelischen Polizisten, die dort Schüsse abgaben - und tatsächlich hat es nicht wenige Fälle gegeben, in denen verängstigte israelische Polizisten im Hagel der Molotowcocktails vorschnell das Feuer eröffneten -, schossen auf die Angreifer, nicht auf den Jungen. Hätten sie das Feuer eingestellt, wären sie getötet worden. Der bemitleidenswerte Junge hatte dort nichts zu suchen. In der Welt, aus der ich komme, stellen sich Eltern vor ihre Kinder, anstatt in Kauf zu nehmen, dass diese getötet werden. Aber der entsetzliche Tod des Jungen machte sich gut vor laufender Kamera. Denn die Kamera gibt die Spielregeln vor. Arafat befiehlt seinen Leuten, am Tage Steine zu werfen, und in der Nacht schießt er.

Wie sonderbar, dem Anschein nach waren wir uns so nah. Der Geist des Hasses, der wie eine Feuersbrunst der Flasche entstiegen ist, hätte nicht ausbrechen dürfen. Doch gerade jetzt musste er aufflammen. Er musste ausbrechen, da Israel und das palästinensische Volk den Augenblick der Wahrheit erreicht haben. Bei ihren Verhandlungen haben sie den schmalen, kaum noch auszumachenden Streifen zwischen den Forderungen beider Seiten betreten. Zum ersten Mal seit 52 Jahren ist nur noch ein kleiner Spalt zu überwinden, doch diese schmale Kluft ist zugleich die denkbar größte. Denn für die Araber sind wir - und von ihrem Standpunkt aus zu Recht - Fremde, die sich vor der Feuersbrunst in Europa in ihr Haus geflüchtet haben. Was den Konflikt zu einem Zweikampf zwischen dem Recht der Juden und jenem der Araber macht.

In diesem Augenblick der Wahrheit nun bekam Israel einen zwar nicht fehlerfreien, doch mutigen und klugen Premierminister, der auf die Palästinenser zuging und ihnen vorschlug, anstatt - wie im Rahmen der Osloer Verträge erfolgt - einen Schritt nach dem nächsten zu machen und am Ende in puncto Rückkehrrecht, Status von Jerusalem und Flüchtlingsfrage in einer Sackgasse zu landen, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Barak, ein unzugänglicher, sogar mit sich selbst nur in Chiffren redender Mann, ein tollkühner, sturer Einzelgänger, setzte seine politische Reputation aufs Spiel, als er seinen Feinden sagte: Ich, der Regierungschef des Staates Israel, bin bereit, eure Forderungen in allen Belangen zu annähernd 95 Prozent zu akzeptieren. Als Gegenleistung wünsche ich jedoch, dass wir uns Jerusalem teilen und ihr auf das Recht auf Rückkehr, das nichts anderes als den sicheren Untergang Israels bedeuten würde, verzichtet. Weiter verlange ich eine offizielle Verlautbarung, dass mit der Erfüllung von 95 Prozent eurer Forderungen der blutige, 100 Jahre währende Konflikt zwischen uns beendet ist. Von der Rückkehr nach ganz Palästina mögt ihr träumen wie wir von der Rückkehr nach Hebron, der Stadt unserer Vorväter. Sollen am Ende die bloßen Rituale bestehen bleiben, auch wenn die Problematik, die sie einst entstehen ließ, längst Geschichte ist.

Als direkte Folge dieses Vorschlags verlor Barak die Mehrheit in Israel, was ihn jedoch nicht zurückschrecken ließ. Es stimmt, niemand weiß mit Bestimmtheit, wo genau der Tempel, den Salomon erbaute und Herodes später zerstörte, sich einst erhob. Aber es kann auch niemand genau sagen, von welchem Punkt an der Westmauer der Prophet Mohammed auf seinem Pferd Burak gen Himmel ritt. Als Jesus durch die Gassen Jerusalems ging und den Tempel reinigte (von dem Arafat behauptet, er sei ein kanaanitisches Heiligtum gewesen, zu dem die Söhne Israels keinen Zutritt hatten), hatten weder Juden noch die ersten Christen den Namen Mohammeds jemals gehört.

Deshalb sagte Barak: Lasst uns nicht pharisäerhafter als die Pharisäer sein. Wenn Anwar al-Sadat, der mit Israel Frieden gemacht hat, behaupten konnte, dass noch das letzte Sandkorn auf der Sinaihalbinsel den Ägyptern heilig sei, muss auch den Juden gestattet sein, Jerusalem gegenüber eine gewisse Heiligkeit zu empfinden, der Stadt, zu der und über die sie 2000 Jahre lang ihre Gebete gesprochen haben. Und wenn ihr, die Araber, hier 1300 Jahre lang geherrscht habt, dann gehört sie auch euch. Also lasst sie uns teilen, aber zugunsten eines Abkommens. Heute habt ihr die Kontrolle über 40 Prozent der Fläche des Westjordanlandes, im Zuge des Abkommens, das ich euch anbiete, würdet ihr 95 Prozent bekommen, könntet einen eigenen Staat gründen und ihn nicht nur proklamieren.

Aber Arafat ist noch nicht reif für den Verzicht und als Muslim dazu auch nicht in der Lage. Am Ende musste Barak zu der Einsicht kommen, dass es nach acht Jahren des Verhandelns im Moment keinen Partner für den Frieden gibt. Arafat, der weiß, dass er den angebotenen Frieden nicht schließen kann, müsste vom hohen Ross wieder herabsteigen und mittels einer Welle kontrollierter Gewalt - gegen seinen Willen - zu Interimsverträgen gezwungen werden.

Viele bei uns innerhalb der politischen Linken bringen Jassir Arafat nicht genügend Respekt entgegen. Sie registrieren nur, was seine Berater und Adjutanten sagen, hören aber nicht auf das, was er selbst seit vielen Jahren immer und immer wieder von sich gibt. Dabei spricht er die Wahrheit. Auf Arabisch - auf Englisch ist er bemüht, ein wenig moderater zu formulieren - verkündet er stets: Alles oder nichts. Niemals hat er hieraus einen Hehl gemacht. Sowohl die extreme Linke als auch die extreme Rechte in Israel haben fest gefügte Ansichten über den herrschenden Konflikt und sind nicht bereit, diese angesichts der sich ihnen jetzt offenbarenden Realität zu ändern.
Arafat hat Scharons Provokation ausgenutzt
Aber Barak ist Regierungschef, kein politischer Analyst, der für eine Zeitung schreibt. Er sieht, wie im Zuständigkeitsbereich der palästinensischen Autonomiebehörde Christen in Bethlehem und Ramallah gezwungen werden wegzuziehen, und er weiß, was es hieße, jüdische Minderheit unter palästinensischer Oberhoheit zu sein. Nackt wie am Tage ihrer Geburt tritt jetzt die ganze Tragödie vor Augen: Araber und Juden haben einander noch nie verstanden. Die Juden, deren Lehrmeisterin die Schoah war, verabschiedeten als erstes Gesetz das Chokk haShvut, das Rückkehrgesetz, das jedem Juden erlaubt, nach Israel zu kommen und dort volle Bürgerrechte zu erhalten. Dieses Gesetz ist nach international geltendem Recht nicht zulässig, doch keine Nation auf der Welt wäre bereit, Bastionen, die ihre Existenz garantieren, aufzugeben.

Für das israelische jüdische Volk stellt dieses Gesetz eine solche überlebenswichtige Bastion dar. Im Zuge der Niederlage von 1948 verlangen die Araber ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge, die damals flohen oder vertrieben wurden. Gemessen an international gültigen Rechtsnormen, ist dies ein berechtigter Anspruch, doch Israel als winzige Insel von 5 Millionen Juden in einem Meer von 100 Millionen Arabern würde mit der Umsetzung dieses Rechtsanspruchs aufhören zu existieren. Selbst wenn Arafat bereit gewesen wäre, zugunsten der Repatriierung einer bestimmten Anzahl von Palästinensern auf das Recht der Flüchtlinge zu verzichten, in ihre Häuser in Jaffa, Haifa oder Akko zurückzukehren, und man in Israel dieser Regelung zugestimmt hätte - jetzt, nachdem sich die Unruhen auch auf die israelischen Araber ausgedehnt haben, ist eine derartige Zustimmung fürs Erste undenkbar geworden und Arafat auf absehbare Zeit nicht in der Position, auf das volle Rückkehrrecht aller Flüchtlinge verzichten zu können. Und dies bedeutet nichts anderes, als dass Arafat Barak keinen Entwurf mehr anzubieten hat, der das Ende des Konflikts bedeuten würde.

Wenn dem so ist, was hat sich dann wirklich zugetragen? Arafat, der begriffen hat, dass er keinen Schritt mehr auf Barak zugehen kann - nicht dass er nicht will! - und der weiß, dass Barak vielleicht noch den einen oder anderen Schritt tun könnte, aber auch ihm Grenzen gesteckt sind, hat beschlossen, vom Friedenszweig, der ihm auf der ganzen Welt Legitimation verschafft hat, herabzuklettern. Als er nach dem Scheitern der Friedensgespräche lediglich hätte unterschreiben und an den Verhandlungstisch zurückkehren müssen, verließ Arafat den Gipfel von Camp David, um dieses eine weitere Zugeständnis nicht leisten zu müssen. Und um sich ehrenvoll vom Friedensprozess zu verabschieden, nutzte er Ariel Scharons provokativen Besuch auf dem Tempelberg, um Lunte an das bereitstehende Pulverfass zu legen und so einen Flächenbrand zu entfachen.

Er tat dies, da er begriffen hat, dass, solange der israelisch-arabische Konflikt den religiösen Nerv des Problems - also Jerusalem - berührt, allergrößte Gefahr besteht. Als religiöser Konflikt stellt die derzeitige Lage nicht nur eine Bedrohung für die Region an sich, sondern für die ganze Welt dar. Hier leben 100 Millionen Araber, für die die Europäer traditionell starke Sympathien hegen, aber daneben gibt es noch gut eine Milliarde Muslime weltweit.

Ein Krieg in neuer Form hat begonnen: Frontlinien fehlen. Ausbruch von Hass erfolgt spontan, aber organisiert. Klare Siege gibt es nicht. Das Fernsehen ist zu einer entscheidenden Größe geworden. Und nachdem noch mehr Blut vergossen worden sein wird, wird sich Arafat widerwillig bewegen lassen, vom Baum herabzusteigen, und sich - vielleicht - zu einer Art Waffenstillstand bereit finden. Die Palästinenser können nicht auf ewig in diesem Würgegriff leben, in ihren Städten von der israelischen Armee eingekesselt ohne Arbeit, Auskommen und Nahrungsmittel, und auch Israel unter Beschuss zahlt einen hohen Blutzoll und verliert täglich Millionen, solange nicht wieder Ruhe einkehrt. Daher wird es nach ein, zwei weiteren Wochen unnötigen Blutvergießens zu einem Waffenstillstand kommen, und beide Seiten werden voneinander getrennt werden.

Arafat irrt, was die Einschätzung seines Einflusses in der arabischen Welt angeht. Er weiß, dass die Uno und die Europäer immer auf seiner Seite und gegen die Juden sein werden. So ist es 52 Jahre lang gewesen, und wer die Geschichte ein wenig kennt, weiß, dass es nicht erst mit der Uno angefangen hat. Aber Arafat, begeistert von dem Zuspruch, den er aus Europa erfährt, verkennt, dass Ägypten ungeachtet aller ermutigenden Worte keinen Krieg will, der das Land verwüsten würde; und dass Jordanien, wo Millionen von Palästinensern leben, den palästinensischen Zorn nicht noch weiter auf sein Staatsgebiet schwappen lassen darf; und dass Syrien und der Irak schließlich mit dem ihnen zur Verfügung stehenden Waffenarsenal nicht für einen offenen Krieg mit der militärischen Supermacht Israel gerüstet sind. Sie alle werden nicht kommen, um Arafat zu retten.

Die israelische Linke hält Barak vor, er hätte der Besatzung ein Ende machen und die Siedlungen räumen müssen. Aber das linke Lager verkennt, dass die Regelung, die Barak Arafat vorgeschlagen hat, vorsah, den Großteil aller Siedlungen zu räumen. Heute jedoch sagt Barak: Für ein Sichdavonstehlen im Schatten der Gewalt mache ich keinerlei Versprechungen mehr. Sollte kein Abkommen zustande kommen, muss Arafat zahlen, selbst wenn Israel im Fernsehen dabei schlecht wegkommt.

Vor etwas mehr als einer Woche gab Barak den Palästinensern einen unmissverständlichen Fingerzeig, als er das so genannte Josephsgrab im Herzen von Nablus evakuieren ließ. Dieses Grab ist genauso das Grab Josephs, wie das sagenhafte Pferd Mohammeds, der ausgerechnet nach Jerusalem kam, um darauf gen Himmel zu reiten, je existiert hat. Aber für wahre Gläubige machen Fakten keinen großen Unterschied. Unter heftigem Beschuss und begleitet von böswilligen Attacken der israelischen Rechten, gab Barak den Befehl, die Armee aus dem Grabkomplex abzuziehen, und zwar als Gegenleistung für das Versprechen, die palästinensische Polizei übernehme die Bewachung des Ortes. Sollte dies funktionieren, so der Fingerzeig Baraks, würde er weitere Siedlungen als Anleihe auf den Friedensprozess räumen lassen.

Innerhalb nur eines Tages wurde das Grab geschändet, durch eine rasende Menge verwüstet und in eine Moschee umgewandelt - all dies unter den Augen von Arafats Polizei. Mehr noch: Arafat entließ rund 60 hochrangige Terroristen, die 1996 die blutigen Anschläge von Selbstmordattentätern auf israelische Autobusse geplant und selbst Sprengsätze zur Detonation gebracht hatten, aus palästinensischen Gefängnissen. An ihren Händen klebt das Blut Dutzender Israelis, die durch die Explosionen in Stücke gerissen, deren Köpfe in die Bäume entlang der Dizengov-Straße geschleudert wurden. Auch 1996, als ein Vertrag zur Unterschrift bereitlag, bekam Arafat kalte Füße und gab den Extremisten grünes Licht, Aktionen gegen Zivilisten durchzuführen. Barak hingegen bewies außerordentlichen Mut, als er die israelische Armee aus dem Libanon abzog. Begleitet vom Spott der Araber über derartigen jüdischen Defätismus und untermalt von Wutausbrüchen der israelischen Rechten, zog sich Barak auch ohne Abkommen bis hinter die international anerkannte Grenze zurück, nachdem die Syrer seine zum Frieden ausgestreckte Hand zurückgewiesen hatten. Einige Tage danach kam mit Edward Said der bedeutendste palästinensische Intellektuelle in den Libanon, stand am Grenzzaun und warf einen Stein in Richtung Israel, um zu sagen: Ihr habt euch aus dem Libanon zurückgezogen, aber auch Israel ist besetztes Gebiet.

Barak genießt nicht die Privilegien eines Clint Eastwood, den Sergio Leone in Zwei glorreiche Halunken sagen lässt: Wenn du schießen musst, dann schieße und red nicht. Barak ist verpflichtet, zu reden und dann erst zu schießen, aber wenn er schießt, macht sich das schlecht vor der Kamera. Juden haben sich in den Augen der Europäer noch nie gut gemacht, wenn sie für ihre Rechte eintraten. Das ist wohl nicht zu ändern. Unser aller Geschichte kommt niemals zu einem Ende.

Ganz in der Nähe der Stelle, wo ich fast durch einen Stein zu Tode gekommen wäre, habe ich vor 52 Jahren schon einmal gekämpft und wäre auch damals fast getötet worden. Ich beschließe diese Überlegungen am Sabbat. Der augenblickliche Friedensprozess ist nach acht Jahren hoffnungsvoller Träume und ungezählter Anstrengungen gestorben. Ein schrittweiser Waffenstillstand wird eingeleitet werden, der keines der Probleme lösen, aber die Region vielleicht für einige Zeit wieder beruhigen wird. Unter amerikanischem Druck wird sich Arafat möglicherweise herablassen, zu einem weiteren Gipfeltreffen zu kommen. Die Gewalt wird nur vorübergehend gestoppt werden. Es werden schwere Tage und Nächte kommen, aber danach wird die Lage wieder so sein wie vor acht Jahren, vor Oslo und vor den Hoffnungen: ein Krieg ohne Schüsse, aber mit der Möglichkeit, jeden Augenblick getötet zu werden. Kommende Generationen, die vielleicht just in diesem Augenblick zur Welt kommen, werden gezwungen sein, neue Träume vom Frieden zu träumen.

Aus dem Hebräischen von Markus Lemke, DIE ZEIT, 19.10.2000

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