Papst Pius IX. und die Juden

Stellungnahme des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)

Römische Behörden haben angekündigt, dass am 3. September 2000 die Seligsprechung von Papst Pius IX. zu erwarten ist. Dagegen erheben sich aus der Sicht des Gesprächskreises "Juden und Christen" beim ZdK gewichtige Bedenken. Denn jede Seligsprechung ist nicht nur eine Anerkennung persönlicher Frömmigkeit und Lauterkeit, sondern sie soll zugleich ein Zeichen für die Kirche und die Gesellschaft von heute sein. Welches Signal soll durch die Seligsprechung Pius' IX. im Jahre 2000 gegeben werden? Für den Gesprächskreis "Juden und Christen" kann es sich nur um eine Desavouierung all jener Erklärungen und Verlautbarungen handeln, die Papst Johannes Paul II. und mehrere römische Institutionen in Fortführung der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils "Nostra aetate" (Art. 4) zum Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum gegeben haben.

Denn darüber ist kein Zweifel möglich: Pius IX. war Antisemit - nicht im Sinne jenes primitiven Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten, sondern als Ankläger einer vermeintlichen "Verjudung der Gesellschaft" in religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Belangen, der es mit allen Mitteln autoritärer Obrigkeit zu begegnen galt.

Wohl ließ Pius IX. während der ersten zwei Jahre seiner Regierung die antijüdischen Zügel lockern, wie mehrere bemerkenswerte Initiativen ausweisen. So gestattete er jenen Juden, deren Häuser in der großen Tiber-Überschwemmung vom Dezember 1846 unbewohnbar geworden waren, vorübergehend außerhalb des jüdischen Ghettos zu wohnen. Dann ersparte er den Vorstehern der jüdischen Gemeinde Roms die entehrende, von Papst Clemens IX. 1668 angeordnete, alljährliche Unterwerfungszeremonie am Karnevalsmontag. Außerdem erließ er den Juden der Stadt die verhasste Zwangspredigt in der Kirche Sant' Angelo in Pesceria. Schließlich ordnete er an, dass in der Nacht vom 17. auf den 18. April 1848 die Ummauerung des jüdischen Ghettos in der Stadt Rom niedergerissen wurde, um so kund zu tun, dass er dieses jahrhundertealte, steinerne Symbol der Ausgrenzung der jüdischen Mitbürger ein für alle Mal beseitigen wolle.

Leider sind die Erleichterungen für die Juden nur von kurzer Dauer gewesen. Bereits 1850 leitete der Papst einen radikalen Kurswechsel ein; im Wesentlichen kehrte er zu den Verhältnissen des 18. Jahrhunderts zurück. Anders als in allen anderen westeuropäischen Staaten, anders auch als im Königreich Sardinien, wo die Juden bereits die gleichen Rechte wie alle christlichen Mitbürger erhalten hatten, erneuerte Pius IX. im Kirchenstaat die Ghettoisierung der Juden. Äußerlich ließ sich das ablesen an der Tatsache, dass er die Mauern des Ghettos wieder aufrichten ließ. Damit stieß er die jüdischen Bürger Roms zurück in eine Situation, die es zu seiner Zeit in Europa nur noch im russischen Zarenreich gab. Er erneuerte die alten Unterdrückungen der Juden, verweigerte ihnen wiederum die Ausübung der meisten Handwerksberufe und die Übernahme von Verwaltungsämtern. Erneut wurde ihnen der Besitz von Grund und Boden untersagt. Und erneut wurde der Talmud auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, so dass die Juden des Kirchenstaates nicht einmal freien Zugang zu ihren eigenen heiligen Schriften hatten.

Es gab im Kirchenstaat sogar ein Wiederaufleben der Ritualmordgeschichten des Mittelalters. Große Aufmerksamkeit und Abscheu in ganz Westeuropa wie auch in Amerika erregte die vatikanische Wiederaufnahme der offensiv praktizierten Judenmission. Pius IX. konnte sich ein Zusammenleben mit den Juden letztlich nur vorstellen auf der Basis, dass letztere früher oder später zum katholischen Glauben übertraten. Weil trotzdem die Zahl der jüdischen Konvertiten wie in ganz Europa so auch im Kirchenstaat gering blieb, wurden einzelne Übertritte zum Katholizismus stets öffentlich als Siege der katholischen Kirche über die Unwahrheit gefeiert und durch viele materielle Vergünstigungen der Betroffenen belohnt.

Zwar war es nach kanonischem Recht verboten, Kinder von Juden gegen den Willen ihrer Eltern zu taufen - es sei denn in Todesgefahr, oder ein Elternteil habe das Kind ausgesetzt, oder es sei die oder der Betroffene geistig behindert. Diese Ausnahmebestimmungen öffneten der Willkür Tür und Tor. So galt als Praxis, dass ein einmal getauftes jüdisches Kind nicht mehr länger bei seinen Eltern bleiben durfte, es sei denn, dass auch diese zum Christentum übertraten.

Der schlimmste Fall - nur einer von mehreren, die bekannt geworden sind - war die sogenannte Mortara-Affäre: Am Abend des 23. Juli 1858 drang ein Bologneser Polizeikommando in das Haus des jüdischen Kaufmanns Momolo Mortara ein und verlangte die umgehende Herausgabe seines sechsjährigen Sohnes Edgaro. Der Polizeioffizier erklärte den entsetzten Eltern, dass ihr Sohn seit langem Christ sei, wie sich erst jetzt herausgestellt habe. Dem Vernehmen nach hatte vor Jahren eine christliche Dienstmagd den Knaben heimlich getauft, als dieser krank zu Bett lag. Geltendes Recht verlange deshalb, dass der Junge aus dem jüdischen Haus entfernt und christlich erzogen werde. Man brachte den Jungen in einem Akt obrigkeitlicher Kindesentführung nach Rom und erzog ihn dort in christlichem Sinne. Als dieser Vorgang in ganz Europa einen Aufschrei der Entrüstung hervorrief, tat Pius IX. ein Übriges, um seinen Rechtsstandpunkt provokant zu dokumentieren. Er nahm sich des Jungen in besonderer Weise an und adoptierte ihn schließlich, als dieser dreizehn Jahre alt war. Später trat Edgaro als Novize in den Orden der lateranischen Kanoniker ein, wurde Mönch im Kloster San Pietro in Vincoli und nahm zu Ehren seines Adoptivvaters den Namen Pio an. 1873 wurde Pio Mortara zum Priester geweiht und starb hochbetagt im Jahre 1940.

Über die Protestnoten jüdischer Gemeinden Italiens, Englands, Frankreichs, Deutschlands, Amerikas und Roms, auch über die diplomatischen Demarchen aus Großbritannien, Preußen und Russland, ja selbst über die Mahnungen aus den befreundeten Staaten Frankreich und Österreich hat sich Pius IX. selbstgefällig hinweggesetzt. Solche Haltung kann heute nicht als vorbildlich hingestellt werden.

Nachdem die Juden des ehemaligen Kirchenstaates und der Stadt Rom die formelle rechtliche Gleichstellung mit allen anderen Bürgern des Königreichs Italien erhalten hatten, hat sich Pius IX. in Predigten und Ansprachen zu hasserfüllten Tiraden gegen die Juden hinreißen lassen, die zu wiederholen sich einfach verbietet.

Die Beziehung zwischen Juden und Katholiken in der Welt hat sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil stetig zum Guten entwickelt. In den letzten Jahrzehnten hat gerade Papst Johannes Paul II. Wesentliches dazu beigetragen. Eine Seligsprechung von Pius IX. würde das Verhältnis zwischen Juden und Katholiken in einer unerträglichen Weise belasten und insbesondere alles in Frage stellen, was die Kirche in den letzten Jahrzehnten an Positivem erreicht hat. Hier steht die Glaubwürdigkeit des Papstes und seiner Kirche auf dem Spiel. Eine Seligsprechung Pius' IX. würde ein Band zerstören, an dem Juden und Katholiken gemeinsam Jahrzehnte lang mühevoll gearbeitet haben. Frühere Ausschreitungen am jüdischen Volk wurden von Papst Johannes Paul II. am ersten Fastensonntag 2000 öffentlich vor aller Welt bereut. Wie kann man im selben Jahr einen Papst wie Pius IX. selig sprechen, dessen Taten im krassen Widerspruch stehen zum Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II.?

Bonn, 21. Juli 2000 Für den Gesprächskreis "Juden und Christen" beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK)

Prof. Dr. Hanspeter Heinz, Prof. Dr. Ernst-Ludwig Ehrlich

Trauer um die Tragödien Weg zu neuer Beziehung zwischen Christen und Juden Ansprache von Papst Johannes Paul II. während der Stunde der Erinnerung in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem am 23. März 200

Aus unseren Herzen erheben sich die Worte des altehrwürdigen Psalms:
"Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
Ich höre das Zischeln der Menge - Grauen ringsum.
Sie tun sich gegen mich zusammen; sie sinnen darauf, mir das Leben zu rauben.
Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ,Du bist mein Gott!... (Ps 31,13-15).

1. An dieser Stätte der Erinnerungen empfinden Verstand, Herz und Seele ein ganz starkes Bedürfnis nach Stille. Stille zum Erinnern. Stillschweigen, in dem wir versuchen, etwas Besinnung in die Erinnerungen zu bringen, die uns überfluten. Stille, weil es keine Worte gibt, die stark genug wären, um die grauenhafte Tragödie der "Shoah" zu beklagen. Meine eigenen, persönlichen Erinnerungen betreffen all die Ereignisse, die sich damals zugetragen haben, als die Nazis Polen während des Krieges okkupierten. Ich erinnere mich an meine jüdischen Freunde und Nachbarn: Manche von ihnen kamen um, andere haben überlebt.

Ich bin nach "Yad Vashem" [Ein Denkmal und ein Name] gekommen, um den Millionen Juden die Ehre zu erweisen, denen alles genommen wurde, besonders ihre Würde als Menschen, und die im Holocaust ermordet worden sind. Über ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber die Erinnerung bleibt.

Hier, wie in Auschwitz und an vielen anderen Orten in Europa, sind wir überwältigt vom Widerhall der herzzerreißenden Klage so vieler Menschen. Männer, Frauen und Kinder schreien zu uns auf aus den Tiefen des Gräuels, das sie erfahren mussten. Wie sollten wir ihren Aufschrei nicht hören? Niemand kann das, was damals geschah, vergessen oder ignorieren. Niemand kann die Ausmaße dieser Tragödie schmälern.

2. Wir möchten uns erinnern. Wir möchten uns aber mit einer bestimmten Zielsetzung erinnern, nämlich um zu gewährleisten, dass das Böse nie mehr die Überhand gewinnen wird, so wie es damals für Millionen unschuldiger Opfer des Nazismus der Fall war.

Wie konnte der Mensch eine solche Verachtung des Menschen entwickeln? Weil er den Punkt der Gottesverachtung erreicht hatte. Nur eine gottlose Ideologie konnte die Ausrottung eines ganzen Volkes planen und ausführen.

Die Ehrung als "Gerechte der Völker", die der Staat Israel hier in Yad Vashem denen zuerkannt hat, die sich heldenhaft - manchmal sogar bis zur Preisgabe ihres eigenen Lebens - für die Rettung von Juden eingesetzt haben, ist eine Anerkennung der Tatsache, dass nicht einmal in der dunkelsten Stunde jedes Licht ausgelöscht ist. Das ist der Grund, weshalb die Psalmen und die ganze Bibel, die sich zwar der Fähigkeit des Menschen zum Bösen wohl bewusst sind, auch verkünden, dass das Böse nicht das letzte Wort haben wird. Aus den Tiefen des Leids und der Trauer kommt der Aufschrei des Herzens des Gläubigen: "Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ,Du bist mein Gott!"` (Ps 31,15).

3. Juden und Christen teilen ein unermessliches geistliches Erbe, das aus der Selbstoffenbarung Gottes hervorgegangen ist. Unsere religiösen Lehren und unsere geistliche Erfahrung fordern von uns, das Böse mit Gutem zu überwinden. Wir erinnern uns, aber ohne jedes Verlangen nach Rache oder als Ansporn zum Hass. Für uns bedeutet Erinnerung, für Frieden und Gerechtigkeit zu beten und uns dieser Sache zu verpflichten. Nur eine Welt im Frieden mit Gerechtigkeit für alle kann eine Wiederholung der Verfehlungen und grauenvollen Verbrechen der Vergangenheit verhindern.

Als Bischof von Rom und Nachfolger des Apostels Petrus versichere ich dem jüdischen Volk, dass die katholische Kirche - vom Gebot des Evangeliums zur Wahrheit und Liebe und nicht von politischen Überlegungen motiviert - zutiefst betrübt ist über den Hass, die Taten von Verfolgungen und die anti-semitischen Ausschreitungen von Christen gegen die Juden, zu welcher Zeit und an welchem Ort auch immer. Die Kirche verwirft jede Form von Rassismus als ein Leugnen des Abbildes des Schöpfers, das jedem Menschenwesen innewohnt (vgl. Gen 1,26).

4. An diesem Ort des feierlichen Erinnerns bete ich inständig dafür, dass unsere Trauer um die Tragödie, die das jüdische Volk im zwanzigsten Jahrhundert erlitten hat, zu einer neuen Beziehung zwischen Christen und Juden führen möge. Lasst uns eine neue Zukunft aufbauen, in der es keine anti-jüdischen Gefühle seitens der Christen und keine anti-christlichen Empfindungen seitens der Juden mehr geben wird, sondern vielmehr die gegenseitige Achtung, wie sie jenen zukommt, die den einen Schöpfer und Herrn anbeten und auf Abraham als unseren gemeinsamen Vater im Glauben schauen (vgl. Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah, V; O.R. dt., Nr. 14, 3. April 1998, S. 9).

Die Welt muss die Warnung hören, die die Holocaust-Opfer und das Zeugnis der Überlebenden an uns richten. Hier in Yad Vashem lebt die Erinnerung fort und brennt sich in unsere Seelen ein. Sie lässt auch uns rufen: "Ich höre das Zischeln der Menge - Grauen ringsum [...] Ich aber, Herr, ich vertraue dir, ich sage: ,Du bist mein Gott!"` (Ps 31,14-15).

aus: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 145

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