Was ist Wahrheit(1)?
Ein Diskussionsbeitrag zum Ursprung des Verhältnisses von Christentum und Judentum und zu seiner Behandlung im Unterricht

von Norbert Rodenbach

Ich habe im Schuljahr 1998/99 an einer Fortbildung im Fach "Praktische Philosophie" teilgenommen, einem Fach, welches sich seit 1997/8 in NRW "in der Erprobung" befindet und Pflichtunterricht ist für alle Schüler und Schülerinnen der 9. und 10. Klassenstufe, die, aus welchen Gründen auch immer, am konfessionellen Religionsunterricht nicht teilnehmen. Motto des Fachs "Praktische Philosophie": es soll nicht Ergänzung und auf keinen Fall Ersatz für katholischen oder protestantischen Religionsunterricht sein, sondern mit dem Fach Religion kooperieren. Kein Problem, wenn einem klar ist, dass der Religionsunterricht konfessionell gebunden ist, und manche Themen in den entsprechenden Unterrichtswerken apologetisch behandelt werden: mit Informationslücken und Tabus ist zu rechnen(2) !

Zur Verdeutlichung dieser These verweise ich auf die "Gedanken zur Geschichte des Antisemitismus"(3) aus dem evangelischen Arbeitsbuch "Lebens-Zeichen" (9./10. Klasse). Die "Quellensammlung" zu den "Stationen des Judenhasses" beginnt erst mit der "Zeit der frühen Kirche:

Eine Grundlage für theologische Vorbehalte der Christenheit boten Aussagen früher Kirchenväter, zum Beispiel von Bischof Melito von Sardes um 165 n.Chr., Origines (185-254) und Johannes Chrysostomos (354-407)".

Wo aber finde ich zum Thema frühchristlicher Antijudaismus einen Text,
  1. der für Jugendliche lesbar und informativ zugleich ist,
  2. der nicht die biblische Wahrheit verschleiert,
  3. der nicht einer Religion parteiisch verpflichtet ist,
  4. dessen Urteil nicht durch Apologetik verstellt ist?

Phil: Einen Moment mal, mach mal 'ne Pause: wolltest Du nicht eigentlich dein Buch über unsere Gespräche vorstellen? Und mich?

Theo: Du kannst dich doch wohl selber vorstellen, oder?

Phil: Okay, ich mach's ja schon selber. Also ich bin Phil, 17 Jahre alt, habe durch einen Fahrradunfall einen Beinbruch und somit viel Zeit, mein Referat über "Jesus als Religionsstifter" fertigzustellen.

Theo: Und ich bin dein Onkel Theo, habe als pensionierter Lehrer ebenfalls viel Zeit, und will dir gerne bei deinem Referat helfen. Also, dann wiederhol noch einmal deine Frage: ich hatte dich unterbrochen.

Phil: Also, bei meinem Nachhilfeschüler habe ich gestern im Religionsheft etwas Seltsames zum Thema Jesus gelesen. Da stand: Wer war schuld am Tode Jesu? Antwort: die Römer waren es nicht, die Juden waren es nicht, die Hohenpriester waren es nicht, Judas war es nicht. Wir alle sind schuld an seinem Tod.

Theo: Blödsinn.

Phil: Das habe ich mir auch schon gedacht. Aber wer war denn nun schuld am Tod von Jesus?

Theo: Na, die Juden!

Phil: Mach keine Witze!

Theo: Nein, mach ich nicht. Ich lese das in den Schriften des Neuen Testaments.

Phil: Und das steht da drin?

Theo: So - und nicht anders.

Phil: Du willst mir erzählen, dass in den Schriften, in denen Jesus christliche Nächstenliebe predigt, so gegen die Juden gehetzt wird? Gehst du da nicht ein bisschen zu weit mit deiner Religionskritik.

Theo: Nun gut, dann nimm dir eine Bibel und lies mit. Zuerst waren es, schlag nach bei Markus 11,27, "die Hohenpriester und Schriftgelehrten und Ältesten" als Vertreter des jüdischen Volkes, die im "Gleichnis von den bösen Winzern"(4) für die schlechte Behandlung der Propheten und den Tod Jesu verantwortlich gemacht wurden. Aber schon bald sind es die Juden insgesamt. So steht in einem Brief des Paulus(5) aus dem Jahre 50:

Die Juden haben sogar Jesus, den Herrn, und die Propheten getötet; sie missfallen Gott und sind Feinde aller Menschen.
1. Brief an die Thessalonicher 2,15

Phil: Seltsam! War Paulus nicht ursprünglich selber Jude?

Theo: Durchaus! So schrieb er:

Ich wurde am 8. Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamme Benjamin, [...] lebte als Pharisäer nach dem Gesetz, verfolgte voll Eifer die Kirche und war untadelig in der Gerechtigkeit, wie sie das Gesetz vorschreibt. Doch was mir damals ein Gewinn war, das habe ich um Christi willen als Verlust erkannt. Ja, noch mehr [...], ich halte es für Mist(6).
Brief an die Philipper 3,5-8

Phil: Dann passt so ein schlimmer Satz ja zu Paulus!

Theo: Und nicht nur zu Paulus: bei Matthäus findest du die folgendermaßen ausgestaltete Gerichtsszene:

Pilatus sprach zu ihnen: Was soll ich denn mit Jesus tun, der der Messias heißt? Sie sprachen alle: Er soll gekreuzigt werden. Er sprach: was hat er denn Böses getan? Sie aber schrien noch lauter: Er soll gekreuzigt werden.
Als aber Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern dass der Tumult nur noch größer wurde, nahm er Wasser und wusch sich vor dem Volke die Hände und sprach: Ich bin unschuldig an diesem Blut. Das ist eure Sache.
Da antwortete das ganze Volk:
Sein Blut komme auf uns und unsere Kinder.
Matthäus 27,22-25

Und der Verfasser des Johannesevangeliums lässt Jesus verkünden, warum die Juden so gehandelt haben:

Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.
Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes; ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid.
Johannesevangelium 8,44.46

Phil: Da scheint ja doch Judenhass eine Rolle zu spielen. Kaum zu glauben.

Theo: Ja, besonders, wenn man bedenkt und sieht, wohin Judenhass oder jeder andere Hass gegen religiöse oder ethnische Gruppen geführt hat und führen kann. So schreibt Schalom Ben-Chorin

Gestützt auf diese angebliche Selbstverfluchung, sind Gewalttaten und Morde an Juden ohne Zahl von sogenannten Christen begangen worden.(7)

Phil: Aber das war doch nicht die Absicht der frühchristlichen Schreiber: was hatten sie für einen Grund, Pilatus als verantwortlichen Vertreter der römischen Besatzungsmacht freizusprechen und den Juden die Schuld in die Schuhe zu schieben?

Theo: Pinchas Lapide(8) erklärt es in seinem Buch Wer war schuld an Jesu Tod? mit der Situation der christlichen Gemeinde im römischen Reich:

Da die junge Heidenkirche Gunst in den Augen der römischen Staatsmacht finden musste, um ihr Überleben nicht zu gefährden, musste der Vertreter Roms - insbesondere in den Passionsberichten - als sympathisches Unschuldslamm geschildert werden, was politisch verständlich, aber historisch äußerst verdächtig erscheinen muss. So fällt auf erste Sicht die scheinbare Übereinstimmung in allen vier Evangelien auf, mit der Schuld der Juden impliziert oder insinuiert wird - wobei ein einziges Schema beibehalten wird: Pilatus, ein gutmütiger, wohlwollender Statthalter, ist bereit und willig, Jesus freizugeben. Die Juden hingegen, in ihrer blinden Wut, ziehen den Verbrecher Barabbas vor. Schließlich muss Pilatus ihrem Druck, ihren Drohungen und Ihrem Geschrei nachgeben. Barabbas wird letztlich freigelassen, Jesus aber gekreuzigt.

Phil: Und woher wissen wir, dass Pilatus kein "sympathisches Unschuldslamm" war?

Theo: Unter anderem vom zeitgenössischen Schriftsteller Philo aus Alexandria, der in einem Brief an den römischen Kaiser Agrippa den Charakter des Pilatus so darstellt: Pilatus sei bekannt für

seine Bestechlichkeit, seine Gewalttätigkeit, seine Räubereien, Misshandlungen, Beleidigungen, fortgesetzte Hinrichtungen ohne Gerichtsverhandlungen sowie seine unaufhörliche und unerträgliche Grausamkeit.
Philo Alexandrinus: Legatio ad Gaium(9)

Phil: Vielleicht ist das üble Nachrede?

Theo: Nein - denn gleiches ist auch nachzulesen bei Flavius Josephus. Und selbst Lukas berichtet von einem Vorfall:

In eben diesem Augenblick kamen einige Leute und meldeten ihm [Jesus] von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit dem ihrer Opfer vermischt hatte.
Lukas 13,1

Phil: Also steht fest, dass der Pilatus, der seine "Hände in Unschuld wäscht"(10) , eine Legende ist, und diese Legende soll den Juden die Schuld in die Schuhe schieben?

Theo: Ja: es gibt einen nicht von Anfang an vorhandenen, aber besonders nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. wachsenden Judenhass. Lies zum Beispiel einmal ein und dasselbe Geschehnis aus der Sicht des Paulus und in der Verdrehung durch die Apostelgeschichte:

In Damaskus ließ der Statthalter des Königs Aretas die Stadt der Damaszener bewachen, um mich festzunehmen. Aber durch ein Fenster wurde ich in einem Korb die Stadtmauer hinuntergelassen, und so entkam ich ihm.
2 Korintherbrief 11,32-33

Und wen macht die Apostelgeschichte zum Verfolger des Paulus?

Saulus aber trat um so kraftvoller auf und brachte die Juden in Damaskus in Verwirrung, weil er ihnen bewies, dass Jesus der Messias sei. So verging einige Zeit; da beschlossen die Juden, ihn zu töten. Doch ihr Plan wurde dem Saulus bekannt. Sie bewachten sogar Tag und Nacht die Stadttore, um ihn zu beseitigen. Aber seine Jünger nahmen ihn und ließen ihn bei Nacht in einem Korb die Stadtmauer hinab.
Apostelgeschichte 9,22-25

Phil: Also keine vereinzelte Entgleisung bei Paulus, Matthäus oder im Johannesevangelium?

Theo: Nein. Zwei weitere Beispiele aus dem letzten Buch des "Neuen Testaments", der Apokalypse, der Geheimen Offenbarung:

An den Engel der Gemeinde in Smyrna schreibe:

"Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut; und doch bist du reich. Und ich weiß, dass du von solchen geschmäht wirst, die sich als Juden ausgeben; sie sind es aber nicht, sondern sind eine Synagoge des Satans."
Offenbarung 2,8a.9 Brief an die Gemeinde von Philadelphia

"Siehe, ich werde schicken einige aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden und sind es nicht, sondern lügen; siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe."
Offenbarung 3,9

Solch eine Verteufelung Andersdenkender ist typisch für alle Sekten und als besonders schlimm werden stets diejenigen dargestellt, von denen man sich am meisten abgrenzen muss, um Eigenständigkeit zu beweisen. Für die frühen Christen waren dies die Juden. Nicht mehr das jüdische Volk, sondern die christliche Kirche sollte als von Gott auserwählt gelten. Phil: Irgendwie bin ich immer noch nicht überzeugt, dass alles nur Geschichtsklitterung sein soll: Immerhin gab es da noch Judas, der Jesus verraten hat, so dass die Römer ihn ergreifen konnten.

Theo: Genau. Dazu habe ich folgende Meldung aufgehoben, sie erschien am 27.4.98 in der "Frankfurter Rundschau" auf der Seite 1:

Reden war Silber
TURIN, 26. April (dpa). Judas hat Jesus für 30 Silberstücke verraten, die heute einen Wert von 12.000 Mark hätten. Zu diesem Ergebnis kamen Experten bei einem Treffen in der norditalienischen Stadt Turin, wie die italienische Tageszeitung La Stampa am Samstag berichtete. Damit werde die These gestützt, dass Judas Iskariot "sicher nicht wegen des Geldes" gehandelt habe. "Wenn er so am Silber interessiert gewesen wäre, hätte er wesentlich mehr gefordert." Judas war der Jünger Jesu, der laut Überlieferung den Gottessohn an die jüdische Behörde verriet und damit dessen Kreuzigung ermöglichte. Die Gründe für seinen Verrat wurden historisch bislang nicht eindeutig geklärt. Noch im Mittelalter wurde hauptsächlich Habgier als Motiv für Judas' Verrat genannt. Eine psychologisierende Deutung gibt es seit Mitte des 18. Jahrhunderts.

Phil: 12.000 DM sind doch eine Stange Geld! Im übrigen gibst du mir endlich mal recht: Zumindest der Jude Judas war mitschuldig an dem Tod von Jesus!

Theo: Tut mir leid, aber: der Verrat des Judas Iskariot ist nicht historisch, das ist eine Legende wie vieles, und er ist aus Schriften des Alten Testaments zusammengestückelt worden.

Phil: Dann leg mal los: wie hieß denn der Verräter im Alten Testament?

Theo: Du findest einen parallelen Fall von "Untreue gegen den Herrn" in den Geschichten um den König David: sein Berater Ahitofel war mit von der Partie bei der Verschwörung von Davids Sohn Abschalom:

Zweihundert Männer aus Jerusalem waren mit Abschalom gegangen; er hatte sie eingeladen, und sie waren mit ihm gezogen, ohne von der ganzen Sache etwas zu ahnen. Als er seine Opfer darbrachte, ließ Abschalom auch den Giloniter Ahitofel, den Berater Davids, aus seiner Heimatstadt Gil kommen. So wurde die Verschwörung immer größer, und immer mehr Leute schlossen sich Abschalom an.
2 Samuel 15,11-12

Phil: Und der Judaskuss; finde ich den etwa auch in den "Geschichten um den König David"? Theo: Klar. Ein Verräter war Joab, Davids Feldherr, zwar auch nicht, aber er war auch voller Heimtücke, als er Amasa, den Gegner Davids, küsste:

Joab sagte zu Amasa: Geht es dir gut, mein Bruder? und griff mit der rechten Hand nach dem Bart Amasas, um ihn zu küssen. Amasa aber achtete nicht auf das Schwert, das Joab in der (linken) Hand hatte, und Joab stieß es ihm in den Bauch, so dass seine Eingeweide zu Boden quollen.
2 Samuel 20,9-10

Phil: Kommt mir irgendwie bekannt vor, diese Beschreibung des schrecklichen Todes von Amasa. Aber hat sich Judas nicht erhängt?
Theo: Richtig, Matthäus hat das Ende des Judas wieder dem Bericht über das Ende des Ahitofel entnommen.

Als Ahitofel sah, dass sein Rat nicht ausgeführt wurde, sattelte er seinen Esel, brach auf und kehrte in seine Heimatstadt zurück. Dann bestellte er sein Haus und erhängte sich.
2 Samuel 17,23

Aber du hast recht: in der Apostelgeschichte starb Judas ähnlich wie Amasa, nur musste es als Selbstmord, also ohne das Schwert eines Mörders passieren, und so wird es eine ziemliche Zumutung für unsere Phantasie, was da über das Ende des Judas fabuliert wird:

Dieser kaufte sich einen Acker von seinem ungerecht erworbenen Lohn, stürzte kopfüber, barst mitten entzwei, und alle seine Eingeweide traten heraus.
Apostelgeschichte 1,18

Phil: Das ist aber besonders eklig!

Theo: Die christliche Legendenbildung zum Thema Tod des Judas war damit durchaus nicht abgeschlossen. Einen besonders schrecklichen Bericht über das Ableben des Judas, den Papias von Hierapolis (~70-140 n.Chr.) verfasst hat, möchte ich dir nicht vorenthalten. Papias erzählt,

als ein großes Beispiel von Gottlosigkeit habe Judas in dieser Welt gewandelt, so aufgeschwollen am Fleische, dass er nicht einmal, von wo ein Wagen leicht durchkommen konnte, auch nur mit dem Kopfe durchkam. Seine Augenlider seien so aufgeschwollen, dass er gar nicht mehr das Licht sehen, seine Augen nicht einmal von einem bewaffneten Auge (11) gesehen werden konnten. Sein Schamglied sei schrecklich groß geworden, und allerlei Eiter nebst Würmern seien mit der Notdurft abgegangen. Sein eigenes Grundstück, auf welchem er nach vielen Qualen gestorben, sei wegen des Gestanks noch heute unbewohnt geblieben, und noch heutzutage könne an dem Orte niemand vorübergehen, ohne sich die Nase zuzuhalten(12).

Phil: Offensichtlich verstand man es schon früher, Horrorgeschichten zu erfinden...

Theo: ...und immer noch wieder zu steigern! Aber zurück zu Judas, als er noch lebte. Für seine Legende fehlt noch Jeremias Prophetenwort von den 30 Silberlingen, sprich Silbermünzen, über die Matthäus schreibt:

So erfüllte sich, was durch den Propheten Jeremia gesagt worden ist...
Matthäus 27,9

und da gibt es ein Problem. Bei Jeremia steht nämlich folgende wortreiche Schilderung:

Jeremia sagte:
Das Wort des Herrn erging an mich: Hanamel [...] wird zu dir kommen und sagen: Kauf mir einen Acker in Anatot [...]. So kaufte ich [...] den Acker in Anatot und wog ihm das Geld ab; siebzehn Silberschekel betrug die Summe.
Jeremia 32,6-9

Phil: Die Anzahl der Silbermünzen stimmt doch nicht. War Matthäus nicht so bibelfest wie du? Wie kommt er auf dreißig?
Theo: Wir müssen eben weitersuchen. Und finden, was wir brauchen, beim Propheten Sacharja:

Ich sagte zu ihnen: Wenn es euch recht scheint, so bringt mir meinen Lohn; wenn nicht, so lasst es! Doch sie wogen mir meinen Lohn ab, dreißig Silberstücke. Da sagte der Herr zu mir: Wirf ihn dem Schmelzer hin! Hoch ist der Preis, den ich ihnen wert bin. Und ich nahm die dreißig Silberstücke und warf sie im Haus des Herrn dem Schmelzer hin.
Sacharja 11,12-13

Phil: Haben wir jetzt alles für die Judas-Geschichte?

Theo: Nein, ein wichtiges Motiv fehlt noch: es stammt aus einem Psalm und es geht um den besten Freund, der nicht mehr zu einem hält:

Meine Feinde reden böse über mich.
»Wann stirbt er endlich, und wann vergeht sein Name?«
Auch mein Freund, dem ich vertraute,
der mein Brot aß, hat gegen mich geprahlt.
Du aber, Herr, sei mir gnädig;
richte mich auf, damit ich ihnen vergelten kann.
Psalm 41,6.10-11

Und damit haben wir sie zusammen, diese Legende von Judas dem Verräter. Fehlt nur noch das Stichwort, an dem diese ganze Geschichte eingefädelt werden kann. Du erinnerst dich doch noch an den frühesten Zeugen von Jesu Wirken?

Phil: Ja, Paulus, der alles "gemäß der Schrift" bei Jesus erfüllt sah.

Theo: Genau jener. In einem Brief teilt Paulus seinen Adressaten mit, wie Jesus

in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde,
1. Korintherbrief 11,23

ein Abendmahl abgehalten haben soll.

Phil: Also wird Judas schon bei Paulus erwähnt?

Theo: Falsch - aber ein schönes Beispiel, wie man mit heutigen Augen eine Briefstelle bei Paulus leicht missverstehen kann und muss. Nein, nicht von einem Verräter ist hier die Rede...

Phil: ...sondern es wird einer der alten Propheten zitiert, oder?

Theo: Ja.

Phil: Mit dieser Antwort habe ich wohl immer eine hohe Trefferquote?

Theo: Ja, aber ich denke, dich interessiert, was der "alte Prophet" geschrieben hat. Ich zitiere aus dem Buch des Propheten Jesaja den Text, den man das Lied vom Gottesknecht nennt:

Wir hatten uns alle verirrt wie die Schafe
jeder ging für sich seinen Weg.
Doch der Herr lud auf ihn
die Schuld von uns allen.
Er wurde misshandelt und niedergedrückt,
aber er tat seinen Mund nicht auf.
Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt,
und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer,
so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft,
doch wen kümmerte sein Geschick?
Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und
wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen.

Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht;
er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen,
und mit den Mächtigen teilt er die Beute,
weil er sein Leben dem Tod preisgab
und sich unter die Verbrecher rechnen ließ.
Denn er trug die Sünden von vielen
und trat für die Schuldigen ein.
Jesaja 53,6-8.11b-12

Phil: Da erinnert mich vieles an die Geschichte vom Leiden und Sterben von Jesus. Dieses Jesaja-Zitat ist wohl kräftig dafür ausgebeutet worden. Aber ich sehe noch nicht den Punkt, wo die Judasgeschichte einsetzt.

Theo: Ganz einfach: das Leben dem Tode "preisgeben," die Schuld "aufgeladen bekommen" ist im Griechischen, also der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, immer dasselbe Verb, paradidonai, und dieses Verb hat noch eine weitere Bedeutung: jemanden "überliefern", "ausliefern" und auch - jemanden "verraten"!

Phil: Und damit wären wir beim "Verräter" Judas!
Theo: Ja, allerdings nennt ihn nur Lukas ausdrücklich so (Lukas 6,16). Bei den übrigen Evangelisten ist er nur der Bösewicht, der Jesus "überlieferte". Am ausführlichsten wird seine Geschichte bei den drei Synoptikern von Matthäus erzählt:

Die Mär von Judas, dem Verräter:

"Darauf ging einer von den Zwölfen, Judas Iskariot mit Namen, zu den Hohenpriestern und sprach: Was wollt ihr mir geben, dann will ich ihn euch überliefern. Sie aber wogen ihm dreißig Silberlinge ab. Und von da an suchte er nach einer guten Gelegenheit, ihn zu überliefern.
Als es aber Abend geworden war, legte er sich mit den Zwölf zu Tisch. Und während sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch, einer von euch wird mich überliefern. Da wurden sie sehr betrübt, und einer nach dem anderen sagte zu ihm: Ich bin's doch nicht, Herr? Er aber antwortete ihnen: Der mit mir die Hand in dieselbe Schüssel eintaucht, der wird mich überliefern. Der Menschensohn geht zwar dahin, wie über ihn geschrieben steht; wehe aber jenem Menschen, durch den der Menschensohn überliefert wird! Besser wäre es jenem Menschen, wenn er gar nicht geboren wäre. Da sprach Judas, der ihn überlieferte: Ich bin's doch nicht, Rabbi? Er sprach zu ihm: du hast es gesagt. Als sie aber aßen, nahm Jesus Brot, sprach den Lobspruch, brach es und gab es den Jüngern mit den Worten: Nehmt, esst, das ist mein Leib."
Matthäus 26,14-16.20-26

Es folgt später im Text dann die Szene auf jenem Grundstück namens Gethsemani, da er zu den schlafenden Jüngern spricht:

Steht auf, wir wollen gehen! Siehe, der mich überliefert, ist da. Und während er noch redete, sieh, da kam Judas, einer von den Zwölfen, und mit ihm eine große Schar mit Schwertern und Knütteln von den Hohenpriestern und Ältesten des Volkes her. Der ihn überlieferte, hatte aber mit ihnen ein Zeichen verabredet und gesagt: Den ich küssen werde, der ist's; den ergreift. Und sogleich trat er an Jesus heran und sprach: Sei gegrüßt, Rabbi! und küsste ihn. Jesus aber sprach zu ihm: Freund, (tu jetzt,) wozu du da bist.
Matthäus 26,46-50

Phil: Wozu eigentlich dieser ganze Aufwand? Man kannte doch Jesus! Und versteckt hat er sich doch auch nicht, oder?

Theo: Richtig. Der synoptische Jesus wundert sich denn auch:

Täglich saß ich im Tempel und lehrte, und ihr habt mich nicht ergriffen.
Markus 14,49; Matthäus 26,55; Lukas 22,53

Der Verfasser des Johannesevangeliums hat die Unlogik dieser Situation bemerkt - und lässt daher dieses Jesuswort einfach weg.

Phil: Und wo ist eigentlich bei Matthäus die Stelle, wo Judas mit Jesus die Hand in dieselbe Schüssel eintaucht und sich dadurch entlarvt?

Theo: Die fehlt bei allen drei Synoptikern. Auch in diesem Fall bringt der Verfasser des Johannesevangeliums als einziger die angekündigte Szene:

Da tauchte Jesus den Bissen ein, nahm ihn und gab ihn dem Judas, dem Sohn Simons, des Iskarioten. Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn. Da sprach Jesus zu ihm: Was du tun willst, tue bald.
Als jener nun den Bissen genommen hatte, ging er alsbald hinaus. Es war aber Nacht.
Johannes 13,26 und 13,30

Und auch das hatten die Synoptiker allesamt verschlampt, Judas rechtzeitig vom Abendmahl gehen zu lassen. Man sieht: die Geschichte von Judas, dem Verräter, ist mehr schlecht als recht zusammengeschustert worden.

Phil: Die Texte des Neuen Testaments sind also überarbeitet und verfälscht und enthalten zusammengebastelte Legenden voller Judenhass - aber einen Judas hat's gegeben?

Theo: Bestimmt gab es mehrere in Jesu Umfeld. Der Name war jedenfalls hervorragend geeignet, stellvertretend für alle Juden den Sündenbock zu verkörpern.

Phil: Eins versteh ich immer noch nicht: also, um Jesus herum gab's doch nur Juden - wer sollte denn Jesus verraten, wenn nicht ein Jude?

Theo: Ja, aber überleg mal erst: was oder wen hat Judas eigentlich verraten? Jesus trat öffentlich auf und "lehrte in den Synagogen"(13) , wie des öfteren in den Evangelien zu lesen ist: es gab nichts zu verraten! Judas, der Verräter ist eine gänzlich erfundene Figur!

Aber es gab eine aktuelle Erfahrung für die Evangelisten: die Juden lehnten damals (wie heute) die christliche Lehre ab und unter den Heiden fand die verkündete Botschaft vom Reiche Gottes viele Anhänger. Also spann man die Legende von einem satanisch-bösen jüdischen Verräter immer weiter aus und erfand als Gegenstück den gläubig-guten römischen Hauptmann aus Kapharnaum (14), dessen Knecht Jesus heilt, und den gläubig-guten römischen Hauptmann bei der Kreuzigung, der sich nach Jesu Tod schließlich zu ihm bekehrt(15) .

Phil: Und das alles heißt für mich, dass ich dauernd damit rechnen muss, auf pure Legende zu stoßen, wenn ich die Berichte über Jesus lese?

Theo: Ja - insbesondere bei den Passionsgeschichten, also den Erzählungen vom Tode Jesu, stimmt das offensichtlich.

Phil: Alles also erfunden in der Absicht, den Gläubigen eine bestimmte Botschaft zu vermitteln - sehe ich das richtig?

Theo: Ja. Nehmen wir einmal an, es stimmt, dass die Jünger Jesus bei seiner Verhaftung wirklich fluchtartig verlassen haben. Es gab also keine Augenzeugen. Das jähe Ende der Reich-Gottes-Bewegung und der plötzliche Tod ihres Meisters mussten aufgearbeitet werden. Und was tun gläubige Menschen(16) , wenn sie etwas intellektuell bewältigen wollen: sie suchen nach einer Antwort in den Heiligen Schriften. Für Jesu Tod wurden im Lichte der Psalmen und der prophetischen Bücher theologische Erklärungen gefunden und die wurden als erfundene Geschichten erzählt. So behauptet der kalifornische Theologe John Dominic Crossan von den Evangelienberichten:

Zusammenfassend sei gesagt, dass ich ins einzelne gehende historische Informationen über die Kreuzigung Jesu nicht habe finden können. Jede Einzelheit, die wir in Betracht zogen, erwies sich nicht als erinnerte Geschichte, sondern als historisierte Prophetie. Mit einer eklatanten Ausnahme. Das eine Mal, wo erzählte Passion sich von ihrer Basis in der prophezeiten Passion löste [...], geschah das zu dem Zwecke, die Verantwortlichkeit der Juden am Tode Jesu zu behaupten und die Römer davon freizusprechen(17).

Phil: Verstehe ich das richtig: die einzige Aussage über die Kreuzigung Jesu, die die theologischen Schreiber nicht aus den jüdischen heiligen Schriften entwickelt haben, ist die Behauptung, die Juden seien an Jesu Tod schuld. Der Antijudaismus ist also die einzige originelle Erfindung der frühen Christen? Na, ist ja auch logisch...

Theo: Und stimmt trotzdem nicht: auch dieses theologische Urteil über die Juden ist nicht nur historisch falsch - nirgendwo lese ich etwas von einem ermordeten Propheten - sondern literarisch ebenfalls geklaut. Lies einmal in der Bibel nach:

Immer wieder hatte Jahwe, der Gott ihrer Väter, sie durch seine Boten gewarnt; denn er hatte Mitleid mit seinem Volk und seiner Wohnung. Sie aber verhöhnten die Boten Gottes, verachteten sein Wort und verspotteten seinen Propheten bis der Zorn des Herrn gegen sein Volk so groß wurde, dass es keine Heilung mehr gab.
2. Buch Chronik 36,15-16

Sie aber wurden trotzig; sie empörten sich gegen dich und kehrten deinem Gesetz den Rücken. Die Propheten warnten sie zwar und wollten sie zur dir zurückführen; doch man tötete sie und verübte schwere Frevel.
Nehemia 9,26

Phil: Aber alles das wissen die heutigen Theologen und es ist für sie kein Problem mehr?
Theo: Für einige doch. Ich lese dir mal vor, welches Bekenntnis Otto Betz in seinem Buch "Was wissen [!] wir von Jesus" seinen Lesern abverlangt:

Dieser war der Christus; ihm gegenüber gibt es nur die Alternative: Gottes Sohn oder falscher Prophet; Messias Israels oder Verführer Israels. [...] Freilich ist das ein Glaubenssatz [...], er ist das gläubige »Ja« zum Anspruch einer geschichtlichen Person. Außer solch einem »Ja« bleibt nur das entschiedene »Nein« des Kaiphas und vieler Juden Jerusalems. Ein Drittes gibt es nicht(18).

Phil: Ich weiß schon, was jetzt wieder kommt: einige Theologen sind von der redlichen Suche nach der Wahrheit noch weit entfernt...

Theo: Ja, und sehr nah noch beim Verteidigen unhaltbarer apologetischer Positionen. Und deshalb tut Aufklärung not, auch heutzutage noch. Aber das ist ein weites Feld(19).


Anmerkungen
1)
Die Wahl des pathetisch wirkenden Ausdrucks "Wahrheit" in diesem Zusammenhang hat etwas zu tun mit dem "Was ist Wahrheit?" des Pilatus bei Johannes (18,38). Zudem sieht einer der 7 "Fragenkreise" des Kerncurriculums "Praktische Philosophie" NRW (Erprobungsfassung vom Juni 1997) vor, die "Frage nach Wahrheit, Wirklichkeit und Medien" zu stellen: auch das passt zum hier behandelten Thema. Zudem lese ich in den Richtlinien für das Fach Evangelische Religionslehre an Gymnasien, Sek I, NRW: "Zum Streit um die Wahrheit gehört die Auseinandersetzung mit nichtchristlichen Religionen und nicht-religiösen Überzeugungen." (S. 36)
2)
Ob dies für Philosophie- und Ethik-Unterrichtswerke nicht gilt, mag man zu Recht bezweifeln - siehe dazu meine Buchvorstellung in der rhs (Religionsunterricht an höheren Schulen) Heft 3/99, S. 190-194
3)
Lebens-Zeichen, Ein Unterrichtswerk für den evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I, Band 3, Göttingen 1992, S. 80
4)
Markus 12,1-12; Matthäus 21,33-46; Lukas 20,9-19
5)
Ich richte mich bei der Paulus-Chronologie nach Helmut Köster: Einführung in das Neue Testament, Berlin New York 1980, S. 536
6)
Mist =im Original: skybala = Mehrzahl von Kot, Unrat
7)
Schalom Ben-Chorin: Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 131991, S. 170
8)
Pinchas Lapide: Wer war schuld an Jesu Tod?, Gütersloh 21989, S. 69
9)
Zitiert nach Chaim Cohn: Der Prozeß und Tod Jesu aus jüdischer Sicht, Frankfurt 1997, S. 43
10)
Denkt Gerd Theißen an solche Verdrehungen der Wahrheit, wenn er gegen die "Einwände historischer Skepsis" hält: von Überlieferungen über Gestalten wie Pontius Pilatus "ist ein Analogieschluss auf die historische Zuverlässigkeit der Jesusüberlieferung möglich"? Gerd Theißen, Annette Merz: Der historische Jesus, Göttingen 1997, S. 107
11)
Das mit einem (optischem) Gerät ausgestattete Auge eines Arztes ist wohl gemeint.
12)
Adolf Hilgenfeld: Papias von Hierapolis, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie (18) 1875, S. 264-265
13)
z. B. Matthäus 13,54; Markus 1,21
14)
Matthäus 8,5-13 und Lukas 7,1-10
15)
Matthäus 27,54; Markus 15,39; Lukas 23,47
16)
Das ist auch heute nicht anders: so interpretiert der Theologe Franz Mußner in seinem Aufsatz "Was macht das Mysterium Israel aus?" Auschwitz und die Gründung des Staates Israel im Rahmen einer von ihm postulierten göttlichen Unheils- bzw. Heilsgeschichte: "Ohne den Willen Gottes, des Gottes Israels, gäbe es den Staat Israel nicht." (S. 28) und: "Auch Auschwitz gehört ins Mysterium Israel. Die Erwählung brachte Israel kein Glück. Das gehört zur geschichtlichen Erfahrung des Juden bis zum heutigen Tag." (S. 29) Wie seltsam solche Überlegungen wirken, ist Franz Mußner bewusst; er charakterisiert seine Interpretation vorsichtshalber als "Gestammel" (S.29). Nachzulesen in: Rainer Kampling (Hrsg.): "Nun steht aber diese Sache im Evangelium...", Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn 1999. Der Mußner-Aufsatz steht auf den Seiten 15-30.
17)
John Dominic Crossan: Wer tötete Jesus, Die Ursprünge des christlichen Antisemitismus in den Evangelien, München 1999, S. 196f
18)
Otto Betz: Was wissen wir von Jesus? Der Messias im Licht von Qumran, Wuppertal, 3. erw. Auflage 1999, S. 125
19)
Ich habe versucht, das "weite Feld" etwas abzustecken mit meinem Buch Nur zornig ist er echt?, Eine Einführung in die Jesusforschung (erschienen 1999 im Selbstverlag, 46535 Dinslaken, Südstr. 195, zum Preis von 16,80 DM + 2,- Versandkosten, Fax: 02064-733763). Der hier abgedruckte Dialog entspricht in etwa dem 11. Kapitel.

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