Am Anfang stand die Pest!

Die Passionsspiele in Oberammergau 2000

von Otto Schenk

Im Laufe von fast 4oo Jahren durchlebte das Spiel der Passion in Oberammergau viele Veränderungen. Im Jahr 2ooo wirken als Darsteller und Gestaltende viele der jungen Generation mit
Regie : Christian Stückl, 38 Jahre, zum 2. Mal Spielleiter, gelernter Theaterfachmann und geborener Oberammergauer. Er schreibt in der Einleitung zu dem sehr gelungenem Bildband über die Passion 2ooo in Oberammergau:
"In den Wirren des 3o jährigen Krieges bricht in weiten Teilen Europas die Pest aus. So auch in Oberammergau. Menschen, denen nicht bewusst war, welch grausame Feldzüge Mikroben seit Menschengedenken führen, erfanden unglaubliche Geschichten , um sich den Ausbruch solcher Krankheiten zu erklären. Sie glaubten an eine gelb- grüne Wolke, die nachts daherschwebt und die Pest verbreitet, an Brunnen vergiftende Juden, und wenn es jene in einem Dorf nicht gab, so war es nicht selten Gott selbst, der die sündige Menschheit mit Geißel und Pest schlug. So gab es nur eine Möglichkeit: Der zürnende Gott musste besänftigt werden.
So entstand das Gelübde der Oberammergauer zum Passionsspiel (1634).
Warum können wir von der Passion nicht lassen?
Im Jahr 2ooo wirken an den Passionsspielen rund 16oo Erwachsene und 55o Kinder mit, nie zuvor waren es so viele(übrigens nur Oberammergauer, Katholiken, Protestanten, Muslime, aus der Kirche Ausgetretene. Oberammergauer ist man durch Geburt oder wenn man mehr als 2o Jahre amtlich dort lebt.)
"WIR SPIELEN' schreibt Christian Stückl, "die Geschichte eines J u d e n , dessen armselig begonnenes Leben an einem der schrecklichsten Folterwerkzeuge - dem römischen Kreuz - qualvoll zu Ende ging. Er konnte es nicht unterlassen die religiösen Führer seiner Zeit Heuchler, reißende Wölfe in Schafskleidern, blinde Führer der Blinden zu nennen und warf ihnen vor, den Tempel Gottes zu einer Räuberhöhle gemacht und die Propheten, die Gott zu ihnen sandte, getötet zu haben. Gestorben ist dieser Jude, weil er für seinen Gott und seinen jüdischen Glauben gekämpft hat.
WIR SPIELEN die Geschichte von CHRISTUS, dem Heiland, dessen Auferweckung vom Tode eine gewaltige Bewegung losgetreten hat....
WIR SPIELEN die Geschichte eines Mannes, dessen Botschaft über 2ooo Jahre hin unglaublich viel bewegt hat, mit seiner Botschaft, die Tausenden dazu verhalf, aufrecht mit erhobenem Kopf, frei und sich zu Gott bekennend durch die Welt zu gehen, einer Botschaft, die unsere Kultur und Lebensweise geprägt hat und die unzähligen unterdrückten oder kranken Menschen Hoffnung und Überlebenskraft gab. Einer Botschaft, die Künstler inspirierte und Werke wie Johann Sebastian Bachs "Matthäus Passion " oder Leonardo da Vincis "Abendmahl" entstehen ließ.
WIR SPIELEN aber auch die Geschichte eines Mannes, dessen Anhänger, die Christen, unglaublich viel Leid in die Welt gebracht haben, deren Glaubenseifer vor keiner Gewalt zurückwich und eine blutige Spur hinterlassen hat.
Millionen Juden - Glaubensbrüder Jesu- mussten im 2o. Jahrhundert sterben, weil Kirchen und auch die Passionsspiele über Jahrhunderte den Samen des Antisemitismus, den Judenhass gesät haben. DIE NATIONALSOZIALISTEN BETRATEN EIN GUT GEDÜNGTES FELD" (Hitler besuchte die Spiele 193o und 1934 und war von dem dargestellten Judenhass begeistert)
Nachdem Christian Stückl die enormen Anstregungen der Probenzeit geschildert hat, schließt er :
" Und all dies , um die vielleicht "GRÖSSTE GESCHICHTE ALLER ZEITEN"auf die Bühne zu bringen. Die Geschichte eines gläubigen Juden, der aufbrach ,um zu suchen, was ihm verloren gegangen schien unter den Menschen: GERECHTIGKEIT, BARMHERZIGKEIT, und GLAUBE. Der es verachtete, wenn Menschen ihre Frömmigkeit nach außen wie ihr bestes Gewand zur Schau tragen, und es für seinen Gott auf sich nahm, nackt, geschunden und verspottet vor dem Volk zu stehen. Der bis zur letzten Konsequenz, bis zur Hinrichtung am Kreuz, diesen Weg gegangen ist.
Vielleicht gelingt es uns - sagt Stückl- im Jahr 2ooo auf der Bühne des Passionsspielhauses, das Publikum mit der Gestalt des Jesus von Nazareth neu zu konfrontieren, zu treffen".
In der Mittagespause haben die vielen Menschen sehr schnell das Theater verlassen und verteilen sich über den gastfreundlichen Ort zum Mittagessen. Man geht an der Schnitzerwerkstatt eines "Priesters" vorbei, schaut bei "Maria Magdalena" herein oder speist im "Gasthof zur Rose" bei den Hohenpriestern Kaiphas und Hannes, übrigens Vater und Großvater des Spielleiters Christian Stückl. Nach dem Essen bleibt noch Zeit etwas in dem Textbuch zu blättern. In der kombiniert deutsch-englischen Ausgabe schreibt Professor Mödl, der Beauftragte der Kirchen, in einem extra Kapitel unter der Überschrift:
"Das Passionsspiel - Anklage des Judentums oder Spiegel unser selbst?"
Kein Mensch darf sich verurteilend über die Gestalten der Passionsgeschichte überheben, denn in uns allen steckt ein Kaiphas, ein Pilatus, ein Judas.... Es ist festzustellen, dass das Oberammergauer Spiel verschiedentlich dazu beigetragen hat, den Boden zu bereiten, aus dem dann die furchtbare Frucht der Judenvernichtung hervorging. Nicht zuletzt hat man vergessen, dass Jesus ebenso Jude war wie seine Mutter, wie Magdalena oder alle Apostel, und im übrigen die erste christliche Gemeinde.
JESUS ; EIN Glied in der Kette der Propheten Israels.
In den für das Jahr 2ooo neubearbeiteten Texten des Spieles und besonders auch in den "lebenden Bildern" wird versucht , Jesus aus seiner Einbindung in jüdischen Glauben und jüdische Tradition zu verstehen. Um Schwarz Weiß Malerei und antijüdisches Missverstehen zu vermeiden, wurde z. B. der Gruppe von Anklägern im Hohen Rat eine interne Opposition von jüdischen Ratherren gegenüber gestellt, die einen fairen Prozess fordert und der aufgebrachten Menge vor Pilatus eine Schar von Anhängern Jesu.
Auch die neue Auswahl der (alttestamentlichen) "Lebenden Bilder" mit ihren Verweisen auf die Glaubensgeschichte Israels, besonders die Vergleiche mit Moses, sollen dazu dienen, die Kontinuität im Glauben beider Religionen zu sehen und uns (Christen) dankbar als das junge Reis aus der Wurzel des alten Glaubens zu erkennen."
Jüdisches Pessachfest in Oberammergau 2000
Zu Beginn der dramatischen Pessach- Abendmahlsszene steht ein Lebendes Bild aus Ägypten. Das erste, rettende Pessachfest des Volkes Israel vor der Befreiung aus der Sklaverei unter Pharao. Dann sieht man die Jünger mit jüdischen Gebetsschals um einen mächtigen Tisch versammelt auf dem ein gewaltiger siebenarmiger Leuchter steht. Jesus wird auch bei dieser Geschichte von seinen Anhängern immer mit Rabbi angeredet. Johannes, als der jüngste Jünger, stellt die klassische Pessachnacht-Frage des jüngsten: "Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? Und Jesus antwortet, wie der jüdische Hausvater auch heute noch am Sederabend: "In dieser Nacht führte der Herr Israel aus Ägypten heraus mit starker Hand- und erhobenem Arm." Nach der Mittagspause haben sich die vielen Pilger wieder im weiten Rund des Festpielhauses versammelt. Trotz des warmen Sommertages und der Nachmittagsstimmung ist von Müdigkeit wenig zu spüren ( ein englischer Gast nickt ab und zu vor Anstrengung.) Noch einmal wird mehr als 3 Stunden lang höchst intensiv gespielt und gehört.

Die ruhigen, aussagestarken "Lebenden Bilder", die Chorgesänge und Musikbeispiele wechseln sich ab mit der immer hektischer und aufregender werdenden Handlung. Etwa, wenn vor Pilatus die aufgehetzte Menge tobt und die Schreie weit zu hören sind, da läuft es dem Zuschauer schon eiskalt über den Rücken.
Jugend von heute: Jünger von damals ?
Als der Gemeinderat die Rollen bekannt gab und die Namen vor dem Rathaus zu lesen waren, da wunderten sich der 17 jährige Realschüler Simon und der 18 jährige Bundeswehrsoldat Frederik nicht schlecht. Sie hatten mit einer Nebenrolle gerechnet, aber nicht mit dem Lieblingsjünger Jesu, dem Johannes. Es sind 2 Johannesse, da alle wichtigen Rollen bei 11o Aufführungen dringend doppelt besetzt sein müssen, die Strapazen sind sonst zu groß. Die jungen Männer sind stolz auf ihre Rolle und genießen den Sommer 2ooo.Es bleibt ihnen noch Zeit zum Feiern, zum Reisen und zum Besuch bei Freundinnen. Wenn man sie fragt, ob sie gläubig sind, gucken sie erst verständnislos, wie kann man so etwas fragen? An Gott glauben, natürlich, auf jeden Fall. Sie fühlen sich als Christen, nicht so sehr als Katholiken. In die Kirche gehen? Man kann doch auch zu Hause beten.

Jesu Lieblingsjünger haben die gleiche Lieblingsszene. Am Meisten freuen sie sich auf den Moment am Kreuzweg, wenn Jesus zur Kreuzigung geht." Da läuft Johannes ganz allein auf die riesige Bühne und schreit das Publikum an, fast 5ooo Leute", sagt Frederik. Und Simon: "Da kann ich mich total reinsteigern, in dieses Gefühl, diese Verzweiflung." Beide senken die Augen, wenn sie sprechen, zupfen sie sich an ihren Haaren. Zweimal Johannes, ein Gefühl:

"Schreit ihr Tore, klagt ihr Mauern, verzehr dich in Gram, Israel! Schrei laut zum Herrn, Tochter Zion. Wie einen Bach lass fließen die Tränen, Tag und Nacht. Herr, sieh doch und schau, wem hast du solches getan?"

Der Verräter Judas, ein Symphatieträger
Mit viel Liebe und Verständnis wird die Figur des Judas gezeichnet. Zwei junge Männer aus der Theaterbranche und dem Hotelfach , liebenswürdige Menschen, zeigen die ganze Zerrissenheit und menschliche Tragik dieses Jüngers. Gleich zu Beginn der Aufführung wird deutlich, was Judas von Jesus erwartet: "Du, Jesus, wirst das drückende Joch der Römer und den Stecken des Treibers zerbrechen." Als Jesus das nicht erfüllen kann, wendet sich Judas enttäuscht ab. Voller Entsetzen sieht er dann , was er angerichtet hat und schreit. "Sterben, sterben? Dazu habe ich Jesus euch nicht überliefert. Für seinen Tod will ich nicht verantwortlich sein'. Und vor Kaiphas bekennt er : "Keinen Anteil will ich haben an dem Blut des Unschuldigen.'

In einem ergreifenden Verzweiflungsmonolog schreit Judas seine ganze Not heraus und sehnt sich nochmal nach dem Angesicht Jesu. JUDAS; kein hässlicher, geldgieriger, berechnender Schuft, sondern ein verirrter, verstörter, trauriger Mensch.

Beifall sollte nicht sein, rauscht aber auf. Niemand kommt und verbeugt sich auf der Bühne. Man erlebte eben doch mehr als ein Theaterspiel. Aufgewühlt von der eigentlich doch bekannten Geschichte tritt man ins nun wieder belebte Dorf.

Ist es nicht Anfang des 21. Jahrhundert merkwürdig, dass Tausende von Menschen stundenlang dasitzen und sich für viel Geld die Jesusgeschichte ansehen? Sagt nicht das Fernsehen: Nur kleine Häppchen verdaut das Publikum?

Was treibt die Menschen nach Oberammergau? und lässt sie gepackt und gebannt lauschen? Es ist eine weltweit einmalige, im Grunde unglaubliche Unternehmung. Die "Neue Züricher Zeitung " schrieb: "Ist das Stück nun frei von aller Judenfeindlichkeit? James Shapiro, ein jüdischer Literaturwissenschaftler aus New York, der ein kluges Buch über die Entstehung dieser Aufführung geschrieben hat, sieht genau darin das Problem: Nachdem aller Schutt beiseite geräumt ist, liegt etwas Grundsätzliches offen:

Ein Christus, der angetreten ist die Religion der Juden zu vollenden, muss für sie ein Ärgernis bleiben!"

In Oberammergau wird Jesus als ein mutiger Visionär und Kämpfer gezeigt. Er hält jedem religiösen Establishment hemmungslos den Spiegel vor. Dieser Rabbi Jesus bleibt anstößig und unbequem.

Ob er der Messias, der Christus sein wollte?

Sein Eintreten für Gerechtigkeit hat nichts von seiner explosiven Wirkung eingebüßt.

Oberammergau 2000 rüttelt auf und lädt zum Handeln ein.

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