"Will sich die Bekennende Kirche nicht erbarmen?"

Wie die Lehrerin Elisabeth Schmitz im Jahr 1935 die Protestanten zum Widerstand aufrief - aus ihrer Denkschrift
Die Forschung über die Geschichte des deutschen Widerstands, an den am heutigen 20. Juli gedacht wird, fördert immer wieder Überraschendes zu Tage. In dem Buch über die evangelische Theologin Katharina Staritz, das Hannelore Erhart (emeritierte Professorin in Göttingen), Ilse Meseberg-Haubold (Professorin in Oldenburg) und Dietgard Meyer (Pfarrerin in Kurhessen-Waldeck) 1999 im Neukirchener Verlag herausgegeben haben, hat Dietgard Meyer in einem sorgfältig recherchierten "Exkurs" erstmals nachgewiesen, dass die Denkschrift "Zur Lage der deutschen Nichtarier" aus dem Jahr 1935 von der Studienrätin Elisabeth Schmitz verfasst worden ist, die aus Hanau stammte und in Berlin unterrichtete. In der evangelischen Kirchengeschichte wurde dieses Dokument, das Synoden der Bekennenden Kirche vorgelegen hat und auch den führenden Repräsentanten bekannt war, aber nie offiziell behandelt worden ist, stets der Berliner Wohlfahrtspflegerin Marga Meusel zugeschrieben. Beide Frauen hatten immer wieder vergeblich an die Bekennende Kirche appelliert, sich öffentlich gegen die Politik des NS-Regimes zu stellen. Wir dokumentieren Auszüge aus der Denkschrift, die Schmitz in 200 Exemplaren selbst abgezogen hatte.

In dem "Wort an die Obrigkeit" der Augsburger Bekenntnissynode steht der Satz: "Wir müssen aber mit ehrerbietigem Ernst darauf hinweisen, dass Gehorsam im Widerspruch gegen Gottes Gebot nicht geleistet werden darf."

Aus der Weltanschauung aber, die auf dem Mythos von Blut und Rasse beruht, und die die Grundlage des heutigen Staates, seiner Gesetze und gesamten Lebensäußerungen bildet, steigt in unzähligen Gestalten die Versuchung, ja die Forderung zum Ungehorsam gegen Gottes Gebote auf.

Es gibt einzelne Gebiete des staatlichen Lebens, die wir vor andern mit angstvoller Sorge betrachten, da in ihrer gesetzlichen Regelung die Verletzung der Gebote konstitutiv enthalten ist.

Aus diesen Gebieten sei hier die Ariergesetzgebung und der ganze, mit ihr in Zusammenhang stehende Bereich herausgegriffen.

Vor nunmehr bald 2½ Jahren ist eine schwere Verfolgung hereingebrochen über einen Teil unseres Volkes um seiner Abstammung willen, auch über einen Teil unserer Gemeindemitglieder. Die unsagbare äußere und wohl noch größere innere Not, die diese Verfolgung über die Betroffenen bringt, ist weiterhin unbekannt und damit auch die Größe der Schuld, die das deutsche Volk auf sich lädt.
I. Innere Not
1. Aufhetzung der öffentlichen Meinung
Im Namen von Blut und Rasse wird seit stark zwei Jahren die Atmosphäre in Deutschland unaufhörlich planmäßig vergiftet durch Hass, Lüge, Verleumdung, Schmähungen niedrigster Art in Reden, Aufrufen, Zeitschriften, Tagespresse, um die Menschen zu willigen Werkzeugen dieser Verfolgung zu machen.

Einige wenige Beispiele seien zum Beweis angeführt:

Der Gauleiter von Franken und Leiter des Boykotts vom 1. April 33, Julius Streicher, sagte auf einer Massenkundgebung des Gaues Franken der deutschen Arbeitsfront: "Wir werden durch Gesetz dafür sorgen, dass sie, die nach uns kommen, als Deutsche leben und nicht als Menschen, die aussehen wie Tiere." (Quelle: Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Berlin. Politisches Wochenblatt. Auflagenhöhe 1934: 50 000. Im Sommer 1935 wurde das Erscheinen der CV-Zeitung für drei Monate verboten. Am 10. 11. 1938 wurde die gesamte bis dahin erschienene jüdische Presse verboten - Anm. d. Autorin.)

Ärzteblatt der Provinzen Brandenburg, Grenzmark und Pommern vom 1. 3. 33 (Nr. 13): "Der Provinzialvorstand der Ärzte Brandenburgs hält es daher in unserem völkischen Staat für undenkbar, dass ein Jude die Möglichkeit behält, das Gift jüdischen Denkens auf diesem Wege auszustreuen (d. h. als Arzt) . . . Wir deutschen Ärzte fordern daher Ausschluss aller Juden von der ärztlichen Behandlung deutscher Volksgenossen, weil der Jude die Inkarnation der Lüge und des Betruges ist . . . (Unterschrift:) Dr. Ruppin, MdR, Kommissar im Zentralverband der Ärzte der Provinzen Brandenburg und Grenzmark."

Die Zeitschrift "Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden" schreibt im Februar 35 in einem Artikel über die "Verschwörung wider das Blut": "Wer den Juden kennt, der weiß, dass sein ganzes Sinnen und Trachten nicht nur auf Reichtum gerichtet ist, . . . sondern darüber hinaus auf Beherrschung, Schädigung und Vernichtung aller Nichtjuden. Die jüdischen Gesetze . . . gebieten dem Juden nicht nur, den Nichtjuden zu betrügen und zu berauben, sondern ihn zu töten, wo und wie er nur kann. So erfüllt der Jude nur sein Gesetz und erwirbt sich das Wohlgefallen seines Gottes, wenn er einen Ritualmord begeht. In gleicher Richtung ist der Jude ununterbrochen tätig, indem er versucht, die nichtjüdischen Völker in Kriege gegeneinander zu hetzen, damit sie sich gegenseitig ausrotten."

Aus dem Telegramm einer Kundgebung von 500 Ärzten aus Mittelfranken "der deutschstämmigen Ärzteschaft der ehemals roten Judenhochburg Fürth" an Reichsinnenminister Frick vom 1. 12. 34: Als natürliche Folge ihrer weltanschaulichen Schulung durch Gauleiter Streicher . . . gestatten sich die hier Versammelten, an Sie die Bitte zu richten, baldigst dem schon in Kraft befindlichen Arier- und Erbgesundheitsgesetz den selbstverständlichen natur- und volksnotwendigen Abschlussparagraphen folgen zu lassen des Inhalts, dass jede versuchte körperliche Gemeinschaft zwischen deutscher Frau und Judenstämmling genauso wie die vollzogene mit schwerster Strafe geahndet wird, bei der deutschen Frau mit der Aberkennung der deutschen Staatszugehörigkeit, Verbringung in ein Arbeitslager und bei vollzogener körperlicher Gemeinschaft mit einem Judenstämmling mit Unfruchtbarmachung, beim Judenstämmling mit ebenfalls sofortiger Aberkennung der deutschen Staatszugehörigkeit, mit Beschlagnahme seines ganzen Vermögens, mit mindestens 5 Jahren Zuchthaus und nachheriger sofortiger Ausweisung aus Deutschland als unerwünschter Fremdrassiger.

. . . Das deutsche Volk bleibt nur am Leben, wenn es ab sofort seelisch(!) und körperlich rassisch rein erhalten wird." Das wird es nur, "wenn ab sofort . . . praktisch jede weitere jüdisch-rassische Vergiftung und Verseuchung des deutschen Blutes verhütet wird . . . Und wer das deutsche Volk vergiftet, begeht Landesverrat".

Im "Stürmer" (Organ Julius Streichers) - er hängt seit kurzem ja auch in Berlin an allen Ecken aus - der immer wieder das Ritualmordmärchen bringt, findet sich in Nr. 48/1934 der Satz, dass "dem Juden nach seinen (d. i. des Talmuds) Geheimlehren die Vernichtung des Christen, die Schändung christlicher Frauen zur Pflicht gemacht ist" . (...)

Aus einem Artikel von Wilhelm Kube, Gauleiter der Kurmark (und Oberpräsident von Berlin, Brandenburg und Grenzmark) im Cottbuser Anzeiger vom 19./20. 5. 34: "Was Pest, Schwindsucht und Syphilis für die Menschheit gesundheitlich bedeutet, das bedeutet das Judentum sittlich für die weißen Völker. Wie der Weltkrieg ein abgefeimtes Werk der Juden und Freimaurer war, so sind die heutigen Krisen, die die Ruhe der Welt immer wieder erschüttern, ebenfalls ein Werk des Judentums . . . Die zwei Millionen deutscher Toter kommen ebenso auf das Schuldkonto Judas wie die 10 Millionen Toter der andern Völker der Welt, die am großen Kriege teilnahmen. Daran sollten die Mütter der Welt immer denken, wenn sie einen Juden sehen oder von ihm hören . . .

. . . Der Jude ist die personifizierte Verneinung, der Deutsche ist die gottgewollte und gottbedingte Schöpfungskraft.

Wir müssen in der deutschen Gesetzgebung dahin kommen, dass Mischehen zwischen Deutschen und Juden grundsätzlich verboten werden. Jude ist, wer mehr als 10 Prozent jüdischer Blutsteile in sich trägt. Wer seine Rasse und damit unseres Volkes bestes Erbgut trotzdem durch Mischehe schändet, muss unfruchtbar gemacht werden, weil er Verrat am deutschen Volke verübt.

. . . An den - fast ausschließlich jüdisch begleiteten - Bühnen Berlins, Frankfurts, Hamburgs usw. herrschte ein Sauherdenton gemeinster Perversität und frechster Kunstschändung. Wenn diese krummnasigen Theaterhuren männlicher und weiblicher Anatomie heute nicht überwiegend in Prag, Wien usw. säßen, sollte man sie noch nachträglich sterilisieren und einsperren. Die Sau suhlt im Mist, der Jude in dem, war er ,Kunst' nennt! Die Prügelstrafe für diese zuchtlose Bande wäre sanftes Streicheln!(...)

Und wenn Ihr meint, dass wir rauh und grob in der Auswahl unserer Bezeichnungen gegen Euch waren: dann lest mal in Eueren ,Heiligen Stammschriften' nach, wie Ihr Euch nach Eueres Stammesgötzen Gebot schon im Altertum gegen anständige nordische Völker benommen habt. Spiegelberg Juda, wir kennen Dich!"

Das Gewerbe des Ehrabschneiders und Verleumders gilt von jeher mit Recht als das erbärmlichste und verächtlichste. Und abgesehen von der menschlichen Verurteilung - sollte nicht auch uns das 8. Gebot gelten? Und sollte es nicht der Kirche aufgetragen sein, angesichts der unaufhörlichen Übertretung des Gebotes zu reden und nicht zu schweigen?
2. Folgen der Verhetzung
Dass diese tägliche Verhetzung nicht ohne Folgen bleiben kann, ist selbstverständlich.

In einer Kleinstadt im Regierungsbezirk Kassel (Gauleiter Sprenger-Darmstadt) können die jüdischen Einwohner kaum noch auf die Straße gehen, werden fortwährend die Fensterscheiben eingeworfen. Ein Herr erzählte, wie kürzlich ein schwerer Stein auf das Bett fiel, in dem seine Frau lag.

"In der Stadt Schlüchtern (Hessen-Nassau) sind an den arischen Geschäften Plakate angebracht worden, die Juden den Zutritt verbieten(!). Jüdische Geschäfte und Privathäuser sind durch gelbe Zettel mit der Aufschrift ,Jude' kenntlich gemacht." (Frankfurter Zeitung, Reichsausgabe vom 16. 8. 35). Und wenn z. B. kein jüdisches Lebensmittelgeschäft, keine jüdische Apotheke existiert?!

An manchen Orten hängen die Bauern ein Schild an das Hoftor, dass Juden das Gehöft nur auf eigene Gefahr betreten.

Seit den letzten Berliner Ereignissen sind ja auch hier die Vorgänge bekannt, wie plötzlich jüdische Frauen und Kinder in den Strandbädern aus dem Wasser geholt werden, wie die bekannten Aufschriften erscheinen an Bädern, Restaurants usw., wie Kinderheime plötzlich geschlossen werden (Misdroy, Kolberg u. a.). In der Umgebung von Berlin ist an einer Stelle sogar das Betreten des Waldes(!) Nichtariern verboten. Unter dies Verbot würde z. B. auch der Komponist von Eichendorffs Lied "Wer hat Dich, Du schöner Wald . . ." gefallen sein - Felix Mendelssohn-Bartholdy.(...)

In der Umgebung von Trier ist einem dreimal verwundeten kriegsblinden Juden mit Eisernem Kreuz und Verwundetenabzeichen in Silber, der zur Feier der Saarabstimmung die schwarz-weiß-rote Fahne herausgehängt hatte, diese Fahne heruntergerissen worden (Trierer Landeszeitung v. 24. 4. 35).

Der Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten hatte zum Heldengedenktag am Ehrenmal einen Kranz niederlegen lassen. Dieser Kranz ist wieder entfernt worden!

Dass seit vielen Monaten in den fränkischen Dörfern um Nürnberg herum Tafeln angebracht oder Spruchbänder quer über die Straße gezogen sind mit Inschriften: "Juden betreten die Ortschaft auf eigene Gefahr", ist wohl allgemein bekannt. Diese Methode ist vom Gauleiter Streicher ausdrücklich als Vorbild hingestellt worden, und mit Genugtuung berichtet er, dass sie bereits hier und da nachgeahmt werde. (...)

Bis zu welche Rohheit die Dinge gediehen sind, zeigt ein Vorgang in Nürnberg beim Faschingszug, über den es in der "Fränkischen Tageszeitung" heißt: "Am heitersten wurde die ausziehende Judensippschaft, die in naturgetreuen Nachbildungen zu sehen war, aufgenommen." Die CV-Zeitung bemerkt dazu: "Eine wirkliche heitere Angelegenheit! Bürger eines Staates, die seit Generationen in ihm wurzeln, verlassen bestimmt nicht aus Vergnügen ihr Vaterland."

Und die, die das so heiter stimmte, sind ja wohl in ihrer großen Mehrheit Glieder der evangelischen Kirche.

Ja, es ist bereits die öffentliche Aufforderung zum Pogrom in Deutschland vorgekommen, wie aus einem Erlass des Gauleiters Streicher hervorgeht (Fränkischer Kurier, Nürnberg, 21. 3. 35): "Verantwortungslose Elemente haben die Nachricht verbreitet, dass die Juden gegen den Führer ein Attentat angezettelt hätten und dass infolgedessen die Juden totgeschlagen werden müssten. Man ist sogar so weit gegangen, dass man Plakate aufklebte, auf denen zum Pogrom aufgefordert wurde. Im Gau Franken befehle ich, und sonst niemand . . ." (Basler Nachrichten v. 22. 3. 35).

Es ist die Disziplinlosigkeit, nichts anderes, was hier gerügt wird!

In einer mitteldeutschen Kleinstadt (auch protestantisch, wie die Gegend um Nürnberg!) ist vor einigen Monaten ein Jude buchstäblich totgetreten worden!

Er hinterlässt seine Frau und einen Sohn.

Diese Beispiele sind Schlaglichter, die grell die Lage beleuchten. Diese Lage ist verzweifelt. Sie ist angesichts dieses Meeres von Hass, Verleumdung, Gemeinheit verzweifelt nicht nur für die, die es trifft, sondern noch viel mehr für das Volk, das dies alles tut und geschehen lässt. Die Bek. Kirche (Bekennende Kirche, auch BK - Anmerk. Red.) hat sich feierlich zu ihrem Wächteramt nach Hes. 3 (Hesekiel 3, 17 -Anm.d.Red.) bekannt. Will sie sich nicht erbarmen über ihre Glieder und ihren Wächterruf erschallen lassen, um Augen zu öffnen und Gewissen wachzurütteln? Der Feind - die Vergötzung von Blut und Rasse - steht drohend unmittelbar vor der Mauer und wohl schon nicht mehr vor der Mauer.

Der Rundbrief Nr. 1 der Bekenntnisgemeinschaft der Evang.-Lutherischen Kirche in Bayern, Nürnberg, 8. 5. 35, bringt mit innerer Genugtuung einen Bericht über das schnelle Anwachsen der Bekenntnisgemeinschaft in Franken - ausgerechnet in Franken! -, auf das er sich nicht wenig zugute tut. In diesem Bericht heißt es: "Binnen kurzem entstanden nicht nur in der Großstadt Nürnberg, sondern auch in den kleinen Städten und Dörfern des Frankenlandes starke Bekenntnisgemeinschaften. In Nürnberg und Fürth wurden nach wenigen Wochen über 50 000 Mitglieder gezählt." In Nürnberg besprechen Männerkreise der Gemeindegruppen das Thema "Praktisches Christentum". - Vielleicht sorgt die Bayr. Kirche einmal dafür, dass man in ihren großen Bekenntnisgemeinschaften der Nürnberger Gegend in der Praxis etwas mehr vom praktischen Christentum merkt! Es ist tief beschämend, dass gerade diese Gegend des kath. Bayerns protestantisch ist.

Wer ruft die Gemeinden und unser ganzes Volk zurück zu dem, nach dem alles Christentum sich nennt? Zu dem, der seiner Kirche gerade den Samariter, den "artfremden", verachteten "Mischling" als das große Beispiel der Barmherzigkeit, des praktischen Christentums hinstellt? Zu dem, der gesagt hat: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst - und gegen dessen Gebote es sich empört? Und wer von uns wagt, sich zu sondern von seinem Volk, das diese Schuld auf sich lädt? Dieses Volkes Schuld ist auch unsere Schuld.
3. Lage der Kinder
Aber wenigstens die Kinder haben doch i. a. im ganz elementaren Empfinden der Menschen einen Anspruch auf Schutz. Und hier? In großen Städten gehen die jüdischen Kinder vielfach jetzt in jüdische Schulen. Oder die Eltern schicken sie in katholische Schulen, in denen nach allgemeiner Ansicht sie sehr viel besser geschützt sind als in evangelischen. Und die nichtarischen evangelischen Kinder? Und die jüdischen Kinder in kleinen Städten, wo es keine jüdische Schulen gibt, und auf dem Lande? In einer kleinen Stadt werden den jüdischen Kindern von den anderen immer wieder die Hefte zerrissen, wird ihnen das Frühstücksbrot weggenommen und in den Schmutz getreten! Es sind christliche Kinder, die das tun, und christliche Eltern, Lehrer und Pfarrer, die es geschehen lassen!

Ein junges Mädchen aus einem sehr bekannten christlichen Hause trat in der Schule energisch für bekenntnismäßigen Religionsunterricht ein. Zur gleichen Zeit aber brach sie ausdrücklich ihren Verkehr mit einem anderen evangelischen Mädchen ab mit der Erklärung, dass ihr Jugendbund ihr den Verkehr mit Nichtariern verbiete!

Ein kleines Mädchen wagt auf der Straße nicht, an einem Pferd vorbeizugehen, das mit den Vorderhufen auf dem Bürgersteig steht. Da sagt seine Schwester beruhigend: "Geh doch, das Pferd weiß ja nicht, dass wir jüdisch sind."

Ein Kind, das eine jüdische Mutter hat, bittet seine Freundinnen immer wieder angstvoll: "Kommt bald wieder, meine Mutti ist sehr nett." Ein anderes bittet die Mutter fortzugehen, damit die Freundinnen sie nicht sehen.

Andere Kinder verbergen angstvoll mit allen Mitteln, dass sie nicht arisch sind, lügen immer in der Angst, dass "es herauskommt", machen Vater oder Mutter Vorwürfe.

In einer Stadt in Mitteldeutschland war als einziges nichtarisches Kind ein Kind aus einer Mischehe in der Klasse, aus der angesehensten - evangelischen - Familie der Stadt, einer bekannten Industriellenfamilie. Ein Lehrer fragte bei der Gelegenheit: "Wer ist nichtarisch?" und zwang das Kind immer wieder, als einziges aufzustehen. Es musste schließlich aus der Schule genommen werden.

Eine Berliner Mädchenschule musste in ihrem Landheim die Hakenkreuzfahne einziehen auf die drohende Haltung der Bevölkerung hin, die daran Anstoß nahm, dass die jüdischen Kinder mit den anderen spielten.

In einem Dorf in Hessen-Nassau lebte noch eine jüdische Familie, zwei waren schon weggezogen. Auch diese Familie hatte ihr älteres Kind schon weggegeben, das kleinere Mädchen aber wollten die Eltern noch bei sich behalten, und es ging also noch in die Dorfschule. Da setzte auf Veranlassung des Bürgermeisters, der zugleich Ortsgruppenleiter ist, ein Schulstreik der anderen Kinder ein, die erklärten, nicht mehr zu kommen, so lange das jüdische Kind noch da sei.

Was soll aus den Seelen dieser Kinder werden, und was aus einem Volk, das solche Kindermartyrien duldet? Und was aus der Jugend dieses Volkes, die in solcher Luft aufwächst und so missbraucht wird? (. . .)
II. Die andere Not ( . . . ) Schule
Der Reichserziehungsminister Rust hat an sämlichen Schulen einen Erlass gerichtet ( R U II C 5209/1 vom 15. 1. 35), in dem er als Aufgabe der Schule hinstellt, dass "kein Knabe und kein Mädchen die Schule verlässt, ohne zur letzten Erkenntnis über die Notwendigkeit und das Wesen der Blutreinheit geführt zu sein". "Jede Vermischung mit wesensfremden Rassen (leiblich oder geistig-seelisch) bedeutet für jedes Volk Verrat an der eigenen Aufgabe und am Ende Untergang." Die logische Folge aus diesem Erlass zieht der Leiter des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Dr. Gross, indem er fordert die "rassische Harmonie zwischen Lehrer, Schüler und Lehrstoff".

Damit wäre der Ausschluss aller nichtarischer Kinder aus öffentlichen Schulen unvermeidlich, allerdings auch der Ausschluss der Bibel und des Christentums aus dem Unterricht
III. Die Stellung der Kirche
Hier schließt sich der Kreis. Einer Judenverfolgung im Namen von Blut und Rasse muss eine Christenverfolgung notwendigerweise folgen. Einen Anfang davon hat die Bek. Kirche, haben vor allem ihre Pfarrhäuser zu spüren bekommen. Aber trotz alles Leides wird es niemand einfallen, es in einen Vergleich setzen zu wollen zu dem Leid der deutschen Juden und Nichtarier. Und ganz abgesehen von der Größe des Leides bleibt der große Unterschied: Der Christ leidet persönlich, der Jude und Nichtarier mit Kindern und Enkeln. Und selbst wenn die Glieder der Bek. Kirche unter die Ariergesetzgebung gestellt würden, wären noch immer die Verwandten, die weitere Familie nicht mitbetroffen. Und die Hauptsache: Die Bek. Kirche leidet - und darf das wissen - um ihres Glaubens willen, der Nichtarier wird verfolgt, weil Gott ihn in eine bestimmte Familie hat hineingeboren werden lassen.

Alle diese Menschen mit ihrem unermesslichen Leid Leibes und der Seele sind die Opfer des Glaubens an Blut und Rasse. Aber welcher Arzt, welcher Rechtsanwalt, welcher Beamte, Angestellte, Geschäftsinhaber weiß, ob er nicht der Nutznießer dieser Götter ist? Ob nicht seine Existenz aufgebaut ist auf der vernichteten Existenz eines andern? Auch, wenn er es nicht will, auch wenn er mit allen Fasern seines Wesens sich wehrt gegen diese Möglichkeit. Unvermeidlich hat er Vorteile aus seiner Abstammung, aus seinem "Blut" und seiner "Rasse". In diese Schuldgemeinschaft ist unentrinnbar jeder verstrickt.

Es ist deutlich angesichts der Lage, dass die jüdischen Familien auf dem flachen Lande und in den kleinen Städten vielfach nicht bleiben konnten. Sie konnten ein solches Leben des Gehetztwerdens nicht ertragen, vielfach auch einfach den Lebensunterhalt nicht mehr erwerben und sind nicht sicher vor Misshandlungen. Es sind ganze Familien ausgewandert. Stark ist der Zuzug nach Berlin gewesen. Jetzt ist der Zuzug nach Berlin verboten. Was nun? Sollen die Flüchtlinge verhungern? Wer weiß aber um die Verpflichtung zu helfen? Wer speist die Hungrigen, kleidet die Nackenden, besucht die Gefangenen? Wer tut Gutes an jedermann, ja auch nur an des Glaubens Genossen?

Warum muss man sich immer sagen lassen aus den Reihen der nichtarischen Christen, dass sie sich von Kirche und Ökumene verlassen fühlen? Dass ihnen jüdische Menschen und jüdische Hilfsorganisationen helfen, aber nicht ihre Kirche? Dass sie sich um ihre katholischen Mitglieder keine Sorgen zu machen brauchten, denn diese gingen nicht zu Grunde, weil die Kirche für sie sorge, dass man aber über die Haltung der evangelischen Kirche nur sagen könne: Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun? Warum stellt die katholische Kirche nichtarische Ärzte und Schwestern ein, wo sie kann - die evangelische Innere Mission aber hat Arierparagraphen?

Warum sucht Bodelschwingh in den Ärzteblättern einen "arischen" Medizinalpraktikanten? Warum muss eine Stenotypistin in der IM (Innere Mission - Anm. d. Red.) Ariernachweis erbringen? Wenn die Kirche wüsste, welche Erbitterung das schafft und welchen Schaden es stiftet, würde sie wohl doch mehr um diese Dinge sich kümmern. Aber wer weiß überhaupt davon? Ist es ein Wunder, dass längst getaufte Menschen angesichts dessen, was sie von Christen und Kirche sehen, ins Judentum zurückgehen? Und wenn andere sich taufen lassen, dass sie in ganz überwiegender Zahl zur katholischen Kirche gehen?

Was soll man antworten auf all die verzweifelten, bitteren Fragen und Anklagen: Warum tut die Kirche nichts? Warum lässt sie das namenlose Unrecht geschehen? Wie kann sie immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat ablegen, die doch politische Bekenntnisse sind und sich gegen das Leben eines Teiles ihrer eigenen Glieder richten? Warum schützt sie nicht wenigstens die Kinder? Sollte denn alles das, was mit der heute so verachteten Humanität schlechterdings unvereinbar ist, mit dem Christentum vereinbar sein?

Und wenn die Kirche um ihrer völligen Zerstörung willen in vielen Fällen nichts tun kann, warum weiss sie dann nicht wenigstens um ihre Schuld? Warum betet sie nicht für die, die dies unverschuldete Leid und die Verfolgung trifft? Warum gibt es nicht Fürbittegottesdienste, wie es sie gab für die gefangenen Pfarrer? Die Kirche macht es einem bitter schwer, sie zu verteidigen. Menschlich geredet bleibt die Schuld, dass alles dies geschehen konnte vor den Augen der Christen, für alle Zeiten und vor allen Völkern und nicht zuletzt vor den eigenen künftigen Generationen auf den Christen Deutschlands liegen. Denn noch sind fast alle Glieder des Volkes getauft, und noch trägt die Kirche Verantwortung für Volk und Staat, anders als zu Zeiten des alten römischen Reiches, denn es sind ihre getauften Glieder, die all den Jammer und all das Elend auf dem Gewissen haben.

Aber die Kirche hat ihren Auftrag nicht von Menschen und ist nicht Menschen und Zeiten verantwortlich, sondern dem ewigen Gott. Sie hat dem Volk, in das sie gestellt ist, das Wort und den Willen Gottes zu verkünden, und sie hat ihm auch dadurch zu dienen, dass sie zugleich für sich und stellvertretend für das Volk Buße tut für das, was geschehen ist und fortdauernd geschieht. Sie muss ihre Glieder und vor allem ihre besonders gefährdete Jugend zu bewahren suchen vor schwerer Sünde und Schuld. Sie hat den Gehorsam gegen alle Gebote Gottes zu verkünden, wenn sie nicht dem Wort verfallen will: "Sein Blut will ich von Deiner Hand fordern."

Das Judentum glaubt, dass Gott es in dieser Zeit zurückruft. Es lebt von diesem Glauben und nimmt die Kraft zum Märtyrertum daraus. Und wir wissen, dass Gott uns zurückruft in dem Gericht, das über Kirche und Volk ergeht. Dass es aber in der Bek. Kirche Menschen geben kann, die zu glauben wagen, sie seien berechtigt oder gar aufgerufen, dem Judentum in dem heutigen historischen Geschehen und dem von uns verschuldeten Leiden Gericht und Gnade Gottes zu verkündigen, ist eine Tatsache, angesichts deren uns eine kalte Angst ergreift. Seit wann hat der Übeltäter das Recht, seine Übeltat als den Willen Gottes auszugeben? Seit wann ist es etwas anderes als Gotteslästerung zu behaupten, es sei der Wille Gottes, dass wir Unrecht tun? Hüten wir uns, dass wir den Gräuel unserer Sünde nicht verstecken im Heiligtum des Willens Gottes. Es könnte sonst wohl sein, dass auch uns die Strafe der Tempelschänder träfe, dass auch wir den Fluch dessen hören müssten, der die Geißel flocht und trieb sie hinaus. (abgeschlossen Mitte Sept. 35)

Frankfurter Rundschau, 20.07.2000

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