Christologie ohne Antijudaismus

von Klaus-Peter Lehmann

Vortrag gehalten am 20.3.2000 im Geistlichen Ministerium des KK Lübeck im Rahmen des synodalen Beratungsprozesses zu Kirche und Israel in der NEK
A.) Vorwort
Die mir für heute Abend gestellte Aufgabe möchte ich positiv auffassen als den Versuch einer Reflexion der theologischen, d.h. für den christlichen Glauben und die kirchliche Lehre relevanten Bedeutung des Judeseins Jesu von Nazareth, auf dessen Namen wir als Christen getauft sind und zu dem wir uns bekennen als den Erlöser der Welt.

Es handelt sich um ein theologisches Bemühen, dessen Grundlagen und Voraussetzungen nach Auschwitz entstanden, aber nicht um eine Auschwitz-Theologie. Es entspringt der Erkenntnis, die auf Seiten der Christen im jüdisch-christlichen Dialog wuchs, dass der nationalsozialistische Antisemitismus Wurzeln im Verhalten und in judenfeindlichen Glaubensformen der Kirchen hatte. So geht von dorther das theologische Revisionsbemühen notwendig an die Wurzeln des christlichen Glaubens. Sein treibendes Motiv ist nicht ein durch die geschichtliche Nähe des Holocaust gebotener Anstand den Opfern gegenüber und auch nicht ein Schuldgefühl im vordergründigen Sinne. Eher handelt es sich um das Wachwerden einer neuen theologischen Verantwortung. Mein Motiv jedenfalls ist die tiefe Überzeugung, dass die Bedeutung des Judeseins Jesu der Sache nach jeder Art Antijudaismus im christlichen Glauben ausschließt und damit inklusive, dass das messianische Zeugnis von dem Juden Jesus, das Neue Testament, keine Antijudaismen enthält.
B.) Hinführung
Ich beginne mit einem Gedicht von Paul Celan:
"Tenebrae
Nah sind wir, Herr,
nahe und greifbar.
Gegriffen schon, Herr,
ineinander verkrallt, als wär
der Leib eines jeden von uns
dein Leib, Herr.
Bete, Herr,
bete zu uns,
wir sind nah.
Windschief gingen wir hin,
gingen wir hin, uns zu bücken
nach Mulde und Maar.
Zur Tränke gingen wir, Herr. Es war Blut, es war, was du vergossen, Herr.
Es glänzte.
Es warf uns dein Bild in die Augen, Herr. Augen und Mund stehn so offen und leer, Herr.
Wir haben getrunken, Herr.
Das Blut und das Bild, das im Blut war, Herr.
Bete, Herr.
Wir sind nah. (1)

Die blutige Verfolgung der Juden im christlichen Abendland schlägt zurück auf die christliche Identität. Die Christologie, das Herzstück christlicher Lehre, steht im begründeten Verdacht zu Auschwitz beigetragen zu haben. Dennoch ist die Sache nicht ganz einfach. Die Konzentration der Barmer Theologischen Erklärung im Mai 1934 auf das Christuszeugnis hatte den einzigen kirchlich organisierten, wie dann auch immer verlaufenen, Widerstand gegen den Nationalsozialismus ermöglicht. Geschichtlich betrachtet erscheint die kirchliche Lehre von Christus janusköpfig: als judenfeindliche Auschwitz vorbereitet zu haben, als bekennende, dem Todfeind der Juden, den Nationalsozialisten, doch irgendwie entgegengewirkt zu haben. Das Problem hat noch eine andere Ebene. Dazu möchte ich Ihnen eine Notiz von Helmut Gollwitzer zitieren, der Mitte der dreißiger Jahre im Auftrag der Bekennenden Kirche als Evangelisator in den Gemeinden Thüringens unterwegs war. Er schrieb von einer Begegnung nach einem Abend, an dem es um Joh. 1,46 ging: "`Nathanael sprach zu Philippus: Was kann aus Nazareth Gutes kommen? Philippus spricht zu ihm: Komm und sieh es.´ In der Diskussion protestierte ein Lehrer gegen diesen Vers und gegen das, was ich dazu gesagt hatte: `Wir lehnen es ab, wir Deutschen heute, dorthin zu gehen und zu sehen, ins Judenland zu einem König Israels. Wir haben die Juden als unser Unglück erkannt. Wir suchen das Heil nicht mehr bei den Juden, sondern in unserer eigenen Art, in unserem eigenen Volkstum und bei dem Führer, der in unserer Mitte erstanden... Die Kirche verführt uns, unser Heil bei etwas Fremden zu suchen und nicht in unserer eigenen Art und Kraft." (2)

Hören wir hier genauer hin, dann hören wir von zwei miteinander verschlungen Problemebenen christlicher Identität, der historisch aktuellen, der damaligen Identifizierung mit dem deutschen Volkstum via NS-Ideologie und der bleibenden Ebene, der eher metahistorischen des heidnischen Identifikationswunsches mit dem Eigenen und nicht mit dem Fremden. Similia similibus. Das Bleiben beim Eigenen und die Abstoßung des Fremden als selbstbezogenes Identifikationsverhalten widerspricht, unabhängig von aktueller ideologischer Verkleidung, protestantischer Lehre, die davon ausgeht, dass die Rechtfertigung des Sünders nicht causa sui, sondern extra nos geschieht, also ohne selbstbezügliche Anstrengung ein fremdes, von außen kommendes Ereignis ist, das die Identität nicht bestätigt, sondern in einen Veränderungsstrudel hineinreißt. Reformatorisch gibt es keinen Glauben aus der eigenen Identität, sondern die Rechtfertigung des Sünders ist Befreiung von der Selbstbezogenheit aufs Eigene, Freiwerden für den ganz Anderen, für Gott und den Nächsten.

Das Neue, woran uns jene Notiz von Gollwitzer erinnert, ist, dass dieses Andere von jüdischer Art ist. Der Nazi hatte ganz richtig und sicherer als die Kirche damals und auch heute noch erkannt, dass es sich bei der Botschaft des Evangeliums um eine Art jüdische Infiltration des deutschen, des in sich selber gründenden Selbstbewusstseins handelt. Dazu nun verlese ich Ihnen eine Passage aus der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth.

"Die Bibel als Zeugnis von Gottes Offenbarung ist in ihrer Menschlichkeit zugleich ein Erzeugnis des jüdischen Geistes. Der Mensch, der in diesen Schriften gesagt hat, quod potuit, ist der homo Judaeus. Es gilt das wirklich - da helfen keine Künste, denn das hängt zu genau mit ihrem Inhalt zusammen - von der ganzen, auch von der ganzen neutestamentlichen Bibel. Es ist nun einmal so, daß der Inhalt dieser Schriften die Geschichte der göttlichen Erwählung, Berufung und Regierung Israels, die Geschichte und die Botschaft von dem Messias Israels ist. Und es sind Israeliten - und weil, wie wir hörten, die Zeugen der Offenbarung zur Offenbarung selbst gehören, ist es sogar notwendig, daß es gerade Israeliten sind - die uns in diesen Schriften das alles bezeugen...Das heute so gewaltig ertönende Jammergeschrei hat sachlich ganz recht: hier wird uns, hier wird den Menschen aller Völker durch Juden zugemutet, nicht nur sich auf jüdische Dinge einzulassen, sondern in einem ganz gewissen, aber letztlich geradezu entscheidenden Sinn selbst Juden zu werden." (3) Da wir von den Heiden Kommenden, um wahre Christen zu werden "in einem entscheidenden Sinne selbst jüdisch zu werden" haben, möchte ich mir zum Leitsatz für heute Abend machen und in den nun folgenden fünf Punkten des Versuchs zu einer Christologie ohne Antijudaismus umsetzen.
C.) Durchführung
1.) Das Judesein Jesu: Adiaphoron / Nebensache oder Hauptstück des Glaubens? Nehmen wir das Zitat von Karl Barth: "in einem entscheidenden Sinne selbst jüdisch zu werden", ernst, dann gehört dieses Jüdischwerden zur christlichen Existenz, ist also von unüberbietbarer existentieller Bedeutung für Christen. Was aber im Leben nicht Adiaphoron ist, kann es in der Lehre auch sein.

Wenden wir uns also sogleich dem Hauptstück des christlichen Glaubens zu, der Inkarnationslehre: Menschwerdung Gottes, Fleischwerdung des Wortes, zwei Seiten ein und derselben Sache. Wir kennen diese Lehre, so ist sie jedenfalls mir über Jahre immer wieder begegnet, in der Formulierung von einer allgemeinen Menschwerdung Gottes in Jesus. Jesus als der neue Adam, das hat seinen biblischen Grund, ist aber nur ihre Ausformulierung nach der allgemeinen und universalen Seite hin, nicht aber nach ihrer geschichtlich konkreten und partikularen Seite. Auf die stieß ich auch wieder in Barths Kirchlicher Dogmatik, wo es heißt: "Das Wort wurde - nicht Fleisch, Mensch, erniedrigter und leidender Mensch in irgendeiner Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch." (4) Ich würde ergänzen: erniedrigter und leidender Jude. Bei seinem Schüler Friedrich-Wilhelm Marquardt, der bei Ihnen in einigen Wochen zu Gast sein wird, lesen wir nach: "Eine Seinsweise Jesu als Sohn Gottes ist zu bestimmen aus ihrem Zusammenhang mit der Seinsweise des jüdischen Volkes als Gottes Sohn." (5) Also wäre das "Deus homo factus est / Gott ist Mensch geworden" zu präzisieren mit einem parallelen "Deus Judaeus factus est / Gott ist Jude geworden".

Wenn ich diesen Satz in mir nachklingen lasse, höre ich da eine Radikalisierung oder Zuspitzung des biblischen Zeugnisses von der Erwählung Israels heraus: Gott hat das jüdische Volk erwählt - zugespitzt: er selbst ist Jude geworden, ist einer von ihnen geworden. Was also als eine Bekräftigung jener Erwählung zu verstehen ist. Deshalb preist Maria Gottes handeln im kommenden Messias Jesus eben so: "Er hat sich Israels seines Knechtes angenommen." (6)

Hätte Gott mit Christus eine Abwendung von Israel, vom Judentum vollzogen, vollziehen wollen, dann hätte er Inder, Chinese, Amerikaner oder eben Germane werden müssen. Die Deutschen Christen waren also nicht nur verrückt, sondern konsequente, logisch denkende Theo-Logen, wenn sie nachzuweisen versuchten, dass Jesus nicht jüdischer, sondern römisch-phönizischer, also fern germanischer Abstammung war, und seinen Titel Christus nicht mit "Ch", sondern mit "K" schrieben. Nur an die Stammbäume eingangs der Evangelien, diese fleischlichen Verheißungslinien der Geschichte Gottes mit Israel, hatten sie sich nicht herangetraut. Was bedeutet also das "Deus Judaeus factus est", wenn wir dieses Dogma als konsequente Fortsetzung der Bundesgeschichte Israels sehen?

Ich denke: die Unerkennbarkeit der Gnade des biblischen Gottes in Jesus Christus für den, der an Gottes ewigem Bund mit Israel gleichzeitig vorbeischauen zu können meint. Weiter: das Ende des Substitutionsdenkens im Blick auf das Verhältnis von Kirchen und Israel. Substitutionsdenken meint, mit Jesus Christus sei etwas Neues auf dem Plan derart, dass es das Alte, den alten Bund, das alte Gottesvolk überholt hätte. Auf der NEK-Synode im September 1999 führte Prof. Crüsemann dazu aus: "Das Neue ist in der Deutung des Neuen Testaments gerade das alte, das seit alters her als das Neue erwartete." (7)

Was ist dann aber, müssen wir fragen, die Gestalt des Alten, in der es nun neu auftritt? Was ist das Neue an diesem ewig Neuen des Alten Testaments? In den Kategorien auf der Ebene der Inkarnationslehre eben: homo Judaeus factus est. Aber wir können es auch so sagen: dieser gesetzestreue Jude Jesus ist der neue Adam, der wahre Mensch.

Wir können also sagen: in der Inkarnationslehre wird in letzter Konsequenz tiefste jüdische Menschlichkeit mit universaler Humanität gleichgesetzt. Mit dem Inkarnationsdogma lehrt die christliche Kirche, dass der wahre universale Humanismus jüdischer Natur ist.

2.) Exklusivität Christi oder Gottes und Israels Bundestreue als Christi Weg? Wir nehmen die in der Barmer Theologische Erklärung zitierte Johannesstelle auf: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich." (8)

Viele von Ihnen werden Franz Rosenzweigs Argument gegen den Exklusivitätsanspruch kennen, der aus dieser Stelle christlicherseits oft herausgehört wird. Er legte die Betonung auf das Wort "kommen" und fragte, was mit denen sei, die schon, ewig erwählt, über viele Generationen durch die Geschichte beim Vater waren. Ich kann mich der Faszination dieser Auslegung nicht entziehen und entdecke im Gleichnis vom verlorenen Sohn Rosenzweigs Argument neutestamentlich bestätigt. Der eine Sohn war schon immer beim Vater, und dieser sagt zu ihm: "Kind, du bist alle Zeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Du solltest aber fröhlich sein und dich freuen, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden und verloren und ist wiedergefunden worden." (9)

In der neutestamentlichen ekklesia lagen die Probleme zwischen Juden und Heiden offensichtlich noch ganz anders als heute. Es ging darum, dass sich die Jüdischstämmigen über die dazugekommenen Heidnischstämmigen freuten. Dass jetzt auch die Griechen angenommen sind, wie Paulus sagt, war den damals überwiegend judenchristlichen Gemeinden wohl nur mit Schwierigkeiten zu vermitteln. Das Problem einer Judenmission konnte da gar nicht auftauchen. Es ging im Neuen Testament um die Gleichberechtigung für die Zuwanderer aus den Heiden im Bürgerrecht Israels. Auch von dieser historischen Problemlage her gesehen ist es unwahrscheinlich, aus Joh. 14,6 eine Art christlichen Exklusivanspruch ableiten zu können, zumal Jesus seine Jünger ermahnte, "keinen Anstoß zu nehmen, wenn sie aus den Synagogen ausgeschlossen werden." (10) Sie wollten und sollten also Teil der Synagoge bleiben, wenn nicht physisch dann geistig. Das heißt keinen Anstoß nehmen: Die Ausstoßung ändert an unserer Zugehörigkeit zur Synagoge nichts! Nach der üblichen judenmissionarischen Lesart von Joh. 14,6 hätte Jesus seine Jünger auffordern müssen, die Synagogen von sich aus zu verlassen und Kirchen zu bauen, um von den Kanzeln Judenmission zu predigen. Was später auch wirklich geschah.

Nun zu Joh. 14,6: Weg, Wahrheit, Leben. Das griechische Wort für Wahrheit aleetheia ist ein ethischer Wahrheitsbegriff, kein philosophischer und meint Wahrhaftigkeit im Umgang mit dem Mitmenschen. (11) Damit wählt die griechische Übertragung des hebräisch Gedachten einen adäquaten Begriff für die von der Tora erwartete Mitmenschlichkeit als gelebte Bundestreue. Das hebräische ämäth meint Treue im Bund von Seiten Gottes und menschlicherseits wahrhaftigen Wandel in den Weisungen der Tora. Ps. 86,11f lesen wir: "O Herr, deinen Weg weise mir, gehen will ich in deiner Treue, einige mein Herz, deinen Namen zu fürchten." Den Herrn loben und seinen Namen fürchten ist biblisch Inbegriff des Lebens. Der Weg Jesu ist, Joh. 14,6 im Licht von Psalm 86 gelesen, der Weg der Bundestreue und Namenspreisung des Gottes Israels, eben die Wegweisung zum Leben, die sich der Psalmbeter von Gott erhofft. Joh. 14,6 hat nichts mit einer Abgrenzung vom Judentum zu tun. Im Gegenteil: Jesus als der Weg, die Wahrheit und das Leben meint die Fleischwerdung des Wortes von der Bundestreue Gottes zu Israel und des jüdischen Menschen zu Gott, das ist die Menschwerdung der jüdischen Bundesethik vorbehaltloser Nächstenliebe und die Treue zu ihr durch das Bekenntnis zu ihm.

3.) Der Leib des auferstandenen Christus: Kirchensakrament oder antizipierte Völkerversöhnung

Nach neutestamentlichem Zeugnis ist Jesus Christus und seine Liebe das Ziel und die Erfüllung des Gesetzes: "Pleerooma oun nomou hee agapee" (12) Ich übersetze: Die Fülle der Tora ist die Solidarität. Ich weiß keine bessere Übersetzung als diese für agapee, die Liebe zum Nächsten, die nicht von eigenen Antrieben geleiteter Eros ist. Anders als Eros meint agapee, ich zitiere aus Barths letzter Vorlesung Einführung in die evangelische Theologie: "kein interessiertes Suchen, sondern - Geben ist seliger als Nehmen - ein souveränes Suchen des Anderen: souverän gerade darin, daß es nicht auf die Souveränität des Liebenden, sondern auf die des Geliebten zielt und gerichtet ist...Agape ist," an allem Eigeninteresse vorbei, "ein schlechthin positives Streben zum andern hin." (13) Ziel dieses Strebens wäre demnach die Versöhnung mit dem Anderen, dem Fremden. Nun finden wir, wie in pleromatischer Erfüllung der Toraweisung, den Fremden wie sich selbst zu lieben, in den neutestamentlichen Paränesen eine ungewöhnliche Versammlung und geradezu eine soziale Vergemeinschaftung von sich Fremden im Leib Christi. Im Brief an die Kolosser lesen wir: "Lüget nicht gegeneinander, nachdem ihr doch den alten Menschen mit seinen Taten ausgezogen und den neuen angezogen habt, der nach dem Bilde seines Schöpfers zur Erkenntnis erneuert wird, wo kein Grieche noch Jude, keine Beschneidung noch Vorhaut, kein Barbar, Skythe, Sklave, Freier ist, sondern alles und in allen Christus." (14) Der Leib Christi, die Jesus-Gemeinde, ist also die Versammlung von einander Fremden, besonders betont die von Juden und Heiden, unter dem Gesetz der agapee oder im Geist der agapee. Die in der Agape vergemeinschafteten Fremden sind nach Kol. 3 der neue Adam oder die wiederhergestellte Gottesebenbildlichkeit. Ich übergehe alle Kontroversen über das, was mit Gottesebenbildlichkeit des Menschen wohl gemient sein könnte und schließe schlicht aus dem dreifachen Parallelismus membrorum von Gen. 1,27 - "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn, als Mann und Weib schuf er sie" - : der Mensch in der geschaffenen Zweiheit von Mann und Frau ist in seiner Geschöpflichkeit auf den Anderen angewiesen, und er ist für den Anderen bzw. die Andere geschaffen. Die Agape wäre die Erfüllung dieser Beziehung zwischen den einander fremden Geschöpfen. Diese Beziehung, ihre Gottesebenbildlichkeit war nach dem Essen der Frucht von dem berühmten Baum zutiefst gestört.

Die Gottesebenbildlichkeit im Neuen Testament, ihre Wiederherstellung im Leib Christi gestaltet sich als die Versöhnung von verschiedenerlei Fremden, wie gesagt betont Juden und Heiden, aber auch von Sklaven und Freien, Mann und Frau. Ihr Einssein in Christus meint nicht die Aufhebung der jeweiligen Verschiedenheit, sondern die Versöhnung der Verschiedenen. Der Leib Christi ist partikular gelebte Versöhnung von einander fremden Völkern und Geschöpfen. Er stellt die von Gott gewollte Einheit oder besser Einigkeit der Menschheit her und ist damit die Antizipation des Reiches Gottes.

Unter diesem Horizont dürfen wir auch den berühmten Apostelstreit auf dem sog. Apostelkonzil bewerten. Es ging darum, ob jesusgläubige Heiden die ganze Tora zu befolgen haben oder nur ihren ethischen Teil. Stenographisch gekürzt: Reicht für das Mitsein im Leib Christi die Nächstenliebe, die Agape?, so Paulus, oder ist auch die Beschneidung nötig?, so Jakobus. Ich wage die These: Paulus war ein Visionär der Völkerversöhnung, der Versöhnung zwischen Israel und den Heiden. Hätten sich die heidnischstämmigen Jesusanhänger beschneiden lassen, wären sie physisch Juden geworden, und der Leib Christi wäre eine Versammlung miteinander versöhnter liberaler bis orthodoxer Juden. Das war Paulus nicht zu jüdisch, aber zu provinziell. Eine Versöhnung der verschiedenen Völker, wie er sie wollte, kann der Leib Christi nur sein, wenn die ihm zugehörigen Heidnischstämmigen ihre volkhafte Identität nicht in eine jüdische wechseln, sondern dem Fleisch, dem Volk nach Heiden bleiben und dem Herzen nach - Herzensbeschneidung ist eine alttestamentlich-jüdische Kategorie! (15) - Juden werden. Ich denke, hier sind wir bei einer Näherbestimmung dessen, was Barth meinte, "in einem entscheidenden Sinne jüdisch werden." Der Leib Christi, die Gemeinde Jesu ist die im Geist des Auferstandenen und seiner Tora (Herzensbeschneidung, Agape) lebendige Gemeinschaft versöhnter Völker und Geschöpfe und als solche Eintritt in die messianische Zeit der Völkerversöhnung in jüdischem Geist.

Der Leib Christi kann nicht zur Hostie vergötzt und auch nicht auf einen sakral gestimmten Genuss des Abendmahls reduziert werden. Als lebendige messianische Versöhnungsgemeinschaft ist der Leib Christi für uns Vision und gleichzeitig tiefer Stachel einer Kritik an der realexistierenden Kirche in ihrer Vernachlässigung der benachbarten Synagoge und Moschee.

4.) Sola fide ohne Christus

Wir haben gefragt nach dem Judesein Jesu, sozusagen nach Jesus in Israel, und wir fanden ganz Israel (seine Tora, seine Verheißungen, sein Bund) in Jesus Christus. Das ist die kirchliche, die theologische Bedeutung des Judeseins Jesu: in ihm begegnen wir Israel in seiner Gänze, oder: von seiner Tora-Humanität werden die Völker zur Versöhnung mit Israel und zur Beugung unter seine Verheißungen und Weisungen eingeladen. Was die Kirche an neuer Botschaft in Abgrenzung zum Judentum verkündigen zu müssen meinte oder meint, kommt mit solcher jüdisch-eschatologischen Christologie in die Krise.

Haben wir damit aber schon nach dem gefragt, worin die evangelische Christenheit das Zentrum ihres Glaubens sieht? Haben wir schon das Eigentliche evangelischer Verkündigung in den Blick genommen, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben? Diese Lehre ist ja nicht umsonst so in die Mitte der kirchlichen Botschaft gekommen. Geht es in ihr doch um Gott für uns, pro nobis, dass er uns annimmt, vergibt und gerecht spricht ohne allen Verdienst, allein aus Gnade. Und dass allein die Annahme des persönlich gesprochenen Vergebungswortes uns von Schuld und Sünde befreit. Die Zuversicht, die unseren Rechtfertigungsglauben trägt, gründet allein auf Gottes Treue, auf seiner Verlässlichkeit: ich vertraue und verlasse mich auf Gottes Zusage und bezeugte Erweckungstat, dass jener Jesus alle Sünde besiegt hat und auferstanden ist und lasse mir daraufhin sagen, dass er auch die meine mit in den Tod genommen hat.

Ich füge nun hinzu, dass ich Luthers Erlebnis seines Durchbruchs zum Glauben und dass ihm dabei die Tore des Paradieses sich öffneten, meine nachfühlen zu können. Aber dieses Erlebnis war ja nicht ein Gotteserlebnis, wie wir es uns heute leicht als Eingebung von oben vorstellen. Das war es sicher auch, aber gleichzeitig schriftgebunden. Luthers Glaubenserlebnis war eine exegetische Intuition. Er dokterte an Röm. 1,17 und schrieb dann sozusagen vor den Toren des Paradieses folgende Auslegung der Stelle:

"Die Gerechtigkeit Gottes ist der Grund des Heils...Gerechtigkeit Gottes heißt Gerechtigkeit, die Gott mitteilt, um durch sie gerechte Menschen zu schaffen...Sie heißt Gottes Gerechtigkeit im Unterschiede von der Menschengerechtigkeit, welche aus den Werken kommt." (16)

Und nun glaube ich, habe ich eine theologische Überraschung für viele von Ihnen. Denn tatsächlich finden sich im Babylonischen Talmud mehrere Stellen, die von der Gerechtigkeit allein aus Glauben, also vom sola fide sprechen. Ich nehme die heraus, wo in der Weise rabbinischer Diskussion nach der Mitte der Schrift, der Tora gefragt wird:

"Der Gesetzgeber Mose schrieb auf den Willen Gottes sechshundert und dreizehn Gebote den Israeliten vor. David fasste sie alle in elf zusammen (Psalm 15):...Der Prophet Micha führt sie auf drei zurück (Kap. 6,8). `Was verlangt Gott von dir? Gerechtigkeit zu üben, die Milde zu lieben, in Bescheidenheit wandeln vor deinem Gotte.´ Der Prophet Jesaja verbesserte sie und beschränkte sie auf zwei (Kap. 56,1): `Beobachtet das Recht und tuet die Liebe.´ Der Prophet Amos führte sie auf eines zurück (Kap. 5,4): `So spricht Gott zum Hause Israel: Suchet mich und lebet.´ Ein Gelehrter bemerkt: Aus dieser Stelle könnte man annehmen, man solle Gott suchen durch die Erfüllung des ganzen Gesetzes. Achtet vielmehr auf Habakuk, der (Kap. 2,4) sie auf eines zurückführt: `Der Gerechte wird in seinem Glauben leben.´" (17)

Dieser Schluss der rabbinischen Argumentationskette ist in der Tat frappierend. Er deckt sich mit Luthers Entdeckung der rechtfertigenden Gnade im Römerbrief praktisch vollkommen, nicht nur systematisch in der Voranstellung der Gnade, sondern auch exegetisch im Hinweis auf die Habakukstelle. (18) Luther und der Babylonische Talmud lehren die Gerechtigkeit sola fide aus derselben Quelle, dem Alten Testament. Der Babylonische Talmud ist das jüdische Zeugnis von der Gerechtigkeit sola fide - ohne Christus. Juden haben ohne Christus, was wir Christen durch ihn haben. Eine erstaunliche Erkenntnis, deren theologische Tragweite wir hier nicht ermessen wollen. Nur sehe ich nach dieser Entdeckung überhaupt keinen Grund mehr für irgendeine Form christlicher Exklusivität gegenüber dem Judentum. Eher umgekehrt wäre nun zu fragen, ob wir Christen nach dieser Entdeckung nicht nur von der bleibenden Treue Gottes gegenüber dem jüdischen Volk zu sprechen haben, sondern darüber hinaus von der ewigen Treue Gottes zu Israel als der Voraussetzung für unseren Glauben, dass Gott auch uns gemäß seiner rechtfertigenden Zusage treu bleibt.

5.) Gott ganz neu oder Gott ganz treu

Worauf verlassen wir uns eigentlich bei der Annahme der Zusage der Rechtfertigung? Auf ein persönliches Wort. Wenn dieses Wort das menschliche Wort Gottes aufgrund des Zeugnisses von Jesus Christus ist, warum ist es dann verlässlicher als andere menschliche Versprechungen? Worin liegt die besondere Verlässlichkeit der promissio Dei? Worin hat das Zeugnis von Jesus Christus, das Neue Testament, seine Glaubwürdigkeit?

Sie kann nicht Grund haben in dem Ereignis für sich, um dessen verlässliche Verheißungsfülle es hier geht, sondern nur in einem vorgängigen, geschichtlich bezeugten konkreten Treuehandeln eben desselben Gottes: weil er schon immer treu war, wird er auch jetzt treu sein. Die aktuelle Verheißung mit ihrer noch ausstehenden Erfüllung wird deshalb mit Zuversicht angenommen, weil der Gott Israels schon zuvor zu seinen Verheißungen stand und sie einlöste. Die aktuelle Zuversicht auf Gott gründet in Gottes vorgängiger Treue, das Vertrauen auf die Verheißungen in Jesus Christus auf der Treue des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs, des Gottes Israels. So sieht die biblische Argumentationsstruktur aus. Die Hoffnung auf die zukünftige Rückführung zum zerstörten und verwaisten Jerusalem z. B. fußt auf Gottes erwiesener Treue zu Abraham und Sarah, zum Volk Israel im Exodus etc. Dasselbe gilt für Gottes Verheißungen in Jesus Christus. Denn so preist Zacharias Gottes Treue in Jesus Christus: "Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels, denn er hat sich seines Volkes angenommen und ihm Befreiung bereitet...Errettung von unseren Feinden...zu gedenken seines heiligen Bundes, des Eides, den er Abraham, unsrem Vater, geschworen hat." (19) Auch die Versprechungen Gottes in Jesus Christus haben ihren Grund in seiner ewigen Treue zu Israel.

Wäre dem nicht so, würde der Bund Israels abgetan oder veralten, ersetzt werden durch einen neuen, dann wäre jede Zuversicht auf die Zusagen des biblischen Gottes ohne Grund. Genau genommen würde das biblische Zeugnis von einem treulosen oder lügnerischen Gott sprechen. Alle Zusagen des ewigen unkündbaren Bundes mit Isaak und Israel wären eitel Wortgeflitter. Und mit ihnen würden auch die Zusagen betreffs Jesu Christi wanken, weil auf den Sprecher kein Verlass wäre.

So krass mögen Theologen mit ihrem Gott meist nicht umgehen. Sie versuchen den marcionitischen Bruch, die dahinter liegende Konsequenz einer Lehre von zwei Göttern mit theologischer Rhetorik und Dialektik zu verschleiern. So unser Bischof Dr. Hans Christian Knuth im Deutschen allgemeinen Sonntagsblatt vom 10. 12. 1999: "Nach meiner Überzeugung hat sich Gott in Jesus Christus von neuem offenbart, er ist also nicht mehr derselbe, der er vorher war." Was ist die Neuidentifizierung Gottes anderes als die Lehre von einem zweiten Gott? Der synodale Beratungsprozess unserer Landeskirche wird sich auch mit den kryptomarcionitischen Überzeugungen, griech.: haireseis, auseinander zu setzen haben. Dem steht strikt entgegen, was Prof. Crüsemann auf der Landessynode im September 1999 ausführte: "Weder geht es um einen anderen Gott, noch wird Gott durch das Christuszeugnis anders oder ein anderer." (20) Von wegen die Diskussion um Juden und Christen wäre nicht brisant oder aktuell. Alte kirchengeschichtliche Frontstellungen fördert sie vielmehr offen zutage. Ich frage nun: Was macht es der Heidenwelt, aber eben leider auch der Kirche so schwierig, die Treue Gottes zu Israel, die irgendwie einzigartige Dauer Israels, das Lebendigbleiben des Judentums durch alle Wechselfälle der Menschheitsgeschichte, das Überleben des jüdischen Volkes über die Jahrtausende, das immer wieder neue: "Freunde, dass der Mandelzweig wieder Blüten treibt", warum fällt es der Kirche so schwer, darin das geschichtliche Zeichen von Gottes Treue und also den Fels der Vertrauenswürdigkeit von Gottes Wort in Jesus Christus zu sehen?

Dazu noch einmal Karl Barth: "Ist es etwas Anderes als der blasse N e i d, was gerade allen Nationalismus zu allen Zeiten ausgerechnet gegen die Juden, dieses ohnmächtige Nicht-Volk so schrecklich in Harnisch gebracht hat? Was zeigt uns der Spiegel der Erwählung des Judenvolkes? Warum hört man so ungern, daß es das erwählte Volk sei? Warum sucht man bis tief in die Christenheit hinein nach immer neuen Beweisen, daß es das nicht mehr sei? Sehr schlicht: Hat es mit der Erwählung dieses Volkes seine Richtigkeit, ist gerade dieses Nicht-Volk das Volk Gottes und also in seiner ganzen weltgeschichtlichen Ohnmacht d a s wirkliche Volk, d i e Nation sondergleichen - was wird dann aus uns Übrigen, was für eine gegenstandslose Sünde ist dann aller sonstige Nationalismus? Durch die Existenz dieses Volkes sich sagen zu lassen, daß d e r E r w ä h l t e e i n A n d e r e r ist, nicht der Deutsche, nicht der Franzose, nicht der Schweizer, sondern dieser J u d e! Sich sagen zu lassen, daß man, um seinerseits erwählt zu sein, wohl oder übel selbst entweder Jude sein oder aber zu diesem Juden gehören müßte! Wer wollte sich denn das sagen lassen oder gar selbst sagen? Aber es ist schon so, und der blinde Groll des Antisemiten ist hier in der Sache vielleicht sehender als die milde Humanität dessen, der sich dieser Sünde nicht merklich schuldig macht: wir stoßen in der Existenz der Juden auf den Felsen der göttlichen Erwählung als einer partikularen, und zwar als einer in ihrer Partikularität an uns selbst zunächst ganz v o r b e i g e h e n d e n göttlichen Erwählung." (21)

Dieses Zitat führt uns zu unserem Anfang zurück, zum eingangs angesprochenen Problem des extra nos, Der Externität und Fremdheit des christlichen Glaubensinhaltes. Ich fasse zusammen: Die evangelische Botschaft der Kirche, gegründet auf einer Christologie ohne Antijudaismus, wird, wenn sie nicht der Versuchung religiöser Überheblichkeit und national-kultureller Selbstbezogenheit verfallen will, nicht umhin können, das Besondere, Fremde und Neue ihrer Botschaft in der Jahrtausende alten, aber immer wieder neuen Treue Gottes zum jüdischen Volk zu sehen, mit der durch die Verkündigung der Kirche alle Heidenvölker auf den Weg Jesu Christi, d.h. auf den Weg der Völkerversöhnung im Geist der jüdischen Bundesethik gerufen werden. Ich danke Ihnen.

Anmerkungen:

1.) P. Celan, Ges. Werke, 1. Bd., Frankfurt 1986, S. 163
2.) H. Gollwitzer, Skizzen eines Lebens, Gütersloh 1998, 107
3.) KD I/2, S. 566
4.) KD IV/1, S. 181
5.) F. W. Marquardt, Christologie, Bd. 2, S. 100
6.) Luk. 1,54
7.) Fr. Crüsemann, Juden und Christen. Einführungsreferat bei der Synode der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Rendsburg 23.9.1999, S. 10
8.) 1. Joh. 14,6
9.) Luk. 15,31f
10.) Joh. 16,1f
11.) H. Jonas, Das Prinzip Leben, Frankfurt 1997, S. 300
12.) Röm. 13,11
13.) K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, S. 157 14.) Kol. 3,9-11
15.) Dtrn. 10,20; Jer. 4,4; Röm. 2,25-29
16.) M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, hrg. v. E. Ellwein, München 1228, S.22
17.) Maccoth 23b; andere Stellen des Babylonischen Talmud mit derselben theologische Aussage: Jalkut 69b; Rabboth 139b
18.) S. Luthers Selbstzeugnis von 1545 in: Luther, ausgewählt von K. H. Steck, Frankfurt 1955, S. 22. Auch die anderen Talmudstellen überschneiden sich mit Luthers Exegese von Psalm 118,20: "Diese Pforte ist die Pforte des Glaubens." Vgl. Luther, Wolfenbütteler Psalter, 1513 - 1515, Hrg. E. Roach, Frankfurt 1983, S. 400: "haec porta domini i.e. fides..."
19.) Luk. 1,68f
20.) a.a.O., S. 10
21.) K. Barth, KD III/3, S. 255
22.) Jes. 25,6-8; vgl. Apc. Joh. 21,1-4
23.) Jes. 25,1-5
24.) Jes. 27,1.6
25.) Phil. 2,5-7
26.) 1. Kor. 15,55
27.) Röm. 8,2
28.) M. Luther, Predigt über Philipper 2,5-8 am Palmsonntag Nachmittag, 2. April 1531 in Wittenberg, WA, Bd. 34, 1. Abt., S. 181ff; hier entnommen aus: ders., Predigten über die Christusbotschaft, München 1966, S. 90f
29.) E. Levinas, Zwischen uns, Versuche über das Denken an den Anderen, München 1995, S. 166
30.) Röm. 15,8f

zur Titelseite

zum Seitenanfang



Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
Pfr. U.Schwemer, Theodor-Storm Str.10, 64646 Heppenheim;
Tel: 06252-71270 / Fax: 06252-72606