Über das Elend mit den Orten der Erinnerung

Wirksame und nachhaltige Formen des Gedenkens an den Holocaust

von Detlef Hoffmann

Die Rede von der "nationalen Identität", betont Detlef Hoffmann, erweist sich gerade dann als unproduktiv, wenn es um die Auseinandersetzung mit Auschwitz geht. Wie können nun aber sinnvolle Formen des Umgangs mit Geschichte gefunden werden? Hoffmann befasst sich damit, wie Erinnerung in welchem Zusammenhang stattfindet. Der Autor ist Professor für Kunstgeschichte an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg. Wir setzen damit unsere Beiträge zur Debatte um die jüdische Identität fort. Bisher sind in dieser Reihe Texte von Salomon Korn und Rafael Seligmann erschienen.

Salomon Korn hat in seinem Beitrag zu den Römerberg-Gesprächen das höchst prekäre Verhältnis von Juden zu Deutschen und von Deutschen zu Juden beschrieben. Er hat einen größeren Realismus bei der Beschreibung der Vergangenheit angemahnt und bezweifelt, dass es je eine "deutsch-jüdische Symbiose" gegeben habe. Abgesehen davon, dass die Symbiose in Partnerschaften erwachsener Menschen immer den Verlust von Autonomie einer oder beider Seiten bedeutet und deswegen keine empfehlenswerte Form einer Beziehung ist, teile ich die Meinung Salomon Korns, dass das christlich-jüdische und seit der Erfindung der Nation das deutsch-jüdische Verhältnis nicht als vertrauensvoll beschrieben werden können.

Immer wieder gab es Ausgrenzungen, sie nahmen - wenn ich das richtig sehe - gegen Ende des Jahrhunderts zu. Das war nicht überall gleich, es gab aggressive Milieus und freundliche. Müssten wir diese Vergangenheit nicht auch als eine Geschichte vor Auschwitz sehen, man könnte argumentieren, dass Emanzipationsbewegungen Zeit brauchen, viele Generationen lang - auch die Frauenemanzipation ist ein heute noch nicht abgeschlossenes gesellschaftliches Projekt. Doch ein derartiges Raisonnement ist über das deutsch-jüdische Verhältnis nur sehr bedingt möglich, die deutschen Verbrechen stehen am Ende der behaupteten "Symbiose", und damit wird sie zur Vorgeschichte des geplanten Genozids.

Anhand eines überschaubaren Themas will ich im Folgenden zeigen, warum ich die Rede von einer "nationalen Identität" für unproduktiv halte, wenn es um die Bestimmung der Rolle des von Deutschen bürokratisch geplanten und industriell durchgeführten Massenmordes an den Juden Europas im kollektiven Gedächtnis geht. Erinnerung braucht einerseits Erzählungen, andererseits Symbole. Gefühle werden auf Bilder projiziert, die in Narrativen versprachlicht werden können.

Zu solchen Bildern gehören auch die symbolisierenden Orte, auf die sich Erinnerungen beziehen. Unter Orten der Erinnerung verstehe ich benennbare geographische Territorien: einen Platz oder eine Stadt, ein Tal oder einen Berg, einen Weg oder eine Straße, einen Flusslauf oder ein Feld. Allerdings möchte ich eine kleine Einschränkung vornehmen: Der Ort soll an ein Ereignis erinnern, das mit der Geschichte einer Sozietät, gar eines Staates verbunden wird oder zumindest verbunden werden kann.

Derartige Orte der Erinnerung in Deutschland wären etwa die Paulskirche in Frankfurt, die Neue Wache, das Brandenburger Tor, der Reichstag in Berlin, das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, das Bundeshaus in Bonn, das Hermannsdenkmal bei Detmold, die Walhalla bei Regensburg, die Wartburg bei Eisenach, das Denkmal für die Märzgefallenen in Weimar, das Niederwalddenkmal bei Rüdesheim, das Hambacher Schloss.

Aber keiner dieser Orte war jemals so unumstritten wie der Wawel in Krakau, der Arc de Triomphe in Paris oder gar die Denkmale entlang der Mall in Washington, vom Lincoln-Denkmal bis zum Capitol. Hier konnte nach öffentlicher Diskussion ein Denkmal für die Toten des Vietnamkrieges errichtet werden. Ein Denkmal, das generell akzeptiert zu sein scheint, obwohl der Krieg das Land wie kaum ein Ereignis zuvor polarisiert hatte. Allerdings wurde ein bemerkenswerter Kompromiss gefunden: Zwei Denkmale mit völlig verschiedener Auffassung des Ereignisses fanden nebeneinander Aufstellung.

Das Brandenburger Tor oder die Neue Wache, die Wartburg oder andere Bauwerke und damit markierte Orte sind in ihrer Entstehungsgeschichte von keiner Bedeutung für das kulturelle Gedächtnis der auf sie sich beziehenden Sozietät. Die Wartburg etwa war zur Zeit ihrer Erbauung 1067 eine von vielen Wohnburgen - kalt, zugig, feucht. (. . .) Erst das 19. Jahrhundert, in dem Ereignisse der Vergangenheit zu Mythen der Deutschen pathetisiert wurden, erhob die Wartburg zu einem Ort nationalen Gedenkens.

Hilfe des Zufalls

Aus dem legendären Wettbewerb von 1207 entwickelte sich der "Sängerkrieg" auf der Wartburg. Einzige Quelle für dieses Ereignis ist ein Gedicht aus der Zeit um 1290, das sieben Dichter nennt - unter ihnen Walter von der Vogelweide, Heinrich von Ofterdingen und Wolfram von Eschenbach. Die Wiederentdeckung dieser Literatur und die Verbindung der mittelhochdeutschen Texte mit dem Konstrukt einer nationalen Geschichte machte die Mauern, die alle sieben gesehen haben sollen, zu höchst bedeutungsvollen Mauern.

Vielleicht hätten es die sieben Dichter allein nicht vermocht, die Wartburg aus den unendlichen vielen Burgen Thüringens gar des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation" hervorzuheben, wäre da nicht noch der Besuch Luthers gewesen. Schließlich braucht jeder Mythos noch die Hilfe des Zufalls.

Der Sieg der Alliierten in der Völkerschlacht bei Leipzig und der Anschlag der 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg erfolgten im gleichen Monat Oktober. So war es möglich, die 300-Jahr-Feier des Thesenanschlags und den Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig gemeinsam zu begehen. Dass der Sieg am 18. Oktober, die Nagelung aber am Monatsletzten stattfand, konnte nicht irritieren, nachdem die Gefühle sich in einer Manifestation gebündelt sehen wollten.

So kam das zu Stande, dem man den Namen "Wartburgfest" verlieh. Die Befreiung vom Papsttum und die Befreiung von der französischen Fremdherrschaft war Thema von Liedern und Ritualen. 500 Studenten zogen am 18. Oktober 1817 um 6.00 Uhr zur Wartburg hinaus, das Lutherlied wurde gesungen, Reden gehalten. Abends fand eine Bücherverbrennung statt, angeregt durch Luthers Verbrennung der päpstlichen Bannbulle. Die Studenten übergaben 28 Werke den Flammen. Unter den Büchern befand sich auch der Code Napoleon, das erste bürgerliche Gesetzbuch. Die jungen Männer waren von revolutionären Gefühlen bewegt, sie übergaben auch Symbole des Ancien Régime dem Feuer, Haarzöpfe, Schnürbrüste der Offiziersuniformen und einen Korporalstock.

So gut es gemeint war: Bücherverbrennungen unter revolutionären Reden waren nunmehr eine enge Verbindung mit dem Streben nach einer Nation eingegangen. Dass ein Autor, von Kotzebue, nicht zuletzt in der Folge dieses Ereignisses ermordet wurde, trug zum Mythos der Wartburg bei. Der Ort ergriff die Köpfe, er schrieb sich dem kollektiven Gedächtnis ein.

Wiederum in Folge der Ereignisse um den 18. Oktober 1817 erhielt die Burg einen festen Ort in den Plänen der Reisenden. Und damit dem Gemäuer mehr Geschichte anzusehen sei, schmückte Moritz von Schwind die Wände des Rittersaales mit Bildern. Sie zeigten, was nicht vergessen werden sollte. Das Initialereignis für den Erinnerungskult ist das Wartburgfest, das mit dem Ort verbundene Geschehen. Dass dies hinwieder weitere historische Geschehnisse dem Ort attachiert, ist ein Spezifikum der Erinnerungspolitik des vorigen Jahrhunderts.

Die Geschichte der Wandlung der Wartburg zu einem nationalen Denkmal ist ein gutes Beispiel, warum es mir problematisch erscheint, von einer "nationalen Identität" zu sprechen. Die Rede von der Identität, gar von der nationalen, geht davon aus, dass im Fluss der Zeit einiges gleich bliebe, das es uns ermögliche, auch morgen noch zu sehen, wer wir gestern gewesen seien. "Wir" meint eine Gruppe, die gegenüber einer anderen Gruppe Gemeinsamkeiten hat: Das kann die Sprache oder der Beruf sein, das Lebensalter oder die Siedlungsform, der Lebensstil oder das Geschlecht.

Insofern haben alle Menschen in modernen, komplexen Gesellschaften unterschiedliche Identitäten. Dabei meint Identität das Gleichbleibende immer nur in Relation zu dem sich Verändernden.

Unser emotionaler Haushalt verkraftete eine sehr schnelle, alles umfassende Veränderung nur mit Mühe und nicht ohne Schaden. Die Geschichte von Zeitreisenden und schnellem Wechsel von einer Kultur in die andere thematisieren dies im Modell - meist um zu beschreiben, wie fremd das Gewohnte sein kann, sieht man es von außen.

Ist einerseits ein zu hohes Tempo der Veränderungen unserer Umwelt desorientierend und verwirrend, so wäre ein Stillstand gleichermaßen fatal. Wo sich nichts verändert, nichts bewegt, beginnt die Versteinerung. (. . .)

Ist aber Identität das nur zeitweilig Gleichbleibende, dann ist die Rede von der nationalen Identität unverständlich. Was wäre das Gleichbleibende? Die Sprache und das Territorium? Für Länder wie Frankreich, Spanien, in gewissem Sinne auch Italien könnte man mit Einschränkungen von einem gleich gebliebenen Kern-Territorium sprechen; was die Sprache angeht, tun sich in Spanien Schwierigkeiten auf - selbst wenn wir von den Basken nicht reden.

Ein Staat, den ein besonderes glühendes Nationalgefühl seiner Bürger trägt, ist Polen - mit wechselndem, schmerzhaft wechselndem Territorium, in der Zwischenkriegszeit mit vielen Sprachen, erst durch den Zweiten Weltkrieg in einen Staat mit einer Sprache und einer Religion verwandelt. Ist es jedoch weder die Sprache noch das Territorium, dann ist es eine Ordnung von Symbolen, die die Nationen unterscheiden könnte, eine symbolische Ordnung, ein System von verweisungsreichen Zeichen, die Ende des 18. Jahrhunderts (mit der modernen Nation) entstand, an deren Systematisierung das 19. Jahrhundert arbeitete und die im 20. Jahrhundert zum Mindesten fragwürdig wurde.

Bestandteile dieser symbolischen Ordnung, die wir Nation nennen, sind noch aus dem 19. Jahrhundert übrig geblieben, obwohl ich bezweifle, dass das Hermannsdenkmal irgendjemand unter 80 Jahren mit nationalen Gefühlen erfüllt. Wie das Niederwalddenkmal ist es ein unübersehbarer Ort, der zum Ziel einer sonntäglichen Autofahrt mit Spaziergang und Kaffeepause wird. Im Restaurant an Hermanns Parkplatz ist an schönen Wochenenden nur mit Mühe ein Tisch zu ergattern. Insofern unterscheidet sich der Hermann oder die Germania kaum von der Bastei, der Zugspitze oder dem Königssee.

Im 19. Jahrhundert war den Deutschen der Befreiungskrieg das, was den Franzosen die große Revolution und den US-Amerikanern der Unabhängigkeitskrieg war. Doch während Franzosen und Amerikaner eine Verfassung erhielten, konnten sich die deutschen Fürsten nur auf die Karlsbader Beschlüsse verständigen. Es gehört zu den Eigenheiten eines deutschen Nationalstaates, dass es immer eine starke Minderheit gab, die die eingeübte nationale symbolische Ordnung ablehnte.

Der 14. Juli ist wie im 19. Jahrhundert noch heute französischer Nationalfeiertag, in Deutschland ging es vom 2. September (1870) Sedantag über den 17. Juni zum 3. Oktober - vom 9. November schweigen wir lieber. Nichts, aber auch gar nichts, was auf jüdische Deutsche verwiese, wäre in der symbolischen Ordnung vor 1933 zu finden.

Versuchen wir so etwas wie eine symbolische Ordnung des Gedächtnisses der seit 1989 vergrößerten Bundesrepublik Deutschland zu konstruieren, so wäre das Charakteristikum Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Widerstreitendes. Statt dies mit der Rede von einer nationalen Identität zu beschwören, wäre es doch am einfachsten, die Vielfalt und das Unterschiedliche zu akzeptieren und zu tolerieren. Das hat die alte Bundesrepublik schlecht und recht geschafft, die Hauptstadt Bonn mit ihrem Rosen züchtenden und Boccia

spielenden Kanzler symbolisierte für niemanden den gefürchteten deutschen Militarismus. Die Bürger sind reiselustig, ihre Freizeit geht ihnen über alles. Sie haben auch gelernt, gut zu essen und zu trinken, sie arbeiten so wenig wie möglich und sind alles andere als Helden. Das Staatsvolk will mit der preußischen Tradition nichts zu tun haben, über die Nation reden die Alten am Werktag, die Politiker am Sonntag.

Seit dem Anschluss der DDR ist Vielfalt und Unterschiedlichkeit noch viel charakteristischer geworden, Menschen mit denkbar verschiedenen Biografien haben nun den gleichen Reisepass. Dieser Staat hat keine gemeinsame Identität, es sei denn, die Verschiedenheit seiner Bürger und Bürgerinnen. Es gibt keine einende "nationale Identität", keinen Volkscharakter und keinen Volksgeist, wie man zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gesagt hätte.

Kanon der Orte

Insofern ist dieser Staat "multikulturell", bevor wir den ersten Zugereisten erwähnen. Hier ist die Vielfalt zu unterstützen. In ihrem Buch Arbeit am nationalen Gedächtnis geht Aleida Assmann auf Thomas Manns "liberalen Humanismus" (1921) ein, auf den Raum des Zögerns und des Verzögerns, der ein Schutz- und Spiel-Raum sei: Er sagt: "Schön ist die Entschlossenheit. Aber das eigentlich fruchtbare, das produktive und also das künstlerische Prinzip nennen wir Vorbehalt. Wir lieben ihn in der Musik als das schmerzliche Glück des Vorbehalts, als diese schwermütige Neckerei des Nochnicht, dieses innige Zögern der Seite, welche die Erfüllung, die Auflösung, die Harmonie in sich selber trägt, aber sie noch für ein kleines versagt, verschiebt und vorenthält." Dies scheint mir eine mögliche Haltung dem in seiner Vielfalt so reichen nationalen Gedächtnis gegenüber. (. . .) Das wäre eine produktive Antwort auf das Elend mit den Orten der Erinnerung.

Dann wäre es auch möglich, den Kanon der Orte zu erweitern: Um Nürnberg - auch als Ort der Prozesse; um Karlshorst, nicht nur als Ort der Kapitulation, sondern eben auch der Befreiung und um die Gelände der Konzentrationslager: Dachau, Buchenwald, Neuengamme und Ravensbrück. Es gibt Orte der nationalen Niederlagen, die in Siege und Heldentum umgemünzt werden: Die Schlacht auf dem Amselfeld, in der am 28. Juni 1389 die "Serben" von den "Türken" besiegt wurden, ist heute ein serbischer Mythos, ein serbisches Stalingrad: Serbien als Bollwerk gegen die muslimische Flut aus dem Osten. Aber den eigenen Staat als Erben von Verbrechen zu denken, die eigene Sprache als Sprache der Mörder von Auschwitz und Treblinka - das ist noch keiner Arbeit am nationalen Gedächtnis abverlangt worden.

Ich will noch weitergehen: Nicht als eine Schuld kann dieses Verbrechen gedacht werden, sondern als eines Kontextes von Vergangenheit, in dem sich Deutsche, Benutzer der deutschen Sprache immer befinden. Wer aus Deutschland kommt, wer einen deutschen Pass hat, ist kulturell mit der verbrecherischen Vergangenheit anders verbunden als Engländer.

Der bürokratisch geplante und industriell durchgeführte Massenmord verlangt andere Formen des Erinnerns - und er wird - obwohl einmalig - auch andere Nationen zu größerer Bewusstheit auch ihrer Vergangenheit gegenüber zwingen: Dass die Ideologie des türkischen Nationalstaates den Genozid an den Armeniern nicht nur ermöglichte, sondern auch verleugnet, gehört in diesen Zusammenhang. Der Genozid an den indianischen Einwohnern wird mit zeitlichem Abstand schmerzlicher von den Amerikanern empfunden, der Gründungsmythos der Wildwest-Filme erhält Sprünge und Risse. Ein Preis scheint nun wieder die Romantisierung der Indianer zu sein ("Der mit dem Wolf tanzt").

Vor dem Verbrechen des Genozids ist die Rede von der "Identität" besonders oberflächlich. Womit sollte sich eine Gruppe, die bereit ist, dieses Thema aufzunehmen, "identifizieren"? Mit den Ermordeten? Damit die guten Enkel die bösen Väter verleugnen? Mit den Henkern? Warum "identifizieren" mit Henkern? Und wenn: Mit welchen Henkern? Den Mitläufern oder den Wachmannschaften? Wie soll ein Unterricht aussehen, der Schülerinnen und Schüler vermittelt, ihre "nationale Identität" schließe ein Bekenntnis zu Höß und Himmler ein? Sie seien Enkel des Landes der Täter? Dann hätte die Lehrerin "Täter" zu beschreiben, vom Professor, der den Lehrstuhl seines ermordeten jüdischen Kollegen einnimmt, bis zum sadistischen Pfleger im Krankenrevier eines Konzentrationslagers?

Nein, die Rede von der "nationalen Identität" erweist sich gerade dann, wenn es um das gehen sollte, dem Auschwitz seinen Namen geben musste, als besonders unproduktiv. Sprechen wir vom kollektiven Gedächtnis einer Nation, dann kann man wie vom 1. Weltkrieg auch von dem Genozid sprechen. Wenn wir bei unserem Beispiel, der symbolischen Ordnung der Erinnerungsorte bleiben, kann Auschwitz als Merkzeichen (Luther nannte es ein Denk-Mal) in den Kanon der Orte aufgenommen werden. Es ist möglich, solche Orte zu besuchen, zu betreten, sich ihnen auszusetzen, sie zu befragen. Dann überlagern sich symbolische Bedeutung und historische Information. Auch die Irritation ist eine Form des Umgangs. Irritierend ist für jeden und jede, der oder die die deutsche Sprache benutzt, dass er oder sie sich zu diesen Geschehnissen verhält, verhalten muss. Besucher und Besucherinnen würden auf dem Gelände in Auschwitz-Birkenau etwa zu der Gaskammer II und dem See, in den die Asche der Ermordeten mit einer Schmalspurbahn transportiert wurde, gelangen - Reste des Stegs, auf dem die Bahn endete, sind noch zu sehen. Geht man, kriecht man in die Gaskammer, unter die eingestürzte Betondecke, so wird man dort Kerzen (mit hebräischer Beschriftung) finden. Dieser Platz in den Trümmern wurde auch von dem Revisionisten Leuchter betreten, hier sammelte er Proben (vor laufender Videokamera), in denen er kein Zyklon-B nachweisen konnte (und wollte). In dem Maße, in dem wir, argumentierend und sprachlos, dieses Gelände zum Thema unseres Diskurses machen, arbeiten wir an einem nationalen Gedächtnis.

Mein letztes Beispiel ist jenes Tor, dessen Öffnung meine Kindheit und Jugend lang gefordert wurde, dem Brandenburger Tor. Diesem klassizistischen Bauwerk haben sich Ereignisse aufgeprägt, die seine Formsprache kräftig überfordern. Das Bild des Tores, durch das man hindurch geht oder auch nicht, will und nicht kann, nicht will, aber muss - das Bild des Tores hat eine hohe symbolisierende Leistungsfähigkeit. Wir kennen die Bilder: Das Tor in der Novemberrevolution 1918, im Januar 1933, 1945.

War das Glück groß, dann wurde illuminiert und gefackelt: am Sedantag, im Januar 1933, am 3. Oktober. Gleichbleibend der klassizistische Torbau: ein Neubau der Zeit von 1788 -1791, Carl Gotthard Langhans ist der Architekt. Es sollte der monumentale Abschluss der "Via triumphalis" werden. Das wird durch die Viktoria an dem Viergespann thematisiert; sie ist ein Siegeszeichen, sowohl für die gewonnenen Schlachten in den Revolutionskriegen (1793) als auch für den Frieden von Basel 1795, der allerdings eher einen Sieg Frankreichs besiegelt.

Nach der Schlacht von Jena und Auerstedt nimmt Napoleon I. die Quadriga als Trophäe nach Paris mit. Sie wurde am 7. August 1814 nach dem Sieg über Napoleon von Marschall Blücher wieder nach Berlin gebracht. Zur Erinnerung des Sieges in den Befreiungskriegen erhielt die Göttin das Eiserne Kreuz in den Lorbeerkranz des Stabes. Von nun an gingen wichtige Siegesparaden durch das Brandenburger Tor: 1864 (Deutsch-Dänischer Krieg), 1866 (Preußisch-Österreichischer Krieg) und 1871 (Deutsch-Französischer Krieg).

Es soll damit genug sein: Das Baudenkmal verbindet sich mit der Inszenierung immer neuer Ereignisse, im Wesentlichen - bis 1914 - preußischer Siege und Siegesfeiern. Mag man die Geschichte vom späten 18. Jahrhundert bis 1914 noch in aufsteigender Linie lesen wollen, die Bilder aus dem 20. Jahrhundert signalisieren Unterschiedliches, ein Wechselbad.

Von allem Möglichen kann man anhand dieser Bilder sprechen: doch nicht von nationaler Identität. Die Bilder in ihrer Verschiedenheit können und sollten ins nationale Gedächtnis eingehen: Das Brandenburger Tor als Ort der Erinnerung an höchst Differentes.

In der Debatte um ein "Holocaust-Denkmal" in Berlin hat der Kasseler Künstler Horst Hoheisel einen Vorschlag gemacht, der die symbolische Ebene des kulturellen Gedächtnisses ernst nimmt. Er wies darauf hin, dass die Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Deutschen nicht dadurch erinnert werden könne, dass ein weiteres touristisches Highlight der Hauptstadt des vereinigten Deutschland hinzugefügt würde. Deswegen sollte für das "Denkmal für die ermordeten Juden Europas" ein anderes Denkmal gegeben werden, oder: Damit ein Denkmal gebaut wird, sollte ein anderes verschwinden. Horst Hoheisel schlug vor, das Brandenburger Tor zu Staub zu zermahlen, und den Staub in einen gläsernen Kubus den sechs Millionen zu widmen.

Irritationen

Natürlich ist dieser Entwurf nicht in die engere Wahl genommen worden, aber das mag für ihn sprechen. Für unseren Zusammenhang beleuchtet er, als vorgestelltes Modell, einen Tausch auf der symbolischen Ebene. Denkt man diesen Tausch vorwärts und rückwärts, lässt er Irritationen entstehen, ohne die deutsch-jüdisches Zusammenleben nicht erinnerbar ist.

Dass die Erinnerung der Deutschen an ihre Verbrechen an den Juden schwierig würde, ist Thomas Manns Thema in den Reden, die er 1940 bis 1945 hielt. Dies sei als (langer) Abschluss referiert:

In seinen "Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 bis 1945", die unter dem Titel "Deutsche Hörer!" 1945 in Stockholm als Buch erschienen, wird der Autor nicht müde, auf den Hass zu verweisen, der sich um Deutschland auftürme. Er sprach, wie er am 8. November 1945 rückblickend formuliert, "als Deutscher zu Deutschen, um sie vor der nahenden Nemesis zu warnen". Verfolgt man die Reden vom Oktober 1940 bis zum 10. Mai 1945, dann hat der Redner immer schrecklichere Taten zu schildern und immer deutlicher wird ihm die Nachwirkung des Geschehenen über Generationen hinaus. Das deutsche Volk vor seinen Verführern zu warnen ist eine Absicht der Reden. Im Dezember 1940 sendet die BBC den Satz ". . . euer Gehorsam ist grenzenlos, und er wird, dass ich es euch nur sage, von Tag zu Tag unverzeihlicher." Und es heißt weiter: "Grenzenlos und unverzeihlich ist euer Glaube, will sagen: eure Leichtgläubigkeit."

Es ist die Zeit großer deutscher Erfolge, in der die Stimme des Warners nach Deutschland gefunkt wird. Dieser Warner ist - etwa im März 1941 - nicht ohne Hoffnung, dass sich das Volk erhebe: ". . . denn an die Erweckung allein eures Gefühles dafür, dass ihr fürchterlich falsche Wege geht, knüpft sich die Hoffnung, ihr könntet diese Wege vielleicht doch noch verlassen." Die Rede endet mit den Sätzen: "Euch warnen, Deutsche, heißt, euch in euren eigenen schlimmen Ahnungen zu bestärken. Ich kann nicht mehr tun."

Im September 1941 schildert Thomas Mann jene Politik, die heute unter dem Stichwort "ethnische Säuberungen" gemacht wird, damals nannte er sie "Völkervernichtung und Rassenausrottung". Überall würden "vollendete Tatsachen" geschaffen. Und dann folgen die hellsichtigen Sätze: "Ich rede nicht von den ,vollendeten Tatsachen', die sie gegen Polen und Juden geschaffen haben. Sie gehören zu den Gründen, aus denen es allerdings kein Vergnügen sein wird, nach diesem Kriege ein Deutscher zu sein." Im November sagt er es deutlicher: "Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit den Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte heranwachsenden Hass, der eines Tages, wenn eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, über euren Köpfen zusammenschlagen muss."

Im Januar 1942 spricht Thomas Mann das erste Mal von Ermordungen mit Giftgas. Vierhundert Juden seien als Versuchsobjekte umgebracht worden. Und dann folgt seine Formulierung dessen, was später einmal Zivilisationsbruch genannt werden wird: "Es ist furchtbar schwer und ein Gegenstand beständiger ratloser Sorge, sich das Zusammenleben des deutschen Volkes mit anderen Völkern nach diesem Kriege vorzustellen. Es hat immer Kriege gegeben, und die Nationen, die sie ausfochten, haben dabei einander viel Übel zugefügt. Das pflegte, dank dem kurzen Gedächtnis der Menschen, nach Friedensschluss sehr rasch begraben und vergessen zu sein. Diesmal ist es anders. Was Deutschland tut, was es an Jammer, Elend, Verzweiflung, Untergang, an moralischer und physischer Zerrüttung der Menschheit zufügt, indem es die revolutionäre Philosophie des Bestialismus ausübt, ist von einem solchen Maßstab, so himmelschreiend, so hoffnungslos unvergessbar, dass man nicht absieht, wie in Zukunft unser Volk unter den Brüdervölkern der Erde als Gleiches unter Gleichen soll leben können."

[Der letzte Teil dieser Rede - die von Majdanek und Auschwitz noch nichts weiß - versucht, schon die Zeit nach dem Krieg anzusprechen. Einer "Zwangserziehung des deutschen Volkes von außen" widerspricht Thomas Mann: "Nicht siegen müsst ihr, denn das könnt ihr nicht. Ihr müsst euch reinigen . . . Eine Reinigung, Bereinigung und Befreiung muss und wird stattfinden in Deutschland, so gründlich und von solcher Entschiedenheit, dass sie im Verhältnis steht zu den Übeltaten, wie sie die Welt noch nicht sah. Sie muss, sage ich, sie wird stattfinden, damit das große deutsche Volk der Menschheit wieder ins Auge blicken und ihr mit freier Gebärde die Hand zur Versöhnung reichen kann."

Törichter Wunsch

Trotz allem spricht noch Optimismus aus diesen Worten. Ein Optimismus, den der Redner zunehmend verliert. Am 14. Januar 1945 spricht Thomas Mann über Auschwitz und Majdanek, ein "gewaltiges Aufklärungswerk, das ihr nicht als Propaganda missachten dürft", werde nötig sein. Für die Aussöhnung der Welt gebe es jedoch eine Vorbedingung: "Das ist die klare Einsicht in die Unsühnbarkeit dessen, was ein von schändlichen Lehrmeistern zur Bestialität geschultes Deutschland der Menschheit angetan hat . . ."

Dass diese "klare Einsicht" Deutschland nicht nach dem Mai 1945 erfüllte, realisierte Thomas Mann bald, und in seiner letzten Rede an die deutschen Hörer vom 8. November 1945 spricht er von "nichts weniger als toten und begrabenen Nationalsozialismus" Der einsetzende West-Ost-Konflikt, der Kalte Krieg erforderte einen Abbruch der Bestrafung, eine Rücknahme des Banns. Die Verfahren gegen die Verbrecher wurden verkürzt, Verurteilte begnadigten die Behörden bald. Im Westdeutschland des Wirtschaftswunders verschwand alles im Dunkel einer traumatischen Vergangenheit, die Verbrechen entrückten in die Welt des Albtraums, wer hätte sie den rechtschaffenen Herren Oberländer, Abs, Globke und wie sie alle hießen, noch zutrauen mögen.

Vielleicht ist es ein törichter Wunsch, einer Sozietät, die manchmal als Nation in Erscheinung tritt, Entwicklungen abzuverlangen, die manchen Individuen nicht möglich sind: Untaten, Verbrechen, Irrtümer in das Bild von der eigenen Vergangenheit zu integrieren, sie dort einen Platz finden zu lassen. Aber die Debatte, zu der dieser Text ein Beitrag ist, lebt von dem törichten Wunsch in dieser oder jener Form.

Frankfurter Rundschau, 5.08.2000

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