Antisemitische Überzeugungstäter
Der Distrikt Lublin zwischen 1939 und 1941

von Christian Gerlach

Der polnisch-deutsche Historiker Bogdan Musial ist in letzter Zeit durch seine Kritik an der Ausstellung "Vernichtungskrieg" bekannt geworden. Musial ist kein Wehrmachtspezialist, seine Forschungen liegen auf anderem Gebiet. Hinter dem Interesse an der Wehrmacht steht jedoch die Frage, wie die deutsche Gesellschaft während Krieg und NS-Zeit beschaffen war. Daher verdient seine gerade vorgelegte Dissertation Aufmerksamkeit.

Musials Untersuchung (Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939-1941. Harrassowitz-Verlag Wiesbaden, etwa 89 DM) beschäftigt sich mit der Rolle der mehr als 15 000 Mann starken deutschen Zivilverwaltung bei der Verfolgung und Ermordung der Juden im Generalgouvernement, dem deutsch besetzten, nicht annektierten Teil Polens. Dort lebten fast zweieinhalb Millionen jüdische Menschen. Es geht also um den Kern der nazistischen "Endlösung".

Früher war alles ziemlich einfach. Lange nahm man an, die Ermordung der europäischen Juden sei im wesentlichen Sache von SS und Polizei gewesen; andere hätten dies allenfalls mit ein paar Maßnahmen flankiert. Einfach, was die Täter angeht, denn entsprechende Studien, wenn sie überhaupt angestellt wurden, bezogen sich nur auf Einsatzgruppen, KZ-Wachmannschaften oder allenfalls Polizeibataillone. Einfach, was die Entscheidungsabläufe angeht, denn die Betrachtungen beschränkten sich auf Hitler, Himmler, Heydrich, Eichmann und eine Handvoll Funktionsträger. Und einfach, was die Motive betrifft: irrationaler Rassenhass und nichts weiter.
Gangster-Gau
Je mehr Arbeiten, besonders Regionalstudien, zur deutschen Vernichtungspolitik jedoch in den letzten Jahren erschienen sind, desto mehr hat sich gezeigt, wie unvollständig und verzerrt dieses Bild war. Die Zeit war reif für Ansätze, die darüber hinausgehen. Bogdan Musial konnte bei seiner Untersuchung an eine relativ günstige Forschungssituation anknüpfen, an die solide polnische Forschung und die neueren Arbeiten von Christopher Browning, Susanne Heim, Götz Aly und Dieter Pohl. Musials Studie ist nicht nur sinnvoll, weil die Zivilverwaltung die antijüdische Politik wesentlich mitbestimmt hat, sondern auch, weil sich trotz aller Aktenvernichtung gegen Kriegsende gerade in diesem Apparat besonders viele Überbleibsel an Dokumenten zu Verfolgung und Vernichtung finden.

Die Befunde sind erschreckend. Die Zivilverwaltung war für große Teile der antisemitischen Politik verantwortlich. Sie entrechtete die Juden, sperrte sie in Ghettos, hungerte sie aus (woran in Warschau schon 1941 Zehntausende starben), sie organisierte zum großen Teil die Zwangsarbeit und initiierte im Herbst 1941 Pläne für die Massenmorde auf allen Ebenen maßgeblich mit. Die Kreishauptleute bestimmten bei der ersten Welle von Deportationen in die Vernichtungslager auf lokaler Ebene die Zahl der zu Ermordenden. Vielfach organisierten sie die Deportationen auch gleich selbst, verhängten eigenmächtig Todes-,Strafen', erschossen eigenhändig jüdische Menschen beim Zusammentreiben, und nach Abschluss der Mordaktionen organisierten sie erbarmungslos und ohne Nachlassen die Jagd nach Versteckten und Entflohenen. Manche inspizierten die Vernichtungslager oder machten regelrechte Ausflüge dorthin.

Von Anfang an benutzte die Zivilverwaltung von der lokalen Ebene bis zur Regierung des Generalgouvernements die Politik gegen die ihr verhassten Juden, um bei kaum zu bewältigenden Verwaltungsproblemen Entlastung zu schaffen, die wiederum durch die rücksichtslose deutsche Unterdrückungs- und Ausbeutungspolitik entstanden waren. Dabei ging es diesen radikalen Antisemiten nach Musial besonders um die Ernährungspolitik, um die Bekämpfung des Schwarzmarktes und die "Ernteerfassung", aber auch um Wohnraumgewinnung, Zwangsarbeitsprojekte und Ausplünderung. Und die Deutschen waren darin auch aus ihrer Sicht erfolgreich. In den Jahren 1942 und 1943 konnten auf diese Weise große Mengen Lebensmittel für das Deutsche Reich aus dem ehemaligen "Zuschussgebiet" Generalgouvernement herausgeholt werden. Obendrein wurden 1943 die Hungerrationen für die Polen etwas aufgebessert.

Schon seit 1939 hatten Zivilverwaltung, SS und Polizei im Generalgouvernement auf eine "Lösung der Judenfrage" im Sinn einer Konzentrierung oder Zwangsumsiedlung der polnischen Juden gesetzt - anfangs in den Distrikt Lublin, dann nach Madagaskar, dann in die zu besetzenden sowjetischen Gebiete. Als all dies scheiterte, drängte die Zivilverwaltung im Herbst 1941 auf ein regionales Mordprogramm und übte 1942 weiter Druck in diese Richtung aus - unter anderem auf Heydrich bei der Wannsee-Konferenz. Der Kern des europaweiten Massenmordes an den Juden beruhte offenbar nicht auf Anweisung der Reichsführung, sondern auf Plänen der Besatzungsverwaltung einschließlich SS und Polizei. Ideologische und wirtschaftlich orientierte Motive bildeten dabei selten einen Widerspruch, sondern sie verstärkten sich gegenseitig. Konflikte entstanden allenfalls bei der Ermordung der kriegswichtigen jüdischen Arbeiter; über die Ermordung der "Arbeitsunfähigen", der "unnützen Fresser", war man sich einig. Diese Grundthesen bestätigen im wesentlichen in den letzten Jahren bereits von anderer Seite vorgelegte Arbeiten, die sich teils auch auf das Generalgouvernement bezogen. Aus gutem Grund untersucht Musial die Frage abweichenden Verhaltens deutscher Repräsentanten. Manchmal ist er allerdings relativ leicht bereit, das Verhalten zum Beispiel von Wehrmachtoffizieren oder Angehörigen der Arbeitsverwaltung als Beleg für Ablehnung oder gar Widerstand zu nehmen. Sehr treffend ist dagegen seine Gesamteinschätzung, meist sei, wenn überhaupt, nur "Erschütterung, aber nicht Ablehnung" zu registrieren, wenn das Morden zu brutal erschien.

Das Buch liefert weitere Facetten des immer deutlicher hervortretenden Bildes von Korruption und Verkommenheit der deutschen Besatzungsfunktionäre. Zwar nannte man das "GG" abgekürzte Generalgouvernement auch "Gangster-Gau", aber in anderen besetzten Ländern war es genauso; vielleicht war gar keine "negative Auslese" beim Personal gegeben, wenn sie sich doch überall zeigte. Viele Beamte mussten abgelöst werden. Da wurden Juden alle möglichen Gegenstände, Möbel und wahre Goldschätze für einen sehr kurzlebigen Schutz vor Mordaktionen abgepresst - und dies auch noch als Bestätigung für ihre angeblich typische jüdische kriecherische Unterwürfigkeit genommen. Ungestrafte Raubüberfälle Deutscher auf Juden waren keine Seltenheit. Nach den Massenmorden stritt man sich erbittert um Häuser, Grundstücke und Wertsachen. Die Ehefrauen der Beamten sicherten sich Kleider und Lederwaren, die Herren zu behördeninternen Billigpreisen Uhren, Juwelen und Pelze - wenn sie sie nicht gratis bekamen.

Musial argumentiert, die von ihm beschriebenen Funktionäre seien mittelmäßige Typen gewesen: Auch nach dem Krieg hätten sie nicht auf Grund besonderer Fähigkeiten oder Fertigkeiten, sondern eher auf Grund des allgemeinen Booms und des Aufbaus neuer Strukturen den beruflichen Aufstieg geschafft, bis auf die politische Ebene. Solche Versuche sozialhistorischer Einbettung sind eine Stärke seiner Arbeit. Eine kleine Armada von späteren Spitzenbeamten im Bundesverteidigungsministerium, Funktionären der Vertriebenenbewegung, Landesministern, FDP- und CSU-Funktionären oder Bundestagsabgeordneten, Repräsentanten von Industrieverbänden bis zu einem prominenten Mitglied der "Gesellschaft für bedrohte Völker" marschiert vor uns auf. Immerhin wurden einige der Protagonisten nach dem Krieg in Polen abgeurteilt - in der Bundesrepublik nur einer.

Nach Musials Analyse waren Generalgouverneur Hans Franks "absolut polenvernichtungsentschlossene Recken" politisch hochmotiviert und fast alle, teilweise seit vielen Jahren, NSDAP-Mitglieder. Hätte man jedoch nicht fast ausnahmslos nur Behördenleiter auf Regierungs-, Distrikts- und Kreishauptmannschaftsebene untersucht (sowie die allerdings wichtigen, dezidiert "politischen" Abteilungen "Bevölkerungswesen und Fürsorge"), sondern auch die Beamten in den Fachabteilungen, wäre das Ergebnis womöglich etwas anders ausgefallen. Funktionäre in Arbeitsämtern, Agrar- und Finanzverwaltungen waren zwar politisch ebenfalls Überzeugungstäter - aber vermutlich zu einem erheblich geringeren Prozentsatz nur Parteimitglieder. Außerdem wiesen sie weniger gebrochene Karrieren auf.
Sonderrolle Distrikt Lublin

Allerdings macht es Musial dem Leser manchmal nicht leicht. 153 Kapitel oder Unterkapitel auf 374 Textseiten sind vielleicht doch zuviel. Diese Zergliederung bewirkt gelegentlich eher einen Mangel als ein Übermaß an Systematik. Das gilt besonders für die erste Hälfte des Buches, die den Verwaltungsaufbau und die antijüdische Politik beschreibt. Zwar erfahren wir viel über Entstehung und Aufbau der Zivilverwaltung im Generalgouvernment. Doch fehlt eine systematische, geschlossene Analyse ihrer allgemeinen politischen Ziele, in die man die antijüdische Politik dann einbetten könnte. Die wesentlichen Elemente nennt der Autor zwar, aber man muss sie sich teilweise zusammensuchen. Infolgedessen ist die Argumentation manchmal nicht ganz widerspruchsfrei. Die grundlegende Feststellung, dass es - trotz der relativ starken Stellung von SS und Polizei - die Zivilverwaltung war, die die besatzungspolitischen Ziele bestimmte, wäre hilfreich gewesen.

Nicht zu übersehen sind auch die Besonderheiten, die Musials Fallbeispiel, der Distrikt Lublin, innerhalb des Generalgouvernements in mancher Hinsicht hatte. In Lublin waren die Konflikte zwischen SS und Polizei heftiger als anderswo; der SS- und Polizeiführer Globocnik betrieb, beim Plan für das "Judenreservat" angefangen, eine besondere Verfolgungs- und Mordpolitik gegen die Juden mit Pilotfunktion - zwei der drei Vernichtungslager im Generalgouvernment, die er organisierte, lagen hier. Er verfolgte auch die Ansiedlung von Volksdeutschen - die Stellung der Zivilverwaltung zur Siedlungspolitik bleibt weitgehend im Dunkeln. Lublin war, wie Musial betont, erheblich stärker agrarisch geprägt als die übrigen Distrikte, so dass die Zivilverwaltung weniger auf jüdische Industriearbeiter Rücksicht nehmen musste. Mit manchen Verallgemeinerungen muss man also vorsichtig sein. Dennoch ist Bogdan Musials Buch ein wichtiger Beitrag zur Diskussion um Täter, Entscheidungen und Motive beim Mord an den Juden. Es liefert einen konkreten und geschlossenen Überblick über eine bisher oft vernachlässigte Tätergruppe, die von Zahl und Bedeutung nicht unterschätzt werden darf.

Der Verfasser ist Mitherausgeber von Heinrich Himmlers Dienstkalender und hat eine grundlegende Forschungsarbeit zum Vernichtungskrieg der Wehrmacht in Weißrussland veröffentlicht.

Frankfurter Rundschau, 22.12.1999

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