Wie Zwangsarbeiter im Dienst der evangelischen Kirche Gräber aushoben

von Bischof Wolfgang Huber, Berlin

Zehn Millionen Mark zahlen die evangelische Kirche und das Diakonische Werk in Deutschland in den Fond zur Entschädigung der Zwangsarbeiter. Wie die katholische Kirche offenkundig in zahlreichen Klöstern während der NS-Zeit Zwangsarbeiter beschäftigt hat, gilt dies in ähnlicher Weise auch für die Protestanten. Der evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg, Wolfgang Huber, hat am 19. Juli in Berlin in einem Vortrag auch auf dieses Kapitel der Kirchengeschichte Bezug genommen und über Zwangsarbeiter in kirchlichen Diensten berichtet. Wir dokumentieren Auszüge aus Wolfgang Hubers Rede.

(. . .) Verschweigen kann man aber nicht, dass auch der nationalsozialistische Antisemitismus bei vielen in den Kirchen auf bereite und vorbereitete Ohren stieß: So waren auch bei den Bekennern die blinden Flecke unverkennbar. Das erklärt, warum nur so wenige von ihnen den Weg in den Widerstand mitgingen. Und es erklärt auch, warum die Anknüpfung an das Erbe der Bekennenden Kirche nach 1945 weithin den politischen Widerstand aussparte, in den der christlich begründete Widerstand gegen das Naziregime mündete.

Das Erbe dieser Zeit holt uns immer wieder ein. Auch was bekannt war, tritt uns immer wieder neu und überraschend vor Augen. In diesen Wochen geschieht es am Beispiel des Zwangsarbeiterthemas. Das Ausmaß, in dem in Deutschland Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, ist gewiss keine neue Einsicht. Und doch haben wir die politische Verantwortung für diesen Einsatz lange verdrängt.

Nur vereinzelt wurde zu überlebenden Zwangsarbeitern der Kontakt aufgenommen. Nur in wenigen Fällen wurde denen, die einen wichtigen Teil ihres Lebens oft unter entwürdigenden Umständen in Deutschland verbracht hatten, die Möglichkeit der Spurensuche eröffnet. Die Aufgabe einer jedenfalls symbolischen Wiedergutmachung ist erst in den letzten Tagen in einer Weise gelöst worden, die mir jedenfalls Respekt abverlangt. Der Respekt wird noch größer sein, wenn der Beitrag zu dem Entschädigungsfonds von 10 Milliarden Mark, der auf die deutsche Wirtschaft entfällt, erbracht sein wird.

Aber was man allgemein weiß, nimmt noch einmal ein anderes Gesicht an, wenn es einem in persönlicher Gestalt nahe rückt. Deshalb hat es mich erschüttert, als ich zum ersten Mal ein Dokument in der Hand hielt, das die Namen von 47 Ostarbeitern verzeichnet. Sie gehören zu den ungefähr hundert Zwangsarbeitern, die hier in Berlin in einem eigenen kirchlichen Arbeitslager untergebracht waren An der Hermannstraße war es gelegen, auf dem Gelände der Jerusalems- und Neuen Gemeinde. Insgesamt 26 evangelische und zwei katholische Gemeinden waren an diesem Lager beteiligt. Von dort bezogen sie die Friedhofsarbeiter, die in der Zeit zwischen 1943 und 1945 Gräber aushoben und wieder schlossen, eine durch die Bombennächte wachsende Zahl von Gräbern.

Ich hatte schon zuvor von mir aus die diakonischen Einrichtungen unserer Kirche aufgefordert, für ihren Bereich nachzuforschen, inwieweit Zwangsarbeiter beschäftigt worden waren. Eine Reihe von Einzelfällen ist dabei bekannt geworden. Doch an die kirchlichen Friedhöfe hatte ich nicht als Erstes gedacht. Dabei ist der Gedanke nahe liegend: Die Männer waren an der Front, die Frauen zu "kriegswichtigen" Arbeiten eingezogen. Das Ausheben von Gräbern gehörte dazu nicht, obwohl es der Krieg war, der auch die Zahl der Toten anschwellen ließ. Also waren es die so genannten Ostarbeiter, die Bombenopfer und andere Tote unter die Erde brachten. Man kann nachvollziehen, warum sich daran so viele Gemeinden beteiligten. Die Verantwortung für die Kirchhöfe nahm ihnen niemand ab. Aber entschuldigen kann man es nicht. Denn es bleibt eine Beteiligung an dem Gewaltsystem, das der Nationalsozialismus geschaffen hatte. Der Krieg zog seine grausame Spur bis auf die Friedhöfe.

Unsere Kirche bekennt sich dazu, in diese Schuld verflochten zu sein. Wir gehen von uns aus diesen Vorgängen weiter nach. Soweit wir sie kennen, haben wir sie von uns aus öffentlich bekannt gemacht. Die Evangelische Kirche in Deutschland beteiligt sich an der Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeitern mit einem Betrag von zehn Millionen Mark. Damit wollen wir auch unterstreichen: Alle miteinander tragen die Verantwortung für die Folgen der damaligen Schuld.

"Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" - so heißt der Name der Stiftung, die in diesem Monat eingerichtet wird. In der vergangenen Woche hat der Bundestag das beschlossen. Zu Beginn dieser Woche sind die entsprechenden Vereinbarungen unterzeichnet worden. "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" - das ist ein guter Name. Er unterstreicht, worum es geht: Wir wollen uns den überlebenden Opfern zuwenden und sie wenigstens mit einem kleinen Beitrag auf der Strecke ihres Lebens unterstützen, die noch vor ihnen liegt. Und wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, dass sich Vergleichbares nicht wiederholt: ein Kriegssystem, das seine Spur bis auf die Friedhöfe zieht und uns alle in die Schuld mit hineinzieht, die Kirchen eingeschlossen. Auch das ist ein Grund dafür, warum das offene Bekenntnis des Glaubens und die Bereitschaft, aus ihm politische Konsequenzen zu ziehen, niemals mehr auseinander gerissen werden sollten.

"Unterlassene Schritte vom Bekennen zum Widerstehen enden bei der Duldung des Verbrechens; sie machen aus dem Bekenntnis Alibi-Worte; sie richten sich angesichts des geschehenen Unrechts als unstillbare Anklage gegen die Bekenner." So endet der Aufsatz von Eberhard Bethge, der auch meinem heutigen Vortrag den Titel gab: "Zwischen Bekenntnis und Widerstand." Das Bekenntnis als öffentliche Angelegenheit und der Widerstand mit seinen Stufen des Verheimlichens, das Bekenntnis mit der Eindeutigkeit der Bindung an Christus und der Widerstand mit seinem politischen Kalkül, dem rationalen Bedenken des Erfolgs bleiben unterschieden.

Aber auseinander reißen darf man sie nicht. Auch das gehört zu den Lehren des 20. Juli; und es gehört zu den Einsichten, die Eberhard Bethge uns anvertraut hat.

Es war der erste Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Willem Visser't Hooft, der 1945 im Blick auf die Widerstandsgruppe um Hans von Dohnanyi und Dietrich Bonhoeffer schrieb: "Die Nihilisten des Dritten Reiches sind im Haus Bonhoeffer auf ein Zentrum hochgesinnten Geistes von bester deutscher Überlieferung gestoßen, eines Geistes, der mit ihrem Ungeist weder paktieren konnte noch wollte." Wie wäre es, wenn wir uns stolz in die Tradition eines solchen Geistes stellen, anstatt ihn widerspruchslos als "konservativ", "elitär" oder sogar als "antidemokratisch" denunzieren zu lassen, wie dies immer wieder geschieht.

Meine Überzeugung ist: Ohne Menschen, die den Mut zu geistiger Existenz in dem von Visser't Hooft beschriebenen Sinn haben, kann Demokratie auch heute nicht gelingen. Ohne Menschen, die diese geistige Existenz im Bekenntnis ihres Glaubens verwurzeln, auch nicht. Das Thema bleibt uns auch heute aufgegeben: Zwischen Bekenntnis und Widerstand.

Frankfurter Rundschau, 25.07.2000

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