Wer einmal in die Mühlen der Zwangsarbeit geriet... Eine Studie für Schleswig-Holstein

von Uwe Danker und Robert Bohn

In Schleswig-Holstein waren in der NS-Zeit vergleichsweise viele Zwangsarbeiter eingesetzt. Dies ist ein Ergebnis eines in der vergangenen Woche in Kiel präsentierten und von der rot-grünen Landesregierung in Auftrag gegebenen Gutachtens. Autoren sind die Professoren Uwe Danker und Robert Bohn vom Institut für schleswig-holsteinische Zeitgeschichte (IZRG) an der Uni Flensburg. Wir dokumentieren eine Zusammenfassung der Studienergebnisse leicht gekürzt. Das komplette etwa 730-seitige Gutachten soll ab September sowohl als Buch (Bestellungen beim IZRG unter Telefon 04 61 - 8 61 18 90) vorliegen als auch im Internet unter der Adresse www.izrg.de abrufbar sein.
A. Ausgewählte Ergebnisse
(. . .) Auf der Basis von vier seriellen Quellengruppen wurden erstmals präzise Daten zur provinziellen Entwicklung der Ausländerbeschäftigung von 1940 bis Ende 1944 erhoben und ausgewertet:

Die Hauptausbauphase der Ausländerbeschäftigung in Schleswig-Holstein fiel in den Zeitraum 1941/1942, im Sommer 1942 wurde die Marke der 100 000 überschritten, um 1944 mit 134 000 Zivilarbeitern den Höchststand der von der Arbeitsverwaltung gesteuerten "zivilen" Ausländerbeschäftigung zu erreichen. Die mit großem Abstand stärkste nationale Gruppe stellten 1944 knapp 57 000 "Ostarbeiter", also aus der Sowjetunion zwangsweise zum Arbeitseinsatz im Reich deportierte Frauen, Männer und Jugendliche.

Die zweitstärkste nationale Gruppe bildeten ca. 37 000 Arbeitskräfte polnischer Nationalität. Sie waren zu einem geringen Teil freiwillig den Anwerbungen gefolgt, stark überwiegend hatte man sie durch unmittelbar nach der Besetzung Polens einsetzende Aushebungen, die deutlichen Zwangscharakter trugen, für die Arbeit im Reich rekrutiert oder - ebenfalls unter Zwang - als Kriegsgefangene in den neuen Status übergeführt.

Alle anderen Nationalitäten fielen im Vergleich zu diesen großen Gruppen weniger ins Gewicht: ca. 11 000 Franzosen, knapp 7000 holländische, 4000 belgische, 2700 dänische und 5300 italienische Arbeitskräfte. Der jeweilige Grad der Freiwilligkeit oder des Zwanges lässt sich für diese Gruppen nicht generell, sondern nur für Teilgruppen oder auch den Einzelfall bestimmen. Jugoslawen, Tschechen und Arbeitskräfte aus den baltischen Staaten spielten hier eine sehr geringe Rolle.

Fazit: Die besonders nachhaltigen Beschränkungen und schwereren Bedingungen unterliegenden knapp 57 000 "Ostarbeiter" und fast 37 000 Polen stellen 42,3 % und 27,5 %, zusammen mithin 69,8 % - mehr als 2/3 - der "Fremdarbeiter" in Schleswig-Holstein.

Der am Beginn des Betrachtungszeitraums bei nur 20 % liegende Frauenanteil unter den ausländischen Arbeitskräften stieg beträchtlich auf schließlich 37 % 1944 an. Insbesondere waren ein Drittel aller polnischen Zwangsbeschäftigten und eine deutliche Mehrheit der "Ostarbeiter" weiblichen Geschlechts.

Mit über 57 000 Beschäftigten oder knapp 46 % überwog unter den Einsatzbranchen noch im Mai 1944 die Landwirtschaft. In der Industrie, sehr stark überwiegend in der Metall verarbeitenden (Rüstungs-)Industrie Schleswig-Holsteins, waren im Mai 1944 gut 43 000, also ca. 35 % der "Fremdarbeiter" eingesetzt.

Im zusammengefassten Sektor Bauwirtschaft, Dienstleistungen und Handwerk arbeiteten 11 600 oder 9,4 % der ausländischen Beschäftigten. Der öffentliche Dienst mit Reichsbahn sowie auf kommunaler, Kreis- und provinzieller Ebene war mit immerhin fast 12 800 oder gut 10 % der Ausländerbeschäftigung vertreten. Zwei Aspekte besitzen folglich über den allgemein bekannten Zwangseinsatz in Industrie, Bau und Handwerk hinaus Relevanz: Der sehr hohe Anteil der Ausländerbeschäftigung in der Landwirtschaft sowie die Tatsache, dass die öffentliche Hand selbst durchaus nennenswert von Zwangsarbeit profitierte.

Über den Sektor der zivilen Ausländerbeschäftigung hinaus ist der - ebenfalls von der Arbeitsverwaltung gesteuerte - Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen zu berücksichtigen: Die Anzahl der zwangsarbeitenden Kriegsgefangenen des schleswig-holsteinischen Stammlagers XA variierte zwischen dem Tiefstand mit etwas über 37 000 im Juni 1942 und dem absoluten Höchststand von mehr als 64 000 im Januar 1944.

Der absolute Höhepunkt der registrierten und statistisch ausgewiesenen Ausländer- und Zwangsbeschäftigung in Schleswig-Holstein fällt in die Zeit des Jahreswechsels 1943/44: 186 363 von der regulären Arbeitsverwaltung registrierte Ausländer (Zivilisten und Kriegsgefangene) arbeiten am 31. 12. 1943 in der Provinz. Und zwar der ganz überwiegende Anteil von ihnen unter Zwang: die - jeweils zu diesem Zeitpunkt - 64 676 arbeitenden Kriegsgefangenen und die 43 007 "Ostarbeiter" sowieso, die allermeisten der 33 661 Polen auch, die deutliche Mehrheit der 4030 Ukrainer, 5693 Belgier, 11 556 Franzosen und 7005 Holländer zudem. Dieser Bestand an Arbeitskräften stand der Provinz nach der vollen Entfaltung der Ausländerbeschäftigung im totalen Krieg real zur Verfügung.

Zur Bestimmung der Gesamtzahl der in Schleswig-Holstein während des Zweiten Weltkriegs beschäftigten Ausländer sind zwei weitere Faktoren zu berücksichtigen: Sonderformen der Zwangsarbeit und Aspekte der Fluktuation. In der Endphase des Krieges errichtete KZ-Außenstellen des KZ Neuengamme in Kaltenkirchen, Schwesing und Ladelund lieferten ca. 2000 zusätzliche ausländische Zwangsarbeitende aus der Gruppe der KZ-Insassen im Winter 1944/45.

Die Mortalität ausländischer Arbeitskräfte und Kriegsgefangener war generell nicht gering. Insbesondere sowjetische Kriegsgefangene kamen in einem erbärmlichen Zustand in Schleswig-Holstein an, weil man sie in deutscher Gefangenschaft nur notdürftig ernährt hatte; viele von ihnen starben in den ersten Monaten, insgesamt allein in Schleswig-Holstein etwa 6500. Die Opferzahlen der genannten Konzentrationslager und des "Arbeitserziehungslagers Nordmark" in der Endphase der NS-Herrschaft waren erheblich. Insbesondere bezogen auf Kiel kommt hinzu, dass zwangsarbeitende Ausländer stark überproportional Opfer des Bombenkrieges wurden, weil Polen, Ostarbeitern und anderen das Betreten der öffentlichen Luftschutzbunker untersagt war, sie aber zugleich mit ihren den Industriebetrieben benachbarten Lagern in der unmittelbaren Gefahrenzone ungeschützt lebten.

Zurückhaltend geschätzt gehen wir über die 800 bis 1000 ausländischen KZ-Opfer hinaus von ca. 9000 Toten unter Kriegsgefangenen und zivilen Ausländern im Arbeitseinsatz aus. Natürliche Fluktuation ist nur für westliche Arbeitskräfte in den ersten Kriegsjahren feststellbar.

Bezogen auf jene in Mittel- und Osteuropa ausgehobenen Zwangsarbeitenden spielen derartige Aspekte der Fluktuation nur eine sehr geringe Rolle. Für sie galt: Wer einmal in die Mühlen der Zwangsarbeit geriet, wurde bis Kriegsende grundsätzlich nicht wieder aus ihnen entlassen. Allerdings gab es zwei andere Fluktuationsfaktoren, die auch für diese in Schleswig-Holstein besonders relevanten Gruppen zutreffen: Zum einen die gnadenlose Rücksendung - insbesondere von "Ostarbeitern" und Polen - im (schweren) Krankheitsfall und - nicht konsequent umgesetzt - bei Schwangerschaft.

Insgesamt gelangen wir zu einer Zahl von ca. 225 000 in Schleswig-Holstein während der NS-Zeit beschäftigten "Fremdarbeitern", Kriegsgefangenen und ausländischen KZ-Häftlingen. Eine Gesamtzahl, die im relativ geringen unsicheren Anteil auf zurückhaltenden Schätzungen basiert, also von der Wirklichkeit allenfalls nach oben übertroffen werden könnte.

Die erhobenen Daten für die Provinz Schleswig-Holstein wurden zu jenen der gesamten Reichsebene in Relation gesetzt. Dadurch lässt sich der relative Anteil der schleswig-holsteinischen Partizipation an Ausländerbeschäftigung und Zwangsarbeit genau bestimmen.

In Schleswig-Holstein wurden phasenverschoben früher als im Reichsdurchschnitt die Höchststände der Ausländerbeschäftigung erreicht. Da Ausländerbeschäftigung zunächst der Landwirtschaft galt und da zudem mit der Intensivierung des Krieges 1942 Mobilmachungen und entsprechender Arbeitskräfteersatz stark auch die noch arbeitsintensive Landwirtschaft betrafen, drückt sich in dieser Phasenverschiebung Schleswig-Holsteins damalige Wirtschaftsstruktur aus.

Im Mai 1944 stellte Schleswig-Holstein 1,7 % aller deutschen Arbeitskräfte im Reich, beschäftigte aber 2,3 % aller Ausländer. Die signifikante Differenz mit einem Plus von 0,6 % bedeutet - bezogen auf den Reichsdurchschnitt - ein relatives Mehr an 35 % der Ausländerbeschäftigung in Schleswig-Holstein. Die Ursache für diese vergleichsweise hohe Partizipation Schleswig-Holsteins am "Ausländereinsatz" liegt darin, dass die Wirtschaftsstruktur der Provinz durch zwei für Zwangsarbeit in der NS-Zeit relevante Parameter gekennzeichnet war: durch vergleichsweise hohe Anteile an Landwirtschaft und Rüstungsproduktion. Beide "Branchen" zählten grundsätzlich zu den Hauptbeschäftigungssektoren für ausländische Arbeitskräfte.

Auch die Gruppenstärke der Polen und "Ostarbeiter" ist im Vergleich höher als im Reichsdurchschnitt: Der Anteil polnischer Arbeitskräfte betrug in Schleswig-Holstein 1944 27,5 %, auf Reichsebene nur 23,7 %. Der Anteil der "Ostarbeiter" lag in der Provinz mit 42,3 % gegenüber 36,4 % auf Reichsebene signifikant über den Durchschnitt. Berücksichtigt man den jeweils unterschiedlichen Status der streng nach Nationen gruppierten Ausländer im deutschen Arbeitseinsatz, so signalisiert die schleswig-holsteinische Abweichung vom Reichsdurchschnitt einen in der Tendenz stärkeren Zwangscharakter der provinziellen Ausländerbeschäftigung. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass andererseits die extreme Form der Zwangsarbeit, jene förmliche Sklavenarbeit von KZ-Insassen, hier nur kurzfristig und in vergleichsweise geringem Umfang eine Rolle spielte.

Insgesamt lässt sich für den Vergleich zwischen Schleswig-Holstein und Reichsebene festhalten, dass in Schleswig-Holstein die Ausländerbeschäftigung während des Zweiten Weltkriegs früher expandierte und folglich ein relatives Mehr an "Gesamtertrag" einbrachte, die einzelnen "Fremdarbeiter" in der Regel eine relativ längere individuelle Dauer eingesetzt waren, überdurchschnittlich viele zivile Ausländer im Arbeitseinsatz waren, unter ihnen mit Polen und "Ostarbeitern" genau jene Gruppen besonders stark und überdurchschnittlich vertreten waren, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen aus rassistischen Motiven besonders schlecht gestaltet wurden, sowie schließlich überdurchschnittlich viele Kriegsgefangene arbeiteten.

Fazit: Schleswig-Holstein partizipierte mit signifikanter Abweichung überdurchschnittlich an der NS-Zwangsarbeit. Allerdings gilt, dass diese Abweichung zum Reichsdurchschnitt gemessen ist: Folglich ist damit nicht ausgeschlossen, dass andere Gaue noch stärker nach oben abwichen.
B. Ausgewählte spezielle Aspekte
Die erhobenen Daten erlauben auch eine genaue Wiedergabe der Geburtsjahrgänge der im beispielhaft ausgewählten Kreis Schleswig beschäftigten Ausländer: Ganz deutlich überwiegen die im Jahr 1943 18- bis 33-Jährigen, also Mitglieder jener Altersgruppen, denen die größte und effektivste Arbeitskraft und zugleich körperliche Stabilität unterstellt werden konnte. Bezogen auf die aktuelle Entschädigungsdebatte kommen aus biologischen Gründen, von seltenen Ausnahmen abgesehen, lediglich die Kohorten ab etwa Jahrgang 1920 - dessen Vertreter sind heute 80 Jahre alt - aufwärts in Frage.

In relevantem Umfang handelt es sich um die Jahrgänge 1920 bis 1929: Es sind 38,7 % der insgesamt im Kreis während des Zweiten Weltkriegs beschäftigten Ausländer. Das ist - verursacht durch die zweckorientierte Verschleppung sehr junger "Ostarbeiter" und Polen - ein nicht unerheblicher Anteil.

Festgestellt wurde weiter insbesondere für Polen und "Ostarbeiter" eine jeweils auffallend hohe Aufenthaltsdauer und Arbeits(platz)kontinuität. Grundsätzlich gilt und wird durch unsere Analyse nachhaltig auch empirisch bestätigt: Wer als Pole oder "Ostarbeiter" in das System der deutschen Zwangsarbeit geriet, blieb darin gefangen. "Fluktuation" Betroffener basierte allein auf Mortalität, Rücksendung im Krankheitsfall, Flucht und - wohl überwiegend - auf Effekten der Binnenwanderung innerhalb der Provinz.

Die Ausländerbeschäftigung in zehn nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Dörfern im Kreis Schleswig lieferte einen eindeutigen Befund: 80 % bis 95 % der bäuerlichen Betriebe beschäftigten ausländische Arbeitskräfte. Während insgesamt nur jeder sechste Hof keine "Fremdarbeiter" aufwies, waren ein Drittel aller Höfe mit einem, ein Viertel mit zwei, ein Achtel mit drei und immerhin jeder Zehnte landwirtschaftliche Betrieb mit vier und mehr ausländischen Beschäftigten "versorgt".

Die Tendenz ist eindeutig und zu verallgemeinern: Für den Bereich der schleswig-holsteinischen Landwirtschaft gilt, dass die Beschäftigung von "Fremdarbeitern" während des Zweiten Weltkrieges die stark überwiegende Norm, die Nichtbeschäftigung von Ausländern die seltene Ausnahme darstellte. Aller harmonisierenden kollektiven Erinnerung zum Trotz muss festgehalten werden: Dieser "Fremdarbeitereinsatz" stellte Zwangsarbeit dar.

Auch im Bereich der Lohn- und Abgabensetzungen für ausländische Arbeitskräfte schuf der NS-Staat eine Hierarchie, die dem rassistischen Modell genau entsprach. Die Regelungen für Löhne und Abgaben in den Verordnungen zum Ausländereinsatz lassen sich wie folgt zusammenfassen: Polen sollten konstant etwa 50-85 % des Lohnes ihrer deutschen Kollegen erhalten, Ostarbeiter bezogen zunächst nur 10-20 % des Lohnes ihrer deutschen Kollegen, ab August 1942 stieg dieser Anteil langsam an, ehe ab Mai 1944 auch Ostarbeiter wie Polen bis zu 85 % des Lohnes ihrer deutschen Kollegen verdienen konnten, wobei sie jedoch überwiegend wertlose Sparmarken bezogen, Belgier, Franzosen, Holländer, Italiener und Kroaten sollten etwa den gleichen Lohn wie ihre deutschen Kollegen erhalten.

Hinzu kam das Abgabensystem: Polen zahlten eine "Sozialausgleichsabgabe" von 15 % ihres Bruttolohnes, "Ostarbeitern" wurden anfangs bis zu 90 % ihres Lohnes weggesteuert beziehungsweise als Unterbringungskosten im Lager einbehalten. Alle ausländischen Zivilarbeiter unterlagen den deutschen Sozialversicherungsvorschriften. Sie hatten von ihrem Lohn für die Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung Beiträge zu entrichten. "Ostarbeiter" verfügten über keinen "Rechtsanspruch" auf Krankenbehandlung.

Diese - oft unklaren und ständig gewandelten - normativen Vorgaben sind an der Realität zu spiegeln: Tarifrechtliche Bestimmungen etwa setzen ein gewisses Maß an Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit voraus und gehen von Vertragspartnern aus, die im Zweifelsfall ihre Rechte wahrnehmen und einklagen können.

Genau diese Bedingungen waren für Ausländer im "Arbeitseinsatz" nicht im Ansatz gegeben. Vorausgesetzt, er wusste um seine Rechte, womit sollte ein Deportierter, mit dem Ostarbeiterzeichen stigmatisierter, dauerhaft unter Überwachung stehender Zwangsarbeiter drohen? Das Regelsystem der Zwangsarbeit bot Raum für Eigeninterpretationen, individuelle Spielräume, die jedenfalls von den betroffenen ausländischen Beschäftigten kaum bis gar nicht hinterfragt werden konnten.

Nicht nur mit ihrer Arbeit, auch mit ihren nicht unerheblichen Steuerleistungen und Sonderabgaben finanzierten die ausländischem Arbeitskräfte den Krieg auf deutscher Seite mit. Ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung waren absurd, weil für sie ohne jede Gegenleistung. Bezogen auf Zahlungen in die deutsche Rentenversicherung sollte schließlich in ungezählten Fällen Ähnliches gelten: Und auch die Krankenversicherungsbeiträge, die gesetzliche Pflichtversicherungen wie die Allgemeinen Ortskrankenkassen einzogen, garantierten keine angemessenen Leistungen: Für die Dauer des Aufenthalts im Deutschen Reich wurde den meisten Gruppen des ausländischen Arbeitseinsatzes zwar eine - wenn auch offenbar nach rassistischen Gesichtspunkten abgestufte - Krankenbehandlung geboten. Aber: "Ostarbeiter" wurden in deutlich geringerem Maße medizinisch versorgt als statistisch nach ihrem Anteil zu erwarten wäre. Bei ernsthafter Erkrankung von ausländischen Arbeitskräften wurden diese ohnehin - und ohne angemessene medizinische Behandlung - als arbeitsuntauglich in ihre Heimat rücktransportiert.
C. Perspektiven des NS-Staates, der "Volksgemeinschaft" und der "Fremdarbeiter"
Die Zwangs- und Fremdarbeiter wurden von den Arbeitsbehörden des NS-Staates in Stufen als zusätzliche Hilfskräfte rekrutiert, um die Wirtschaft aufrechterhalten und den Krieg überhaupt weiterführen zu können. Für den Charakter der Ausländerbeschäftigung im Zweiten Weltkrieg gilt:

Die Zahl der Personen, die durch Zwangsaushebungen ins Reich kamen, übertraf die Zahl der Freiwilligen bei weitem. In allen besetzten Ländern gab es allerdings Personen, die sich aus den verschiedensten Beweggründen freiwillig zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich meldeten. Deshalb wäre die pauschale Verwendung des Begriffs "Zwangsarbeiter" unkorrekt. Andererseits wurden auch Freiwillige zu Zwangsarbeitenden, wenn die Zusagen der Werber sich als falsch herausstellten und sie dennoch um ihr Leben fürchten mussten, weil sie unter diesem Hinweis die Arbeit niederlegten.

Wenn Menschen durch menschenunwürdige Behandlung bei gleichzeitiger Pflicht zur Schwerstarbeit ihre Gesundheit oder gar ihr Leben verloren, wie die Häftlinge der "verschärften Straflager", der Arbeitserziehungslager (AEL Kiel) und der KZ-Außenkommandos (Schwesing, Ladelund, Kaltenkirchen), so handelte es sich um die äußerste Form der Zwangsarbeit.

Ebenso falsch wie die Vorstellung, der "normale" Zwangsarbeiter in Schleswig-Holstein hätte unter unmenschlichen Bedingungen in Häftlingsbekleidung arbeiten müssen, ist die Annahme, dass ein Pole, Russe oder Ukrainer, der ohne besondere Zwischenfälle während des Krieges auf einem Bauernhof lebte und arbeitete, kein Zwangsarbeiter gewesen sein könne.

Durch den gesetzlichen Rahmen war jeder Pole und Ostarbeiter der permanenten Gefahr ausgesetzt, durch persönliche und staatliche Willkür in eine lebensbedrohliche Situation zu geraten. Hervorzuheben ist weiter der umfassende Zwangscharakter des Alltages, unter dem Polen und "Ostarbeiter" zu leiden hatten. Alle Bereiche des täglichen Lebens unterlagen restriktiven Vorschriften und erheblicher staatlicher Kontrolle.

Bezieht man all diese Aspekte in seine Erwägungen mit ein, so waren alle Frauen und Männer aus Polen und der Sowjetunion - Kollaborateure ausgeschlossen -, die sich zwischen 1939 und 1945 in Schleswig-Holstein aufhielten, ohne Ausnahme Zwangsarbeitende. Und Zwang wurde nicht nur auf diejenigen ausgeübt, die gegen ihren Willen nach Schleswig-Holstein kommen mussten, sondern auf alle Polen und "Ostarbeiter" in vielfältiger Weise, Tag für Tag, vom Tag der Ankunft bis zum Tag der Befreiung durch die Alliierten.

Insgesamt war die Situation für die Zwangsarbeitenden auf dem Lande besser als in der abgeschotteten Anonymität der Industrielager. Wichtigstes Kriterium hierfür bildet die höhere Qualität der Verpflegung. Wenn allerdings das persönliche Verhältnis zwischen dem einzeln auf dem Hof untergebrachten und arbeitenden Ausländer und seinem Betriebsführer (Bauern) nicht funktionierte, dann war der Zwangsarbeitende dessen Willkür nahezu schutzlos ausgeliefert und hatte nicht die Möglichkeit eines Rückzugsraumes, den in einem solchen Fall ein großes Lager bieten konnte.

Dass es so war, konnte anhand der obrigkeitlichen Perspektive dargestellt werden. Denn der Einsatz von am Ende fast acht Millionen ausländischen Arbeitskräften im Reich widersprach politisch und rassenideologisch von Anfang an der nationalsozialistischen Weltanschauung und war nur möglich, weil die ausgehandelten Formelkompromisse den Charakter einer "vorübergehenden Notstandsmaßnahme" trugen und die Sicherheitsbehörden und die Partei glaubten, den Verstoß gegen rassistische Grundprinzipien durch Terror und eine besonders schlechte Behandlung jederzeit ausgleichen zu können.

Zur Beruhigung nicht nur des Auslandes, sondern auch der auf formaljuristische Rechtsstaatlichkeit bedachten höheren Ministerialbeamtenschaft wies man längere Zeit auf die Parallelen des Arbeitseinsatzes zur Saisonarbeit ausländischer Arbeitskräfte vor dem Krieg hin, schuf aber zeitgleich ein auf Nationalitäten abgestimmtes Erlass- und Repressionssystem und versuchte sowohl eine arbeitsmarktpolitische Entlastung der deutschen Bevölkerung zu erreichen, dabei aber gleichzeitig das Postulat einer rassischen Hierarchisierung der Arbeitskräfte beizubehalten.

Dabei war der Willkür etwa auch der Gestapo in der Provinz keine Grenze gesetzt, wie zum Beispiel das einem KZ vergleichbare, zur Disziplinierung der ausländischen Arbeitskräfte eingerichtete "Arbeitserziehungslager Nordmark" in Kiel zeigte.

Mit der Perspektive der deutschen Obrigkeit korrespondierte durchaus diejenige der deutschen "Volksgemeinschaft": Fremdarbeiter und Kriegsgefangene gehörten für die deutsche Bevölkerung zum Kriegsalltag. Die Reaktionen auf sie als Gruppe im öffentlichen Raum waren deutlich geprägt durch die Erwartungshaltung der Deutschen an sie. Dabei zeigte sich, dass diese erkennbar Spuren von Wirkung der nationalsozialistischen Rassenpropaganda aufwies. Dies galt insbesondere für das Verhältnis zu den Polen und "Ostarbeitern", beziehungsweise den Kriegsgefangenen aus dem Osten, die in der Öffentlichkeit nicht zuletzt auf Grund ihrer Kennzeichnung klar zu identifizieren waren. Gleichwohl ließ sich nicht vermeiden, dass sich allzu extreme Vorstellungen über die "Untermenschen aus dem Osten" an der Wirklichkeit brachen. Auffällig ist - etwa bei der Analyse von Sondergerichtsakten - allerdings, dass der Einzelne im Konfliktfall dennoch auf diese Vorstellungen zurückgreifen konnte.

Die Haltung vieler Schleswig-Holsteiner gegenüber den Westarbeitern zeigt außerdem, dass auch ältere Vorurteile, wie beispielsweise gegenüber den Dänen, oder aktuelle Probleme, wie am Beispiel der italienischen Arbeitskräfte deutlich wurde, das Stimmungsbild in der Bevölkerung maßgeblich beeinflussten.

Im Vordergrund der Meinungsäußerungen über die ausländischen Arbeitskräfte standen Beschwerden und Klagen über deren Auftreten in der Öffentlichkeit, aber auch über die gezeigten Arbeitsleistungen. Dies hing, abgesehen von der Unkenntnis über die wirklichen Lebensverhältnisse in vielen Lagern, vor allem damit zusammen, dass die "Fremdarbeiter" als ein notwendiges Übel betrachtet wurden, das einzig auf Grund ihrer Funktion als Arbeitskräfte während der Dauer des Krieges in Deutschland geduldet werden konnte.

Diese Reduktion der Ausländer war von der Führung vorgegeben und von vielen "Volksgenossen" verinnerlicht worden. Dementsprechend bestand die Erwartungshaltung an die "Fremdarbeiter", dass sie sich als "rassisch Minderwertige" oder als Angehörige einer von Deutschland besiegten Nation möglichst unauffällig und gefügig zu verhalten hätten. Wo dies nicht geschah, äußerte sich die "Empörung des gesunden Volksempfindens".

Die Betrachtung der schleswig-holsteinischen Landbevölkerung in ihrem Umgang mit den "Fremdarbeitern" zeigt ein sehr differenziertes Bild: Bestimmend war offenbar die pragmatische und an Traditionen orientierte Haltung der Bauern zu den bei ihnen eingesetzten Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen.

Dies geht zum Beispiel daraus hervor, dass das Verbot der Tischgemeinschaft mit den ausländischen Arbeitskräften selten aus eigenem Antrieb durchgesetzt , dagegen offenbar reihenweise übertreten wurde. Gleiches kann - wenn auch in umgekehrter Wirkung - für die körperliche Züchtigung von Ausländern durch Bauern festgestellt werden, die ausdrücklich verboten war. Jedoch hatte ein Verstoß dagegen für den Deutschen weitaus geringere Konsequenzen als bei einem Verdacht für zu engen Umgang mit den "Fremdarbeitern" oder Kriegsgefangenen.

Der alltägliche Umgang der bäuerlichen Familien mit "ihren Fremdarbeitern" war zum großen Teil abhängig von der charakterlichen Grundhaltung und den persönlichen Erfahrungen der Arbeitgeber. Die aus Schleswig-Holstein überlieferten Fälle bieten die gesamte Bandbreite des möglichen Verhaltens. Grundsätzlich lässt sich dabei sagen, dass in der Regel eher der pragmatische Ansatz, die Erzielung von möglichst effizienter Arbeitsleistung, die Orientierung lieferte als rassenideologische Dogmatik.

Im Konfliktfall jedoch konnte auch auf den Unterdrückungsapparat, der auf dieser rassenideologischen Basis aufgebaut war, zurückgegriffen werden. Und das geschah: Bei drohendem Autoritätsverlust wurden vor allem Polen und "Ostarbeiter" absolut unverhältnismäßig sowie mitleidslos verfolgt und bestraft. Dies stieß oft auf den ungeteilten Beifall, zumindest aber nicht auf nennenswerten Widerstand in der Landbevölkerung.

Diese Tatsache deutet auch auf eine innere Distanz den "Fremden" gegenüber hin, die aus vielen untersuchten Aussagen spricht. Teilweise entwickelte sich sogar eine regelrechte Fremdenangst vor den Ausländern, die von der Propaganda nicht unwesentlich mit beeinflusst worden war, gleichwohl auf Grund der tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse kaum einen realistischen Anspruch behaupten konnte.

Frankfurter Rundschau, 1.08.2000

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