Redet Wahrheit

Eine jüdische Stellungnahme zu Christen und Christentum

"Dabru Emat" - Redet Wahrheit: So überschrieben die vier namhaften Rabbiner Tikva Frymer-Kensky, David Novak, Peter Ochs und Michael Signer ihre Erklärung zu Christen und Christentum, die in großer Aufmachung am 10. September in der New York Times erschienen ist. Die vier arbeiten im National Jewish Scholars Project zusammen. Inzwischen haben den Text weitere 214 Rabbinerinnen und Rabbiner sowie weitere jüdische Akademiker unterschrieben, darunter auch David Rosen aus Jerusalem, der Präsident des Internationalen Rates der Christen und Juden ist. Der Rat sorgte jetzt auch für eine offizielle deutsche Version, die wir im Wortlaut dokumentieren.

In den vergangenen Jahren hat sich ein dramatischer und beispielloser Wandel in den christlich-jüdischen Beziehungen vollzogen. Während des fast zwei Jahrtausende andauernden jüdischen Exils haben Christen das Judentum zumeist als eine gescheiterte Religion oder bestenfalls als eine Vorläuferreligion charakterisiert, die dem Christentum den Weg bereitete und in ihm zur Erfüllung gekommen sei. In den Jahrzehnten nach dem Holocaust hat sich die Christenheit jedoch dramatisch verändert. Eine wachsende Zahl kirchlicher Gremien, unter ihnen sowohl römisch-katholische als auch protestantische, haben in öffentlichen Stellungnahmen ihre Reue über die christliche Misshandlung von Juden und Judentum ausgedrückt. Diese Stellungnahmen haben zudem erklärt, dass christliche Lehre und Predigt reformiert werden können und müssen, um den unverändert gültigen Bund Gottes mit dem jüdischen Volk anzuerkennen und den Beitrag des Judentums zur Weltkultur und zum christlichen Glauben selbst zu würdigen.

Wir sind davon überzeugt, dass diese Veränderungen eine wohl bedachte jüdische Antwort verdienen. Als eine Gruppe jüdischer Gelehrter unterschiedlicher Strömungen - die nur für sich selbst spricht - ist es unsere Überzeugung, dass es für Juden an der Zeit ist, die christlichen Bemühungen um eine Würdigung des Judentums zur Kenntnis zu nehmen. Wir meinen, es ist für Juden an der Zeit, über das nachzudenken, was das Judentum heute zum Christentum zu sagen hat. Als einen ersten Schritt wollen wir in acht kurzen Punkten erläutern, auf welche Weise Juden und Christen miteinander in Beziehung stehen können.

Juden und Christen beten den gleichen Gott an.

Vor dem Aufstieg des Christentums waren es allein die Juden, die den Gott Israels anbeteten. Aber auch Christen beten den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Schöpfer von Himmel und Erde an. Wenngleich der christliche Gottesdienst für Juden keine annehmbare religiöse Alternative darstellt, freuen wir uns als jüdische Theologen darüber, dass Abermillionen von Menschen durch das Christentum in eine Beziehung zum Gott Israels getreten sind.

Juden und Christen stützen sich auf die Autorität ein und desselben Buches - die Bibel (das die Juden "Tenach" und die Christen das "Alte Testament" nennen).

In ihm suchen wir nach religiöser Orientierung, spiritueller Bereicherung und Gemeinschaftsbildung und ziehen aus ihm ähnliche Lehren: Gott schuf und erhält das Universum; Gott ging mit dem Volk Israel einen Bund ein und es ist Gottes Wort, das Israel zu einem Leben in Gerechtigkeit leitet; schließlich wird Gott Israel und die gesamte Welt erlösen. Gleichwohl interpretieren Juden und Christen die Bibel in vielen Punkten unterschiedlich. Diese Unterschiede müssen immer respektiert werden.

Christen können den Anspruch des jüdischen Volkes auf das Land Israel respektieren.

Für Juden stellt die Wiedererrichtung eines jüdischen Staates im gelobten Land das bedeutendste Ereignis seit dem Holocaust dar. Als Angehörige einer biblisch begründeten Religion wissen Christen zu würdigen, dass Israel den Juden als physisches Zentrum des Bundes zwischen ihnen und Gott versprochen - und gegeben wurde. Viele Christen unterstützen den Staat Israel aus weit tiefer liegenden Gründen als nur solchen politischer Natur. Als Juden begrüßen wir diese Unterstützung. Darüber hinaus wissen wir, dass die jüdische Tradition gegenüber allen Nicht-Juden, die in einem jüdischen Staat leben, Gerechtigkeit gebietet.

Juden und Christen anerkennen die moralischen Prinzipien der Thora.

Im Zentrum der moralischen Prinzipien der Thora steht die unveräußerliche Heiligkeit und Würde eines jeden Menschen. Wir alle wurden nach dem Bilde Gottes geschaffen. Dieser moralische Schwerpunkt, den wir teilen, kann die Grundlage für ein verbessertes Verhältnis zwischen unseren beiden Gemeinschaften sein. Darüber hinaus kann er auch zur Grundlage eines kraftvollen Zeugnisses für die gesamte Menschheit werden, das der Verbesserung des Lebens unserer Mitmenschen dient und sich gegen Unmoral und Götzendienst richtet, die uns verletzen und entwürdigen. Ein solches Zeugnis ist insbesondere nach den beispiellosen Schrecken des vergangenen Jahrhunderts dringend nötig.

Der Nazismus war kein christliches Phänomen.

Ohne die lange Geschichte des christlichen Antijudaismus und christlicher Gewalt gegen Juden hätte die nationalsozialistische Ideologie keinen Bestand finden und nicht verwirklicht werden können. Zu viele Christen waren an den Grausamkeiten der Nazis gegen die Juden beteiligt oder billigten sie. Andere Christen wiederum protestierten nicht genügend gegen diese Grausamkeiten. Dennoch war der Nationalsozialismus selbst kein zwangsläufiges Produkt des Christentums. Wäre den Nationalsozialisten die Vernichtung der Juden in vollem Umfang gelungen, hätte sich ihre mörderische Raserei weitaus unmittelbarer gegen die Christen gerichtet. Mit Dankbarkeit gedenken wir jener Christen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft ihr Leben riskiert oder geopfert haben, um Juden zu retten. Dessen eingedenk unterstützen wir die Fortsetzung der jüngsten Anstrengungen in der christlichen Theologie, die Verachtung des Judentums und des jüdischen Volkes eindeutig zurückzuweisen. Wir preisen jene Christen, die diese Lehre der Verachtung ablehnen und klagen sie nicht der Sünden an, die ihre Vorfahren begingen.

Der nach menschlichem Ermessen unüberwindbare Unterschied zwischen Juden und Christen wird nicht eher ausgeräumt werden, bis Gott die gesamte Welt erlösen wird, wie es die Schrift prophezeit.

Christen kennen und dienen Gott durch Jesus Christus und die christliche Tradition. Juden kennen und dienen Gott durch die Thora und die jüdische Tradition. Dieser Unterschied wird weder dadurch aufgelöst, dass eine der Gemeinschaften darauf besteht, die Schrift zutreffender auszulegen als die andere, noch dadurch, dass eine Gemeinschaft politische Macht über die andere ausübt. So wie Juden die Treue der Christen gegenüber ihrer Offenbarung anerkennen, so erwarten auch wir von Christen, dass sie unsere Treue unserer Offenbarung gegenüber respektieren. Weder Jude noch Christ sollten dazu genötigt werden, die Lehre der jeweils anderen Gemeinschaft anzunehmen.

Ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen wird die jüdische Praxis nicht schwächen.

Ein verbessertes Verhältnis wird die von Juden zu Recht befürchtete kulturelle und religiöse Assimilation nicht beschleunigen. Es wird weder die traditionellen jüdischen Formen der Anbetung verändern, noch wird es die Anzahl interreligiöser Ehen zwischen Juden und Nicht-Juden zunehmen lassen, noch wird es mehr Juden dazu bewegen, zum Christentum überzutreten, und auch nicht zu einer unangebrachten Vermischung von Judentum und Christentum führen. Wir respektieren das Christentum als einen Glauben, der innerhalb des Judentums entstand und nach wie vor wesentliche Kontakte zu ihm hat. Wir betrachten es nicht als eine Erweiterung des Judentums. Nur wenn wir unsere eigenen Traditionen pflegen, können wir in Aufrichtigkeit dieses Verhältnis weiterführen.

Juden und Christen müssen sich gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen.

Juden und Christen erkennen, ein jeder auf seine Weise, die Unerlöstheit der Welt, wie sie sich in andauernder Verfolgung, Armut, menschlicher Entwürdigung und Not manifestiert. Obgleich Gerechtigkeit und Frieden letztlich in Gottes Hand liegen, werden unsere gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit denen anderer Glaubensgemeinschaften helfen, das Königreich Gottes, auf das wir hoffen und nach dem wir uns sehnen, herbeizuführen. Getrennt und vereint müssen wir daran arbeiten, unserer Welt Gerechtigkeit und Frieden zu bringen. In dieser Bemühung leitet uns die Vision der Propheten Israels:

"In der Folge der Tage wird es geschehen: Da wird der Berg des Hauses des Herrn fest gegründet stehen an der Spitze der Berge und erhaben sein über die Hügel. Zu ihm strömen alle Völker. Dorthin pilgern viele Nationen und sprechen: ,Auf, lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Hause des Gottes Jakobs! Er lehre uns seine Wege, und wir wollen auf seinen Pfaden wandeln.'" (Jesaja 2, 2-3).

Tikva Frymer-Kensky, University of Chicago;
David Novak, University of Toronto;
Peter Ochs, University of Virginia;
Michael Signer, University of Notre Dame

Übersetzung aus dem Englischen: Christoph Münz, Redaktion "www.jcrelations.net" (Internet-Informationsdienst des Internationalen Rates der Christen und Juden, Martin-Buber-Haus, Heppenheim). Das "National Jewish Scholars Project" ist ein Forschungsprojekt des "Institute for Christian and Jewish Studies" (Baltimore, Maryland, USA), in dem eine Gruppe von jüdischen Gelehrten aus Nordamerika daran arbeitet, ein neues Verständnis der jüdisch-christlichen Beziehungen zu fördern.

Frankfurter Rundschau, 12.12.2000

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