Die bequeme Arbeitsteilung beim Erinnern des Holocaust

Antisemitismusforscher Benz plädiert für neue Formen

von Matthias Arning

Gedenktag, Gedenktag. Wolfgang Benz mag das eigentlich nicht mehr hören. Das ganze Gerede vom "Nie wieder" und den "Lehren aus der Geschichte", die es zu ziehen gelte. Diese eigentümliche Erschöpfung hängt für den Antisemitismusforscher vor allem damit zusammen, "dass Politiker so blöd sind und nicht recht etwas zu Stande bringen". Etwas, setzt Benz hinzu, "das in den Alltag hineinwirkt".

Bundespräsident Johannes Rau tritt den Kritikern entgegen. "Es gibt ein Unbehagen", merkt der SPD-Politiker am Freitag in seiner Rede zur Gedenkstunde des Bundestags an, "ja ein Unwillen gegenüber dem, was als staatlich verordnetes Erinnern empfunden wird." Beklagt werde, dass Lehrer heute eher zu viel als zu wenig über das so genannte Dritte Reich und den Holocaust reden. Er, Rau, erinnere sich nur zu gut noch an die Zeit, als "das Gegenteil beklagt wurde". Der Bundespräsident empfiehlt in dieser Situation: Es wäre falsch, Bedenken und Unbehagen "vom Tisch zu wischen". Vielmehr gehe es darum, "Antworten zu geben: Das wird uns nur gelingen, wenn wir uns immer wieder des Sinns vergewissern, den Gedenkstätten und Gedenktage haben".

Daran ließ Raus Vorgänger Roman Herzog, der den Gedenktag 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Auschwitz, staatspolitisch in Szene setzte, nie einen Zweifel aufkommen: "Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren", sagte Herzog 1996 bei der Feierstunde des Bundesparlaments: "Wir wollen Lehren ziehen, die auch zukünftigen Generationen Orientierung sind." Die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth setzte hinzu, was eigentlich als Maxime des Gedenkens am 27. Januar gelten könnte - "Stachel im Bewusstsein" zu sein.

Doch das klappt nicht. Irgendetwas läuft schief mit den Gedenktagen, die die Republik eher erschöpfen denn anstacheln. Es geht um die rhetorischen Formeln der Beschwörung, auf die öffentlich kaum ein Politiker meint verzichten zu können: Keine Kranzniederlegung ohne die Rede von der Geschichte als einer Lehrmeisterin des Lebens, kein Dialog mit Schülern ohne die mahnenden Worte über die verschlungenen Beziehungen zwischen der Vergangenheit, aus der das Gegenwärtige erst erwachse, undsoweiter undsoweiter . . .

Wolfgang Benz findet das wenig überzeugend. Der Historiker, der das Berliner Zentrum für Antisemitismusforscher leitet, sucht nach Ursachen und verweist auf "eine Arbeitsteilung, in der die deutsche Gesellschaft seit 1945 verfangen ist". Für das Erinnern an den von Deutschen verbreiteten Terror seien "nur einige wenige zuständig, die sich dann als Mahner und Seher gerieren". Die anderen gingen auch an diesem Tag weiterhin ihren Geschäften nach. "Wie interessant könnte es aber sein", fügt Benz an, etwa bei einer Fernsehdiskussion über den Holocaust statt des obligatorischen Ralph Giordano vielleicht mal Manfred Gentz, den Sprecher der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft und Verhandlungsführer bei den Unterredungen über einen Entschädigungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiter, zu sehen. Oder, fällt Benz ein anderes Beispiel ein, wenn sich Eintracht Frankfurt zum 27. Januar des Themas annehmen würde?

Aber nein. "Die Betroffenheit wird delegiert, die Arbeitsteilung ist bequem", schließlich wolle sich "auch niemand blamieren". Deswegen reden weiter die über den Holocaust, die immer über die Vernichtung der europäischen Juden, der Behinderten, der Homosexuellen und der Oppositionellen reden: "Dieses Delegationsverfahren ist auch ein Entsorgungsverfahren", setzt Historiker Benz noch hinzu.

Für die Zeiten, in denen Erinnerung weniger Konjunktur als heute hat, schwebt Benz vor, Schülern "unaufgeregt Wissen zu vermitteln" und dafür vor allem "die Gedenkstätten am Ort", die konkreten Stätten des nationalsozialistischen Terrors "zu stärken". Dort müsse es "über Betroffenheit hinaus attraktive Programme geben, vielleicht Kammerkonzerte". Und vielleicht, das fällt Benz noch ein, dringt die Erinnerung viel stärker in den Alltag. Vielleicht, wenn der Meister in der Werkstatt am nächsten 27. Januar vorschlägt, "wir sollten darüber nachdenken . . ."

Frankfurter Rundschau, 27.1.2001

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