Antisemitische Stereotypen wirken nachhaltig

Merkwürdige Erzählungen in Hamburger Schulbüchern

von Brigitta Huhnke

"Absurd", etwas anderes fällt Jan Hansen dazu nicht ein. Sein Sohn hatte sich in einem Hamburger Gymnasium gegen antisemitische Inhalte gewehrt. Mitschüler schnitten ihn über Wochen hinweg. Jan und Liane Hansen nahmen sich das Geschichtsbuch ihres Sohnes vor. Die Eltern fanden in Darstellungen zum Mittelalter groteske antisemitische Stereotype. Daraufhin wandten sie sich schriftlich an den Bürgermeister der Hansestadt, Ortwin Runde, und Schulsenatorin Ute Pape (beide SPD). Runde rührte sich nicht, Pape wich auch den Nachfragen der FR aus.

Weitere Recherchen ergeben: Auch alle anderen von der Hamburger Schulbehörde empfohlenen Geschichtslehrbücher enthalten, unterschiedlich akzentuiert, offenen Antisemitismus und subtil inszenierte Abwertungen. Schon im Mittelalter erscheinen Juden als Sonderlinge, die sich ins Getto zurückziehen und in ihren Gotteshäusern befremdlichen Dingen nachgehen. Sie tragen spitze, gelbe Hüte, raffen Zins und Gut an sich. Als vermeintliche Boten der Pest provozieren sie bei den Kreuzzügen den Hass der kleinen Leute.

In der internationalen Schulbuchforschung ist das Problem lange bekannt. Auch für viele andere Geschichtsbücher, die bundesweit im Umlauf sind, gilt: Im besten Fall "erscheint die Geschichte der Juden seit dem Mittelalter vornehmlich als eine Geschichte von Verfolgung und Niederlage ohne Gegenwehr", stellt Falk Pingel vom Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig fest. Seit 1985 gibt eine deutsch-israelische Schulbuchkommission Empfehlungen heraus, in denen regelmäßig auf die Vielfältigkeit der jüdisch-christlichen sowie der deutsch-jüdischen Geschichte hingewiesen wird, "die sowohl miteinander verflochten sind als auch voneinander getrennt verliefen", erklärt Pingel.

Zumindest die Alterspräsidentin der Hamburger Bürgerschaft, die CDU-Abgeordnete Eleonore Rudolph, ist alarmiert. Sie findet es "unbegreiflich", dass sich in Schulbüchern antijüdische Klischees finden lassen. Der Antisemitismus, verlangt sie, "muss rechtzeitig in allen Klassenstufen behandelt werden". Die streitbare Christin, seit 25 Jahren auch als Mitglied in der Nordelbischen Synode für die interkulturelle Aussöhnung zwischen Juden und Christen aktiv, fordert, "die Bücher sofort aus dem Verkehr zu ziehen".

Das sieht die junge Abgeordnete Julia Koppke von der Bürgerschaftsgruppe Regenbogen ebenso: "Meine Kinder sollen nicht anhand solcher Bücher lernen müssen." In den Haushaltsberatungen hatte sie kürzlich neue Schulbücher angemahnt sowie die Einrichtung einer Kommission von Experten und Expertinnen aus Wissenschaft, Politik und Schulpraxis. Doch das ficht Schulsenatorin Pape und Bürgermeister Runde nicht an. Deren Sprecher antworten ausweichend, lassen sich auf fachliche Auskünfte nicht ein. Auch die Konferenz der Kultusminister reagiert nicht. Die Verantwortung wird einfach an die Schulen weitergegeben. "In Hamburgs Lehrerinnen und Lehrer", gibt Pape der FR schließlich zu Protokoll, "habe ich großes Vertrauen: Ich weiß, dass sich diese mit großem Engagement dafür einsetzen, unsere Schülerinnen und Schüler für die schrecklichen Folgen von Antisemitismus und Rassismus zu sensibilisieren." Auch die örtliche Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erweist sich in diesem Zusammenhang eher als hilflos. So sieht sich der Vorstand der Hamburger GEW seit Monaten nicht zu einer Stellungnahme im Stande, obwohl in vielen Hamburger Lehrerzimmern engagiert über Antisemitismus und Rassismus diskutiert wird. Ganz anders ist die Reaktion der Bundesvorsitzenden, Eva-Maria Stange. Sie verabredete kürzlich mit dem Zentralrat der Juden eine längerfristige Zusammenarbeit. Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats und häufiger Gast an bundesdeutschen Schulen, kritisierte in der Unterredung mit Stange die tägliche Unterrichtspraxis auch zur neueren Geschichte: "Jüdinnen und Juden kommen fast ausschließlich als Opfer vor, nicht aber als Menschen, die engagierte Beiträge zur Geschichte, Wissenschaft und Kultur geleistet haben." Eigentlich wäre die Situation in Hamburg im Moment äußerst günstig. Die Schulbehörde überarbeitet die Bildungs- und Rahmenpläne. Doch die stärkere Berücksichtigung jüdisch-christlicher Geschichte für alle Klassenstufen ist nicht geplant. Neue Schulbücher werden ebenfalls nicht angeschafft. Im Gegenteil: 2001 sollen bis zu drei Millionen Mark für Lehr- und Lernmittel eingespart werden.

Die Schulbuchverlage sind mittlerweile das kleinere Problem. Diesterweg gesteht ohne Umschweife Versäumnisse ein. Bei Westermann hat sich die Verlagsleitung zu einer Neuauflage entschlossen, in der "besonders darauf geachtet werden soll, auch unbewusste Stereotype nicht mehr aufzunehmen", sagt Sprecherin Lisa Seggelke. Der Cornelsen Verlag hat das Schulbuch "Menschen, Zeiten, Räume" aus dem Verkehr gezogen und überarbeitet: "Wir haben Fehler gemacht", sagt Irina Pächnatz und verweist auf künftige vom Verlag geförderte Schulprojekte zu Toleranz und Erinnerung. Den Verlag hatten die westlichen Alliierten im Rahmen der Reedukation gegründet.

Doch es gibt ein weiteres Problem - die ungenügende Ausbildung von Lehrern und Lehrerinnen im Fach Geschichte. Weder an den Universitäten noch in der Referendarausbildung sind das Studium jüdischer Geschichte oder wissenschaftliche Kenntnisse über die Entwicklung des deutschen Rassismus Pflicht. Der Schulforscher Falk Pingel hatte die Erfahrung gemacht, "dass Lehrer meinten, die Juden hätten durch die Riten, durch andere Alltagsbräuche und Normen eine Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft selbst eingeleitet". Viele sind schlichtweg überfordert. So bestreiten in Hamburger Hauptschulen Lehrkräfte den Geschichtsunterricht, die bis zu 70 Prozent fachfremd sind. Der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries, der an der Uni Hamburg lehrt, rät der Schulbehörde dringend, die Bedeutung von Minderheiten ausführlicher zu thematisieren. Denn - "gerade in dieser Schulform werden wir mit dem aggressivsten Rassismus konfrontriert".

Frankfurter Rundschau, 27.1.2001

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