Das ehemalige Hamelner Zuchthaus ist heute ein Vier-Sterne-Hotel

Zwei Gefangene beschreiben die Evakuierung im April des Jahres 1945
Das ehemalige Hamelner Zuchthaus hat eine sehr wechselhafte Geschichte. 1827 war es als königliche Strafanstalt gebaut und danach mehrfach erweitert worden. 1935 wurde es auf Anordnung des Reichsjustizministers zum Zuchthaus umgerüstet: insgesamt 96 Einzelzellen, jede nur sechs Quadratmeter klein sowie sechs Säle, mit Flächen zwischen 42 und 150 Quadratmetern. Die Kapazität war damals 400 bis maximal 500 Insassen und das Aufsichtspersonal mit 75 Beamten ausgelegt worden.

Im Jahr 1933 übernehmen die Nationalsozialisten im Zuchthaus die Kontrolle. Das NSDAP-Mitglied Stöhr wird Zuchthausleiter, ist aber vom NSDAP-Kreisleiter Krämer abhängig und auf dessen Befehle angewiesen. Von dieser Zeit an ist das Zuchthaus permanent überbelegt. Zu den Kriminellen kommen jetzt verstärkt auch politische Gefangene hinzu - zum größten Teil sind das Sozialdemokraten und Kommunisten. Unter diesen Inhaftierten aus politischen Gründen ist auch der Kommunist Emil Carlebach, der nach dem Ende seiner Schutzhaft sofort ohne jeglichen Gerichtsprozess in das Konzentrationslager Dachau eingewiesen wird und dessen Spur wir in Dachau weiter verfolgt haben.

Im Laufe des Zweiten Weltkrieges werden zusätzlich noch Kriegswirtschaftsverbrecher - Personen, die auf dem Schwarzmarkt tätig waren -, Homosexuelle und Fahnenflüchtige in das Zuchthaus eingeliefert. Außerdem kommen in den Jahren 1941 / 42 viele inhaftierte Juden hinzu.

Durch die dramatisch gestiegenen Belegungszahlen verschlechtern sich die Bedingungen im Zuchthaus ganz drastisch. Es werden bis zu zehn Personen in einer Einzelzelle zusammengepfercht. Im Herbst 1944 droht die Situation mehrere Male zu eskalieren: Frontnahe Zuchthäuser werden evakuiert und deren Häftlinge zum Teil in das bereits überfüllte Zuchthaus Hameln verlegt. Es ist heute schwer vorstellbar, welche Zustände dort geherrscht haben müssen, als Anfang 1945 das auf maximal 500 Personen ausgelegte Gebäude 1500 Häftlinge zu verkraften hat.

Es fehlt an allem. Es gibt keine Ordnung mehr und von der Achtung der Menschenwürde kann keine Rede mehr sein. So verwundert es nicht, dass im Zeitraum vom 1. September 1939 bis 31. August 1945 offiziell 305 Todesfälle registriert werden. 172 von diesen 305 Toten sterben im Frühjahr des Jahres 1945, als sich kurz vor Ende des Krieges die Zustände und die Versorgung immer weiter verschlechtern. Als Todesursachen werden überwiegend Herzkrankheiten angegeben.
Panik unter den Häftlingen
Am 5. April 1945 sprengen die Nazis die beiden Weserbrücken, denn die US-Amerikaner sind vor den Toren der Stadt Hameln angekommen. Unter den Häftlingen bricht eine Panik aus. Die SS will das Zuchthaus räumen und die Inhaftierten in das "Außenlager" Hecht bei Eschershausen bringen. Der Zuchthausgefangene Hans von Bielefeld, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hatte und ohne einen ordentlichen Prozess in das Zuchthaus verlegt worden war, beschreibt die damalige Situation so:

"Früh morgens (Donnerstag, 5. April 1945) höre ich ein Stimmengewirr aus dem Innenhof. Ein Wachmann kommt in meine Zelle und brüllt mich an: ,Alles raus ! Decke mitnehmen ! Im Innenhof sammeln !' An jedem Zelleneingang derselbe Befehl: ,Los, Tempo ! Beeilung ! ' Im Osthof des Zuchthauses stehen 800 Mann, die restlichen 700 sollen im Zuchthaus bleiben, vor Kälte zitternd und nur mit Lumpen bekleidet und in sechs Blocks aufgeteilt. Der Hauptwachmeister instruiert seine unschlüssig herumlaufenden Untergebenen. Dann dreht er sich um, und ruft zu uns: ,Herhören ! Das Zuchthaus Hameln wird evakuiert ! Wir marschieren in geschlossener Abteilung nach Eschershausen. Verpflegung gibt es unterwegs ! Wer einen Fluchtversuch unternehmen sollte, wird sofort erschossen !' Während die Wachmannschaften eingeteilt werden, fängt es langsam an, zu schneien. Einige Blöcke setzen sich in Bewegung. Nur wir stehen noch auf dem Osthof. Der Hauptwachmeister kommt zu uns gelaufen und ruft: ,Los, schert euch auf die Zellen ! ' Dieser Befehl rettet uns, die wir hier bleiben dürfen, das Leben. Denn der Marsch nach Eschershausen ist ein Marsch in den Tod."
So weit der Berichtdes Gefangenen Hans von Bielefeld.

Hintergrund des Marsches scheint eine Anordnung des NSDAP-Kreisleiters Krämer für den Zuchthausleiter Stöhr am Morgen dieses Tages gewesen zu sein. Der erhält den Auftrag, eine Giftmenge zu besorgen, die ausreicht um 1500 Menschen zu töten. Es erweist sich aber als unmöglich, in so kurzer Zeit, eine solch große Menge an Gift zu beschaffen. Da sich am Tag zuvor Stöhr bereits dem Befehl Krämers verweigert hat, Häftlinge in den Wald zu führen und dort erschießen zu lassen, ist zu vermuten, dass er die Häftlinge auch deshalb auf den Marsch nach Eschershausen schickt, um sie vor dem unberechenbaren Kreisleiter Krämer zu schützen. Den schrecklichen Verlauf dieses als "Hamelner Todesmarsch" bekannt gewordenen Geschehens beschreibt der Holländer Schortinghuis, der seinerzeit als Kriegsgefangener im Zuchthaus Hameln einsaß, so:

"Bevor wir losgehen, bekommen wir jeder noch zwei Scheiben Brot zu essen. Uns stellt sich die Frage, ob dies die Marschverpflegung sei. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung; 400 Knastbrüdern mit ihren Decken als Umhang über die Schultern gelegt. Wir können das Zuchthaus nur noch über den Garten des Anstaltsleiters Stöhr verlassen. Draußen sehen wir den Krieg, die Häuser sind verlassen und es sind nur noch vereinzelt Menschen zu sehen. So vergeht der Tag bis circa 12.00 Uhr, dann beginnt das Elend. Die Schwächeren von uns können schon nicht mehr weitergehen. Es ist aber auch kein Wunder, weil wir alle ausgehungert sind. Es scheint unmöglich, dass man mit so einem Körper 45 Kilometer laufen kann. Der Weg zum Außenlager des Zuchthauses ,Hecht' führt uns durch viele kleine Dörfer, unter anderem durch das Dorf Holzen. Die Bevölkerung am Wegrand reagiert unterschiedlich, manche schließen aus Furcht die Fenster, andere geben uns etwas zu essen oder Bekleidung, mit der Begründung, dass es sonst den Amerikanern in die Hände fällt. Diese Aktionen dulden die Wachmeister, jedoch geht das Gerücht um, dass sie den Befehl von der SS bekommen haben, jeden zu erschießen, der nicht weitergehen kann. Zwei von ihnen gehen am Ende der Kolonne und treiben die Schwachen mit Gewehrkolbenschlägen voran. Am frühen Nachmittag ist der Zug so weit auseinandergezogen, dass sein Ende ohne Bewachung ist. Dieses nutzen einige, um sich in den Scheunen der Dörfern vor den Wachleuten zu verstecken. Der Marsch geht in die Nacht hinein. Unser Trupp besteht aus Gefangenen aus zwölf Nationen. Einige Kenner der Umgebung ahnen, dass wir von Holzen nur noch fünf Kilometer entfernt sind. Im Tal bemerken wir einige Rufe und Lichtzeichen. Kriegshandlungen ? Endlich erreichen wir das Lager Hecht. Der Marsch ist beendet und wieder sind wir einen Tag näher an der Befreiung durch die Amerikaner. Am nächsten Morgen bietet das Lager im Tageslicht einen jämmerlichen Anblick, es gibt niedrige graue Baracken und dazwischen befindet sich ein Platz. So schlammig, dass man sich fragt, wie es in der Welt nur schäbig sein kann. Und es regnet immer weiter. Der Tag vergeht und es wird Abend. Wieder ein Tag Gewinn !" - Damit endet der Bericht des Holländers.

Die Angst, dass die SS alle Gefangenen doch noch erschießen wird, ist immer noch riesengroß. Erst der nächste Tag bringt endlich die Befreiung durch die US-Amerikaner. Nach Überprüfung der Sachlage bringen die Befreier die kriminellen Gefangenen überwiegend in das Gefängnis von Celle, die von den Nazis aus politischen Gründen Inhaftierten werden nach einer gründlichen medizinischen Untersuchung endlich wieder in die Freiheit entlassen. Das Schicksal der Zuchthausbeamten ist im Einzelnen nicht zu den Akten gelegt worden und meist nicht rekonstruierbar.

Auf dem langen Todesmarsch von Hameln nach Eschershausen sind dort von 420 Häftlingen 379 angekommen und von diesen Überlebenden starben noch 55 in den Folgewochen. Nach dem Kriege werden im Hamelner Zuchthaus von der englischen Besatzungsmacht Hinrichtungen vorgenommen, so wird auch der Kommandant des Konzentrationslagers Bergen-Belsen hier aufgehängt.
Knastpartys im Keller
Heute ist das ehemalige Zuchthaus Hameln das Vier-Sterne-Hotel "Stadt Hameln". Das Gelände und die Gebäude des Zuchthauses wurden im Jahr 1993 für einen symbolischen Wert von einer Mark verkauft und anschließend umgebaut. Da jedoch große Teile unter Denkmalschutz stehen, umgibt den Hotelkomplex heute noch das "Flair" der damaligen Zeit. Deshalb hat sich die Hotelleitung auch etwas ganz Besonderes für ihre Gäste überlegt: Diese können in den umgebauten Kellern des Hauses eine Knastparty feiern. Ob dies makaber ist angesichts des großen Leids, das sich in diesen Mauern zugetragen hat - oder die positive Umgestaltung eines geschichtsträchtigen grausigen Ortes in eine Stätte der Freude und Ausgelassenheit - das müssen die Hotelgäste für sich entscheiden. Torge Carnehl, Jan Gola, Herwig Schulze und Daniel Strehle (SchülerInnen der Klasse 10c des Victoria-Luise-Gymnasiums in Hameln im Rahmen des Projektes "Zeitung in der Schule")

in: Frankfurter Rundschau, 28.02.2001

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