Der ungekündigte Bund

40 Jahre jüdisch-christlicher Dialog beim Deutschen Evangelischen Kirchentag

von Harald Uhl

Der jüdisch-christliche Dialog ist bereits bei der Gründung des Deutschen Evangelischen Kirchentages als Aufgabe erkannt worden. Pfarrer Adolf Freudenberg (1894-1977), als erster Sekretär der Flüchtlingskommission des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf 1942-1947 einer der frühen Warner vor den Verbrechen des Holocaust und Retter vieler jüdischer Flüchtlinge, hatte für die Evangelische Woche in Hannover im Juli 1949 mit nachdrücklicher Unterstützung des Kirchentagsgründers Reinold von Thadden-Trieglaff (1891-1976) eine Resolution vorbereitet. In ihr wird vor neuem Antisemitismus gewarnt und zur Buße gerufen. Zeitknappheit hat es nicht zur öffentlichen Annahme dieser Resolution in Hannover kommen lassen, wo der Deutsche Evangelische Kirchentag als "Einrichtung in Permanenz" proklamiert wurde. Dieses frühe, vom langjährigen Studienleiter des Kirchentages Friedebert Lorenz (1910-1997) und dem Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen, Dietrich Goldschmidt (1914-1998), dokumentierte Dialogzeugnis bleibt aber wegen seiner politischen und theologischen Weitsicht bemerkenswert. So wird bereits 1949 vor neuem Antisemitismus gewarnt - es gab kaum jüdische Überlebende in Deutschland, der neu gegründete Staat Israel kämpfte um seine Existenz -, wird auf den ungekündigten Bund Gottes mit Israel verwiesen, während das Wort des Reichsbruderrates vom April 1948 und das "Wort zur Schuld an Israel" der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin-Weißensee vom 27. April 1950 zwar von Schuld und Gericht, nicht aber von der Gemeinschaft des Glaubens mit Israel sprechen. Juden gebührt Begegnung im brüderlichen Geist, Wiedergutmachung, Achtung und Hilfe. Abschließend heißt es aber im Synodalwort: " Wir bitten den Gott der Barmherzigkeit, dass er den Tag der Vollendung heraufführe, an dem wir mit dem geretteten Israel den Sieg Jesu Christi rühmen werden", mit den zu Jesus Christus bekehrten Juden, ist wohl gemeint. Es sollte, wie zu zeigen wird, 50 Jahre dauern, bis die theologischen Konsequenzen aus dem ungekündigten Bund mit der Absage an jede Form der Judenmission - wieder auf dem Kirchentag! - Verständnis und breite, noch immer nicht uneingeschränkte Zustimmung finden konnten.

Neue Traditionen enststehen

Es hat dann aber auch noch zehn Jahre gedauert, bis der jüdisch-christliche Dialog einen festen Platz im Programm des Kirchentages erhielt. Das zunehmende Interesse am Staat Israel, Prominenten- und Studentenbesuche dorthin , aber auch Reaktion auf eine (erste) Welle von Synagogen- und Friedhofsschändungen veranlassten das Kirchentagspräsidium unter Leitung von Reinold von Thadden-Trieglaff dazu, für den Kirchentag 1959 in München zwei große Vortragsveranstaltungen "Wir Christen und die Juden" mit dem Göttinger Alttestamentler Walther Zimmerli und "Wir Deutsche und die Juden" mit dem von Bonn nach Berlin übersiedelten Sytematiker Helmut Gollwitzer einzuplanen. Diese Veranstaltungen fanden ein derart großes Interesse, dass die Einrichtung einer "Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag" beschlossen wurde. Sie besteht bis heute.

Der charismatische theologische Mentor der Gründungsphase des Kirchentages 1950-1961, Pastor Heinrich Giesen (1910-1972), Pfarrer Adolf Freudenberg und Professor Helmut Gollwitzer (1908-1993) entwickelten ein erstes Konzept und konnten als Gründungsmitglieder für die neue Arbeitsgemeinschaft u.a. den Düsseldorfer Rabbiner Robert Raphael Geis (1906-1972), Ernst Ludwig Ehrlich (Zürich/ Basel), Eva Reichmann (London) und Schalom Ben-Chorin (München 1913-Jerusalem 1998), den Berliner Bildungsforscher Dietrich Goldschmidt und den Leiter des 1960 gegründeten Instituts Kirche und Judentum an der Kirchlichen Hochschule Berlin, Günther Harder (1902-1978), als Vorsitzenden den damals in Hamburg lehrende Alttestamentler Hans Joachim Kraus gewinnen. So konnte die Arbeitsgemeinschaft auf dem Berliner Kirchentag 1961 erstmals mit einem selbstverantworteten Programm mitwirken. Helmut Gollwitzer hatte die drei Bibelarbeiten übernommen, als erste jüdische Referenten auf einem Kirchentag wirkten zu den Themen "Gottes Weg zur Welt" Rabbiner Geis, "Wurzeln des Antisemitismus" Eva Reichmann mit. Im Vorbereitungsheft für diesen Kirchentag heißt es zu diesen Themen, unter Bezugnahme u.a. auf Martin Buber und Franz Rosenzweig: "In eben dieser Tatsache aber, dass der Weg Gottes zur Welt über Israel führt, liegt die ganze Fülle der Probleme beschlossen, die das Judentum der Kirche und der Welt aufgegeben hat und in jedem Augenblick neu stellt". Und als Fazit der theologischen und historischen Überlegungen erklärt dieser Vorbereitungstext 1961 und eine daraus formulierte Resolution: "Wir verwerfen die falsche, durch Jahrhunderte in der Kirche verbreitete Lehre, dass Gott das Volk der Juden verworfen habe, und stellen uns neu auf den Grund des apostolischen Wortes: Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor ersehen hat (Römer 11,2). Eine neue Begegnung mit dem von Gott erwählten Volk wird die Einsicht bestätigen oder neu erwecken, dass Juden und Christen gemeinsam aus der Treue Gottes leben, dass sie ihn preisen und ihm im Licht der biblischen Hoffnung überall unter den Menschen dienen."

Theologie und Politik

Damit war die Überzeugung vom "ungekündigten Bund" zur Basis des jüdisch-christlichen Dialogs weit über den Evangelischen Kirchentag hinaus geworden, wie sich in einer Fülle von Publikationen in der Folge herausstellte. Auch die Kirchentage in der DDR bemühten sich - nach dem Berliner Mauerbau 1961 auf eigene Kräfte angewiesen - in der selbständigen Entwicklung bis 1989, diese Grundüberzeugung weiter zu vermitteln. Eine theologische Weiterentwicklung stellte die These vom "gespaltenen Gottesvolk" dar, unter welchem Titel die Texte der Arbeitsgemeinschaft von den Kirchentagen 1963 und 1965 veröffentlicht wurden. Der Kirchentag 1967 in Hannover - ab 1964 hatte Richard von Weizsäcker, der spätere deutsche Bundespräsident, die Präsidentschaft für den Kirchentag übernommen - fand unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg statt und brachte die Hinwendung zu aktuellen politischen Fragen. Robert Raphael Geis formulierte dazu: "Auf den vorhergehenden Kirchentagen waren Christen und Juden im Gespräch miteinander, in einem Religionsgespräch nach vielen Jahrhunderten verhängnisvollen Schweigens. Jetzt sind Christentum und Judentum endlich gemeinsam im Gespräch mit der Welt...". Dieses Gespräch mit der Welt hat sich als eine dauerhafte, häufig besonders spannungsvolle Aufgabe für den Dialog herausgestellt.

Das ökumenische Pfingsttreffen in Augsburg 1971, gemeinsam von Evangelischem Kirchentag und Katholikentag getragen (erst 2003 wird es, in Berlin, eine Wiederholung geben!) machte deutlich, wie intensiv katholische Theologen und Laien inzwischen den jüdisch-christlichen Dialog aufgenommen hatten. In einer Resolution wurde der ökumenische Synergieeffekt in weit vorauseilenden Formulierungen deutlich, wenn es u.a. hieß: "Ökumenische Begegnungen ohne Beteiligung von Juden sind unvollständig, weil christlicher Glaube sich ohne die jüdische Wurzel falsch - weil unbiblisch - entwickelt." Und weiter hieß es kurz und präzis: "Christliches Zeugnis findet Ausdruck in dem gemeinsamen praktischen Eintreten von Juden und Christen für mehr Gerechtigkeit, mehr Menschenwürde im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Judenmission widerspricht diesem biblischen Auftrag."

Lehrhaus Judentum für Christen

Mit einer doppelten, für den gesamten Kirchentag wirksamen Innovation trat die Abeitsgemeinschaft auf dem Kirchentag in Düsseldorf 1973 in Erscheinung: Eine der regulären Bibelarbeiten wurde als Dialog-Bibelarbeit zwischen Edna Brocke (inzwischen Leiterin der Gedächtnis- und Bildungsarbeit der Alten Synagoge in Essen) und dem Berliner evangelischen Theologen Gerhard Bauer (1928-1986) durchgeführt. Edna Brocke war damit die erste Frau, die auf einem Kirchentag eine Bibelarbeit hielt (erst ab 1979 wurde die Mitwirkung von Theologinnen dafür selbstverständlich) - und Dialog Bibelarbeiten gehören seitdem, nicht nur im jüdisch-christlichen Gespräch, zum regelmäßigen Programmangebot von Kirchentagen. Zwei Jahre später hielt erstmals ein Rabbiner, Nathan Peter Levinson (geboren 1921 in Berlin), die Predigt in einem Eröffnungsgottesdienst. Bei dieser Mitwirkung in Form der biblischen Wortauslegung ist es bis heute in Gottesdiensten geblieben: Auch sehr intensive und gründliche Überlegungen innerhalb der Arbeitsgemeinschaft zur Entwicklung jüdisch-christlicher Gottesdienstformen haben zu keinem anderen Ergebnis geführt, bisher.

Auf dem Nürnberger Kirchentag 1979 - der Veranstaltungsort galt als besondere Herausforderung - wurde die theologische Entwicklung deutlich, die der Dialog genommen hatte. Die Berliner Hochschullehrer Peter von Osten-Sacken und Friedrich Wilhelm Marquardt stellten in großen Entwürfen neue Einsichten zum Verständnis des jüdischen Gesetzes und - aus der Finsternis von Auschwitz - einer Christologie ohne Leugnung des jüdischen Erbes zur Diskussion, der Heidelberger Alttestamentler Rolf Rendtorff öffnete neue Einsichten in die Hebräische Bibel und das jüdische Schriftverständnis, der Basler Kirchenhistoriker Ekkehard Stegemann zeichnete die Trennungslinien zwischen Juden- und Heidenchristen in der frühen Kirche auf, der Neuendettelsauer Neutestamentler Wolfgang Stegemann löste antijudaistische Schichten in den frühen christlichen Texten auf - Einsichten, die entscheidende Veränderungen traditioneller theologischer Positionen ermöglicht haben. Die bis heute stattfindenden, regelmäßigen Vorbereitungstagungen der Arbeitsgemeinschaft, überwiegend in der Evangelischen Akademie Arnoldshain im hessischen Taunus, deren Direktor Martin Stöhr als behutsamer, sachkundiger Moderator und organisatorischer Geschäftsführer für die sonst eher spontan agierende Arbeitsgemeinschaft wirkte, hatten zu dieser Vertiefung der theologischen Einsichten Wesentliches beigetragen. Eberhard Bethge, Freund, Biograf und Herausgeber der Schriften Dietrich Bonhoeffers, brachte Erfahrungen der Bekennenden Kirche und des Kirchenkampfes ein. An die Seite der jüdischen Gründungsmütter und -väter traten Rabbiner Nathan Peter Levinson, Pnina Nave-Levinson (Berlin 1921-Jerusalem 1998 ), die israelische Historikerin und Theologin Edna Brocke, Rabbiner Albert Friedlander (geboren 1927 in Berlin), Schüler, Biograf und Interpret des letzten Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Rabbinerverbandes vor dem Holocaust Leo Baeck (Lissa 1873-London 1952) und in London am Leo-Baeck-Institut lehrend und der durch seine popularisierenden Darstellungen jüdischen Glaubens nicht unumstrittene Pinchas Lapide (Wien 1922-Frankfurt/ Main 1997). Die musikalischen Beiträge von Dany Bober und Daniel Kempin öffneten vor allem den jüngeren Kirchentagsteilnehmern emotionale Zugänge zur jüdischen Frömmigkeit. Nicht nur das erstmals breite und positive publizistische Echo auf den jüdisch-christlichen Dialog im Rahmen des Nürnberger Kirchentages, sondern vor allem die wirkungsvollen theologischen Anstöße bewirkten, dass diese Arbeitsgemeinschaft alle organisatorischen Strukturveränderungen des Kirchentages in einer einzigartigen Autonomie überstanden hat: Seit 40 Jahren ist sie die einzige Arbeitsgruppe, die sich unverändert einem Thema widmet und deren Mitglieder durch Selbstkooptation ernannt werden.

Eine weitere Innovation entwickelte die Arbeitsgemeinschaft aus dem Erfordernis, den Großveranstaltungen der Kirchentage in den 80er und 90er Jahren mit ihren jeweils über 100.000 Dauerteilnehmern kleinere, gesprächsfähigere Veranstaltungsformen an die Seite zu stellen. Aus den "Grundkursen über das Judentum" 1981 entstand ab dem Kirchentag in Frankfurt/ Main 1987 das "Lehrhaus Judentum für Christen", eine bewusste Anlehnung an das Erbe des "Freien Jüdischen Lehrhauses" in Frankfurt 1920-1927, zu dessen Gründern und bekanntesten Lehrern Franz Rosenzweig und Martin Buber gehört hatten. Unter der kompetenten und umsichtigen Leitung des badischen Religionspädagogen Albrecht Lohrbächer hat sich das Lehrhaus zu einem unverzichtbaren Programmangebot der Arbeitsgemeinschaft entwickelt.

Ulrich Trinks: Impulse gegen geistigen und räumlichen Provinzialismus

Ulrich Trinks ist Ende der 60er Jahre zur Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen und zum Kirchentag gestoßen, angeregt durch den Wiener evangelischen Systematiker Wilhelm Dantine (1911-1981), der bereits an der Gründung der Arbeitsgemeinschaft 1961 in Berlin beteiligt war. Da Ulrich Trinks 1968 bis zu seinem Ruhestand 1993 die Koordinierung der österreichischen Teilnahme an den Deutschen Kirchentagen vom Wiener lutherischen Superintendenten Georg Traar (1899-1980) übernommen hatte, wurde er - bekanntlich gebürtiger Braunschweiger - für 25 Jahre zum ständigen Repräsentanten Österreichs in den internationalen Gremien des Kirchentages, bis heute zu einem ökumenischen und kulturellen Mittler für die Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen. 1969 hat er erstmals an einem Kirchentag, dem durch heftige politische und theologische Kontroversen gekennzeichneten Kirchentag in Stuttgart teilgenommen. (...)

Bemerkenswerte Beispiele konnte Ulrich Trinks vorstellen. Auf dem Ruhrgebietskirchentag 1991 moderierte er eine bewegende Gedenkveranstaltung für Arnold Schönberg in der Alten Synagoge Essen, auf dem Kirchentag in Leipzig 1997 leitete er Informationsveranstaltungen über das Judentum in der Slowakei und in der Ukraine: Exemplarische Beiträge für eine europäische Erweiterung, eine kulturelle "Globalisierung" des jüdisch-christlichen Dialogs, ohne die eine theologische und historische Provinzialisierung ihren Lauf nähme.

Gegen eine derartige Provinzialisierung richtet sich auch der zweite Aspekt des Engagements von Ulrich Trinks. Mit für manche Teilnehmer überraschender Konsequenz tritt er für die Beachtung der ökumenischen Weite des jüdisch-christlichen Dialogs ein, in den internationalen Gremien des Dialogs, bei ökumenischen Kirchenkonferenzen und in der Arbeitsgemeinschaft selbst. Er führt damit eine Tradition weiter, die, wie eingangs gezeigt wurde, auf Adolf Freudenberg und die Gründungsinitiative zurück reicht, seither aber in den Hintergrund getreten ist. Wenn es z.B. bei der Zweiten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Graz 1997 gelungen ist, dem jüdisch-christlichen Dialog im Programm und in den Schlusserklärungen einen bemerkenswerten Platz einzuräumen, ist dies nicht zuletzt dem anhaltenden Drängen von Ulrich Trinks und Johannes Dantine zu verdanken. Am deutlichsten wird dies im "Hintergrundmaterial zu den Handlungsempfehlungen", wo es u.a. heißt: "Jesus von Nazareth, den wir als Christus bekennen, wurde als Jude geboren und lebte als Mensch in seinem jüdischen Glauben. Als Christus hat er uns Christinnen und Christen den Gott Israels geoffenbart, der seinem Volk die Bundestreue nie aufgekündigt hat... Dies alles erklärt, dass das Christentum im Judentum verwurzelt ist (Römer 11, 17 f.)...". Und in den Handlungsempfehlungen der Grazer Kirchenversammlung wird vorgeschlagen, "dem Beispiel einiger Kirchen in Italien und Deutschland zu folgen und einen Tag zu bestimmen, der dem Dialog mit dem Judentum und der Begegnung mit dem lebendigen jüdischen Glauben gewidmet ist". Die Generalsynode der Evangelische Kirche A.B. und H.B. in Österreich hat dafür in ihrer Erklärung 1998 den 17. Januar, den Tag vor dem Beginn der Weltgebetswoche für die Einheit der Christen, vorgeschlagen.

Wenig Raum blieb dagegen für das Gespräch mit dem Judentum auf der achten

Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare 1998. Zwar besteht in der Genfer Zentrale im Rahmen des interreligiösen Dialogs eine traditionsreiche jüdisch-christliche Abteilung unter der zielstrebigen Leitung von Dr. Hans Ucko, doch hat der Konflikt zwischen dem Staat Israel, Syrien, dem Libanon und den Palästinensern, die z.T. mit christlichen Traditionen verbunden sind, einerseits, die unreflektierte Übernahme alttestamentlicher Texte in die Befreiungstheologie Afrikas und Lateinamerikas andererseits bisher wirksame Initiativen des Ökumenischen Rates für eine tiefere Dimension des Dialogs mit dem zeitgenössischen Judentum verhindert. Daran hat auch der Vorstoß der Aktion "Studium in Israel", u.a. durch die beiden Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Martin Stöhr und den Wiener evangelischen Theologen Roland Ritter-Werneck nichts geändert. Die Gruppe knüpfte an die ökumenischen Erlassjahr-Initiativen an und versuchte in einer fundierten theologischen Ausarbeitung, die biblische Begründung des Jobeljahres in der Hebräischen Bibel für die Ökumene fruchtbar zu machen. Diese Verbindung ist zwar inzwischen in der kirchlichen Praxis in Europa und in den USA durchgängig anerkannt, für die offizielle ökumenische Bewegung - ebenso wie für den Vatikan - bleibt aber das Gespräch mit dem Judentum ein vernachlässigtes Randthema. Umso wichtiger war es für die Arbeitsgemeinschaft beim Kirchentag, dass Ulrich Trinks die Vorbereitungen und die Ergebnisse der Grazer Ökumenischen Versammlung und die Bemühungen um eine Intensivierung des ökumenischen Dialogs in die Arnoldshainer Arbeitstagungen eingebracht und dort zur Diskussion gestellt hat. Damit wird eine Gründungserbe als Herausforderung lebendig gehalten, das den ökumenischen Auftrag der Einheit und Erneuerung der Kirchen aus seinen biblischen Wurzeln, aus der Wurzel, die dich trägt, dauerhaft begründet.

Nicht abgeschlossene Diskussionen

Es mag hier nur angedeutet werden, dass die langjährige Mitwirkung von Ulrich Trinks in der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag für ihn auch manche Enttäuschungen bedeutete, Grenzen der Dialogmöglichkeiten aufzeigte. Eine dieser Grenzen wurde bei den Bemühungen um gemeinsame liturgische Feiern, jüdisch-christliche "Gottesdienste" deutlich - die Aufgabe ist unvollendet geblieben. Eine andere Begrenzung konnte in den letzten Jahren überwunden werden. Der Generationenwechsel wurde nach dem Abschied von der Gründergeneration weitgehend bewältigt. Der Frankfurter Pädagogikprofessor Micha Brumlik, der Bochumer Neutestamentler Klaus Wengst übernahmen gemeinsam mit anderen jüdischen und christlichen Mitgliedern aus der jüngeren Generation die Leitung der Arbeitsgemeinschaft. Unbewältigt und mit schmerzhaften persönlichen Verletzungen verbunden blieb das Problem der Solidarität mit dem Staat Israel. Der Konflikt wurde durch die Raketenangriffe des Irak auf Israel im Rahmen des zweiten Golfkrieges 1990/ 1991 offenkundig und zu einer schwierigen Belastungsprobe. Viele christliche Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft fühlten sich der Friedensbewegung und der Parole "Kein Blut für Öl" verbunden, die jüdischen Mitglieder erkannten die existentielle Bedrohung der israelischen Bevölkerung. Auf dem Ruhrgebietskirchentag 1991 und im Vorfeld kam es zu heftigen Kontroversen, die u.a. zum Rücktritt des gesamten damaligen Vorstands der Arbeitsgemeinschaft und seiner Neubildung führten. Auch dieser Konflikt blieb letztlich ungelöst, weil dahinter die Frage nach der theologischen, gesellschaftlichen und politischen Gesamtkompetenz der Arbeitsgemeinschaft steht - eine Frage, die wohl nur von Fall zu Fall, von Thema zu Thema, von Herausforderung zu Herausforderung, und mit viel gewachsenem gegenseitigen Vertrauen, in biblischer Geschwisterlichkeit, gelöst werden kann. Dazu hat auch Ulrich Trinks in seiner gruppenunabhängigen und undogmatischen Position geraten, moderierend hingewirkt.

Nein zur Judenmission

Der jüngste Konflikt wurde wiederum von außen herangetragen, war aber theologischer Natur. Die Kirchentagsleitung hatte für den Kirchentag in Stuttgart 1999 eine kirchliche Gruppe für den Markt der Möglichkeiten zugelassen, die Judenmission zumindest indirekt fördert. Nach vorhergehenden Protesten und Gesprächen kündigte daraufhin die Kultusgemeinde Stuttgart ihre Mitarbeit am Kirchentag auf, die jüdischen Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft erklärten sich damit solidarisch. In krisenhaften Diskussionen wurde der Kompromiß vereinbart, die Großveranstaltungen der Arbeitsgemeinschaft auf einen Tag und das Thema "Nein zur Judenmission" zu konzentrieren, das Lehrhaus aber im Programm von Stuttgart für alle drei Tage zu belassen; ein Kompromiß, der dem Entscheidungsdruck entsprach, aber nicht alle Aspekte der komplexen Situation gleichermaßen berücksichtigen konnte. In einer gründlich argumentierenden Resolution wurde jeder Form von Judenmission die Absage erteilt - eine Überzeugung, die frühere kirchliche Äußerungen aufnahm, zuletzt der bereits erwähnten Erklärung der Evangelischen Generalsynode in Österreich vom November 1998, wo es heißt: "Da der Bund Gottes mit seinem Volk Israel aus lauter Gnade bis ans Ende der Zeit besteht, ist Mission unter den Juden theologisch nicht gerechtfertigt und als kirchliches Programm abzulehnen."

Der theologische Durchbruch steht noch aus

Damit sind wir bei den kirchlichen und theologischen Wechselwirkungen angelangt, die von der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag ausgelöst wurden. Um mit einer Einschränkung zu beginnen: Zwar ist heute jener paradoxe Antisemitismus in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel nicht mehr denkbar, den man u.a. bei dem sonst so hochgeschätzten, während der NS-Zeit auch in Wien an der Evangelisch-Theologischen Fakultät lehrenden Gerhard Kittel nur mit tiefem Erschrecken nachlesen kann. Aber aus einer historisierenden, abgrenzenden und apologetischen Engführung sind weite Bereiche der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, trotz aller Erkenntnisse des jüdisch-christlichen Dialogs nicht herausgekommen. Umso wichtiger bleibt die geduldige theologische Arbeit auf Kirchentagen, Katholikentagen, in der Religionspädagogik, auf Evangelischen und Katholischen Akademien - der theologische Durchbruch steht noch aus. Dazu beizutragen bemüht sich die führende evangelisch-theologische Dialogzeitschrift im deutschsprachigen Raum "Kirche und Israel", die von Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft herausgegeben wird.

In den evangelischen Kirchen Deutschlands und Österreichs hat sich das Verständnis vom ungekündigten Bund und der bleibenden Erwählung Israels weitgehend durchgesetzt. Auf Anregung Professor Heinz Kremers (Duisburg), bis zu seinem Tod 1988 Mitglied der Arbeitsgemeinschaft beim Kirchentag, hat eine Kommission der EKD unter Vorsitz von Rolf Rendtorff und Mitwirkung zahlreicher Kirchentagsmitarbeiter 1975 die Studie "Christen und Juden" herausgegeben, die entscheidende Erkenntnisse für das neue Verständnis brachte. Unter wesentlicher Beteiligung von Heinz Kremers und Eberhard Bethge, aber auch von Edna Brocke und des Wuppertaler Systematikers Bertold Klappert wurde im Anschluß daran für die Evangelische Kirche im Rheinland das Dokument "Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden" vorbereitet, das von der Landessynode 1980 beschlossen wurde. Es wurde zum Vorbild für mehrere ähnliche Entschließungen anderer Landeskirchen, wie insbesondere für einen neuen Grundartikel der Ordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau 1991. In einer zweiten EKD-Studie von 1991 - auch sie unter maßgeblicher Mitwirkung und unter Aufgreifen von Erfahrungen der Arbeitsgemeinschaft beim Kirchentag entstanden - wird das Verhältnis zu Israel auch unter aktuellen Gesichtspunkten zusammengefasst: "Israel ist von der Kirche in dreifacher Weise wahrzunehmen: als Wurzel, aus der christlicher Glaube gewachsen ist; als Nachbar seit den Anfängen christlicher Gemeinden; als zeitgenössisches Volk im Staat Israel und in der Diaspora. Dieses vielstimmig und vielgestaltige Israel ist und bleibt Gottes erwähltes Volk. Seine Existenz enthält Anfragen an die christliche Kirche und ihre Theologie."

In diese Tradition hat sich die Generalsynode der Evangelischen Kirche A.B. und H.B. mit ihrer Erklärung "Zeit zur Umkehr - Die Evangelischen Kirchen in Österreich und die Juden" vom 4. November 1998 gestellt. Sie betont darin Schuld der Christen in ihrem Versagen gegenüber der Verfolgung und Ermordung von Juden in unserem Jahrhundert und bekennt theologische Irrwege, auch der Reformation. Ausdrücklich wird erklärt: "Wir bekennen uns zur bleibenden Erwählung Israels als Gottes Volk. Diesen Bund hat Gott nicht gekündigt (Martin Buber). Er besteht bis ans Ende der Zeit". Aufgerufen wird zu einem gemeinsamen Weg in eine neue Zukunft. Unverkennbar sind in diese Erklärung die ökumenischen und die jahrzehntelangen Kirchentagserfahrungen von Ulrich Trinks eingeflossen, der, selbst kein Mitglied dieser synodalen Gremien, mit seinem Rat den Verfassern zur Verfügung stand.

Der gemeinsame Weg von Juden und Christen, das gegenseitige Verständnis, die Besinnung auf gemeinsame Aufgaben und das Vertrauen auf gemeinsame Verheißungen haben erst begonnen. Die Evangelische Kirche im Rheinland hat das gemeinsame Ziel in der Ergänzung ihres Grundartikels von 1996 wie folgt formuliert: "Die Kirche bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde."

Harald Uhl, Dr. jur., Dr. rer. pol., Ministerialrat i.R., geboren 1934 in Wien, seit 1965 im kirchlichen und staatlichen Dienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1977-1981 Studienleiter des Deutschen Evangelischen Kirchentages.

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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