Mit weitem Raum hat Gott geantwortet

Bibelarbeit über Psalm 118 auf dem Kirchentag 2001 in Frankfurt/M

von Jürgen Ebach

Psalm 118 in der "Kirchentagsübersetzung"
  1. Dankt Adonaj: So ist es gut
    Gottes Freundschaft ist von Dauer.
  2. Israel soll sagen:
    Gottes Freundschaft ist von Dauer.
  3. Das Haus Aaron soll sagen:
    Gottes Freundschaft ist von Dauer.
  4. Die Adonaj Ergebenen sollen sagen: Gottes Freundschaft ist von Dauer.
  5. Aus der Enge rief ich Gott, mit weitem Raum hat Jah geantwortet.
  6. Adonaj ist für mich. Ich fürchte mich nicht. Was kann ein Mensch mir tun?!
  7. Adonaj ist für mich, bei denen, die mir helfen. So kann ich ansehen, die mich hassen.
  8. Besser sich bergen bei Adonaj, als sich bei Menschen zu sichern.
  9. Besser sich bergen bei Adonaj, als sich bei Großen zu sichern.
  10. Alle Völker umringten mich. Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen;
  11. sie umkreisten, ja umringten mich.
    Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen;
  12. sie umkreisten mich wie Bienen, verschwelen wie Feuer.
    Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen.
  13. Heftig hast du mich gestoßen. Aber Adonaj half mir.
  14. Meine Kraft und mein Gesang ist Jah. Jah wurde mir zur Befreiung.
  15. Der Lärm von Jubel und Befreiung ist in den Zelten der Gerechten:
    Die starke Hand Adonajs - sie handelt mächtig.
  16. Die starke Hand Adonajs - sie ist erhoben.
    Die starke Hand Adonajs - sie handelt mächtig.
  17. Ich sterbe nicht, sondern lebe und erzähle die Taten Jahs.
  18. Hart hat Jah mich angefaßt, dem Tode hat Jah mich nicht übergeben.
  19. Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit. Ich will hineingehen und Jah danken.
  20. Dies ist das Tor zu Adonaj. Gerechte gehen hinein.
  21. Ich danke dir: Du hast mir geantwortet und wurdest mir zur Befreiung.
  22. Ein Stein, den die Bauleute für untauglich hielten, wurde zu einem tragenden Eckstein.
  23. Von Adonaj her geschah dies. Es ist wunderbar in unseren Augen.
  24. Dies ist der Tag, da Adonaj es getan. Wir wollen jubeln und uns daran freuen.
  25. Bitte, Adonaj, befreie doch. Bitte, Adonaj, laß es gelingen.
  26. Gesegnet, wer eintritt, mit dem Namen Adonaj. Wir segnen euch vom Tempel Adonajs her.
  27. Adonaj ist Gott und gibt uns Licht.
    Am Fest der Laubhütten laßt die Zweige reichen bis an die Hörner des Altars.
  28. Mein Gott bist Du. So danke ich dir. Mein Gott, ich erhebe Dich.
  29. Dankt Adonaj: So ist es gut. Gottes Freundschaft ist von Dauer.
1. David konnte die Psalmen verfassen, und was kann ich? Ich kann die Psalmen sagen.
Diesen ebenso bescheidenen wie selbstbewußten Satz sagte vor ungefähr 200 Jahren der chassidische Rabbi Uri aus Strzeliska in Galizien, der den Beinamen "der Seraf" trug, der brennende Engel. Rabbi Uri konnte diesen Satz verfassen, und was kann ich? Ich kann ihn sagen. Nun ist der 118. Psalm in der Bibel nicht (wie viele andere) in der Überschrift auf David zurückgeführt. Ein Davidpsalm aber ist der 31., dem die Kirchentagslosung entnommen ist, die auch im Psalm für unsere heutige Bibelarbeit anklingt. Die Frage, ob und wie weit sich diese Verfasserschaft historisch halten läßt, steht auf einem anderen Blatt; in der Tradition sind die Psalmen insgesamt mit David verbunden worden.

David konnte die Psalmen verfassen, und was kann ich? Ich kann die Psalmen sagen. Aber kann ich das so sagen, wie es der Rabbi Uri sagen konnte, wenn er sich die Worte Davids lieh und sie so auch zu seinen Worten machte?

Sie kennen, liebe Zuhörende, die Bibelausgaben, die allein das Neue Testament und die Psalmen enthalten, wie wenn diese zum Neuen Testament gehörten. Psalmen spielen eine große Rolle in unseren christlichen Gottesdiensten. Wir singen und sagen sie, wie wenn sie wie selbstverständlich christliche Worte wären. Für diesen Kirchentag haben wir zum ersten Mal einen besonderen Kirchentagspsalm ausgewählt, Psalm 126, der auf seine Weise die Kirchentagslosung zur Sprache bringt und der in vielfacher Weise zur liturgischen Gestaltung des Kirchentags gehören wird. Psalmen haben auch bei früheren Kirchentagen eine Rolle gespielt. Mehrfach waren sie Bibelarbeitstexte, zuletzt der große Schöpfungspsalm 104 in Hamburg und davor der 90. Psalm in Berlin. Nicht nur die Losung für diesen Frankfurter Kirchentag hat ihren biblischen Ort in Psalm 31, die Losung des Berliner Kirchentags ("Unsere Zeit in Gottes Händen") nahm auf ihre Weise einen anderen Vers desselben Psalms auf. Psalmen haben einen festen Ort in der christlichen Frömmigkeitspraxis. Ist das so selbstverständlich? Eine kleine Hinzufügung macht das Problem deutlicher: Israels Psalmen haben einen festen Ort in der christlichen Frömmigkeitspraxis. Und nun frage ich noch einmal: Ist das so selbstverständlich?

Menschen Israels konnten die Psalmen verfassen, und was kann ich? Ich kann die Psalmen sagen. Aber sind es dann die Psalmen Israels, die ich sage? Wenn der Rabbi Uri, wenn Jüdinnen und Juden in Gebeten und Gottesdiensten Psalmen sagen - wir werden noch sehen, welche besondere Bedeutung gerade der 118. Psalm dabei hat -, dann nehmen sie David und den anderen Psalmendichterinnen und -dichtern nichts weg. Im Gegenteil: Sie stellen sich in die lange Kette der jüdischen Beterinnen und Beter der Psalmen. Die Worte der Psalmen sind angereichert vom Loben und Danken der Kette der Generationen Israels. Sie sind abgewaschen von ihren Tränen und ausgeleuchtet von ihren Gedanken und Hoffnungen. Und so ist jede jüdische Beterin, jeder jüdische Beter und vor allem ihre Gemeinschaft die "gerettete Zunge" Davids und der anderen, die diese Psalmen zuerst beteten.

Beten heißt, Macht abgeben. Deshalb ist es gerade beim Gebet etwas ganz Richtiges, wenn wir uns Worte leihen, Worte, mit denen die, die vor uns waren und ohne die wir nicht wären, ihr Lob und ihren Dank, ihre Bitten und ihre Klagen vor Gott brachten. Wie selbstverständlich habe ich gerade eben "wir" gesagt. Aber eben dieses "wir" ist so selbstverständlich nicht. Wollen denn "wir" durch die Tore des Tempels gehen, wie es die Beterinnen und Beter in Psalm 118 tun wollen? Hat denn "uns" Gottes starker Arm aus Ägypten befreit? Die Erinnerung an den machtvollen Exodus aus dem Sklavenhaus klingt in der Mitte des Psalms an, ja der 118. Psalm ist geradezu lesbar als Vergegenwärtigung und Verwirklichung dieses Befreiungsgeschehens in Recht und Gerechtigkeit und im Fest. Feiern denn "wir" das Sukkotfest, das Laubhüttenfest, das am Ende des Psalms ins Bild kommt? Gehören denn "wir" zu Israel oder gar zum "Haus Aarons"? Das sind die beiden ersten Gruppen, die am Beginn des Psalms zu Lob, Dank und Bekenntnis aufgerufen werden. Sind denn "wir" es, die mit einem Vers des Psalms sagen können: "Alle Völker umringten mich"? Gehören wir denn nicht eher zu den Völkern, die die Beterinnen und Beter des Psalms umringten und umringen, deutlicher noch: zu denen, gegen die Israels Gott im jüdischen Gebet angerufen wurde und wird?

Die Frage, ob ich die Psalmen Israels sagen kann, wird zur konkreten Anfrage bei diesem Psalm, wenn ich nur wenige seiner Verse aus dem Allgemein-Vertrauten kirchlicher Gebetssprache in die konkreten Erfahrungen zurückzuführen versuche, die sich in seinen einzelnen Versen und Worten aussprechen. Gewiß stellt sich die Frage ganz grundsätzlich, ob und wie "wir" Worte und Texte des Alten Testaments sagen können, wenn wir sie als Worte und Texte der hebräischen Bibel wahrnehmen. Aber ich will diese Frage heute im Gegenüber zu unserem konkreten Bibelarbeitstext, zum 118. Psalm, stellen - sie Ihnen stellen und mir stellen.

Wäre die Antwort eindeutig, so wäre diese Ankündigung nichts als ein wohlfeil-rhetorischer "Einstieg" in die Interpretation, denn dann würde ich diesen Psalm entweder sagen (lesen, übersetzen, interpretieren, auf meine, unsere Gegenwart, auf diesen Kirchentag, seine Losung und seine Themen beziehen) - oder ich würde es lassen, weil ich es für einen Raub an Israel hielte. Aber die Antwort ist für mich alles andere als eindeutig. Sie darf jedoch auch nicht zweideutig werden. Denn gewiß keine Lösung wäre es, wenn wir als Christenmenschen die Psalmen Israels sagten, aber das mit einem inneren Vorbehalt täten, sozusagen mit einer beiseite genuschelten Entschuldigung, einem: "Eigentlich dürfte ich ja gar nicht, aber ..." wie wenn man beim kräftigen Zulangen am "Kalten Buffet" rasch noch etwas vom schlechten Gewissen und dem Hunger in der Welt murmelt oder so gerne einen schlechten, z. B. frauenfeindlichen Witz erzählen will, ohne aber die eigene Reputation aufs Spiel setzen zu wollen. Ich möchte Psalmen sagen (ich möchte sie lesen, übersetzen, interpretieren, auf meine, unsere Gegenwart, auf diesen Kirchentag, seine Losung und seine Themen beziehen), ich möchte das nicht mit einem halbherzigen "zwar, aber" tun, sondern mit einem von ganzem Herzen kommenden "Ja, und zwar so".

Aber das kann ja nicht einfach so beschlossen werden. Da bedarf es mehr als einer Reflexion. Und damit habe ich das Hauptthema dieser Bibelarbeit über den 118. Psalm benannt - ich bitte Sie um viel Geduld, denn im Zusammenhang dieser Reflexionen soll ja schließlich auch der Psalm selbst in seinen Worten und Themen zur Sprache kommen.
2. Die wahren Christen, deretwegen dieser Psalm auch in erster Linie gemacht ist.
"Das sind die wahren Christen, deretwegen dieser Psalm auch in erster Linie gemacht ist." Dieser Satz findet sich in einer Auslegung des 118. Psalms, die Martin Luther im Jahre 1530 in Coburg verfaßt hat, während in Augsburg der Reichstag begann, an dem Luther wegen der Reichsacht nicht teilnehmen durfte. Luther legt unter der (das erste Wort der lateinischen Fassung des Psalms aufnehmenden) Überschrift "Das schöne Confitemini" mit Ps 118 seinen ausdrücklichen Lieblingspsalm aus. Worte des 17. Verses (in Luthers Übersetzung: "Ich werde nicht sterben, sondern leben und des HERRN Worte verkündigen") hatte er sich an die Wand seines Zimmers in Coburg geschrieben. Mit den Worten dieses Psalms den Fürsten der Welt widerstehen zu können, ganz konkret "hier und jetzt" im Sommer 1530 - darum geht es in der Auslegung, und darin ist sie mutig, gewaltig, furchtlos und geradezu selbst furchteinflößend.

Mit dem Satz: "Das sind die wahren Christen, deretwegen dieser Psalm auch in erster Linie gemacht ist" erklärt Luther die im vierten Vers des Psalms genannte Gruppe derer, die (in seiner Übersetzung) "den HERRN fürchten". Für Luther ist es eine klare Tatsache, daß Christen nicht nur Davids Psalmen sagen können, sondern daß die Psalmen für Christen geschrieben wurden. Die Psalmen lassen sich nicht nur auf Christus hin auslegen; sie sind allein als von Christus handelnd recht verstehbar. Ein konkretes Beispiel aus Ps 118: "Tut mir auf die Tore der Gerechtigkeit, daß ich durch sie einziehe und dem HERRN danke." So übersetzt Luther Vers 19 und fragt, warum denn der Beter das sage, habe er doch schon zuvor so viel gedankt. Die Antwort ist für den Reformator klar: "Er will also sagen: ‚Ach, Herr Gott, ich möchte auch unter dem Haufen der Christen sein, wo man so ein Lied singen wird von den Werken und Wohltaten Christi; da müßte ich helfen dürfen beim Danken, Loben und Predigen! O, wie fröhlich wollte ich sein! Ach, wer tut mir die Tore auf und hilft mir da hinein, wo überhaupt erst das richtige, freie, fröhliche Danken und Loben anfängt?' "

Von diesem Verständnis her dreht sich die Ausgangsfrage um. Nicht, ob und wie wir als Christinnen und Christen Israels Psalmen sagen können, wird so nämlich zur Frage, sondern umgekehrt, wie denn schon David und (so Luther an dieser Stelle) die "lieben Väter des Alten Testaments" Psalmen sagen konnten. Sie konnten es (in Luthers Sicht) in prophetischer Vorschau auf den eigentlichen (christologischen und christlichen) Sinn der Psalmen, freilich: bei noch verschlossenen Toren, noch nicht richtig, frei und fröhlich.

Der Abgrund, der sich hier auftut, ist kaum zu überspringen oder zuzuschütten, und mit kleinen Korrekturen (wie der schamhaften Entfernung einiger allzu polemischer antijüdischer Ausfälle der Reformatoren) ist es schon gar nicht getan. Vielmehr stellt sich in aller Härte eine strikte Alternative. Folgen wir Luther, so hätten wir den Psalm nur verstanden, wenn wir exklusiv behaupteten, daß in ihm von Christus die Rede ist und jedes andere Verstehen allenfalls Vorstufen des Richtigen enthalten könne. Und dann müßten wir folgerichtig sagen: Jüdinnen und Juden, die diesen Psalm beten, ihm an den großen Festtagen einen besonderen Ort geben, beten da etwas, das sie nicht oder allenfalls nur ansatzweise verstehen. Und wenn wir eben das nicht behaupten wollen, dann können wir Luthers Auslegung des Psalms (letztlich des ganzen Alten Testaments) in ihrem Kern nicht folgen.

Es geht da nicht um einige den dramatischen Ereignissen des Jahres 1530 geschuldete Zuspitzungen; es geht um den Kern reformatorischen Glaubens. Luther hat sein grundlegendes Verstehen der Rechtfertigung, das Kernstück reformatorischer Theologie, an den Psalmen entdeckt. Die hebräische Grammatik der Psalmen, auch dieses Psalms, hat ihm, wie er selbst betont, den Schlüssel zum Verstehen der Gerechtigkeit Gottes gegeben. Kann ich - so dramatisch stellt sich mir die Frage - Israels Psalmen sagen, ohne Israel ein Verstehen der eigenen Psalmen abzusprechen, und kann ich dann gleichzeitig evangelischer Theologe sein?

Sie finden im Programmheft des Kirchentags auf den Seiten 20 und 21 den 118. Psalm in zwei Übersetzungen. Diese beiden Übersetzungen (die der Luther-Bibel und eine, die eine Gruppe von Exegetinnen und Exegeten für diesen Kirchentag erarbeitet hat) sind nicht nur Zeugnisse der Schwierigkeit jeden Übersetzens. Es geht um mehr als die irritierende oder auch reizvolle Wahrnehmung, daß es stets mehr als eine Verstehensmöglichkeit gibt und daß es daher nützlich ist, auch mehr als eine Verdeutschung ins Spiel zu bringen, wenn es um das Verstehen eines biblischen Textes geht. Darum geht es gewiß auch, aber die beiden Übersetzungen sind zugleich Zeugnisse eines grundsätzlich unterschiedlichen Wahrnehmens des Psalms. Zur Debatte steht letztlich die angedeutete Alternative selbst.

Die eine Leseweise wäre die: Der Psalm kann nur in seiner Deutung auf Christus hin richtig verstanden werden. Er läßt sich nicht nur als Christuszeugnis deuten, sondern er wurde bereits in seiner Entstehungszeit als Christuszeugnis verfaßt. So liest Luther den Psalm, eben das ist nicht nur das Ergebnis, sondern bereits die Voraussetzung seiner Lektüre und Interpretation.

Die andere Leseweise ließe sich so kennzeichnen: Der Psalm ist ein Gebet Israels, verstehbar im Zusammenhang der Erfahrungen Israels. Dieses Verstehen ist weder falsch, noch ist es eine bloße Vorstufe eines richtigen Verstehens. Wenn wir Israels Gebet in Lob und Dank, Bitte und Klage als Christenmenschen nachsprechen, bringen wir dabei auch unseren besonderen Zugang zum Gott Israels durch Christus ein. Eine solche christliche Lektüre des Psalms weist uns in die Bibel Israels hinein, statt uns aus ihr heraus zu führen. Wir lesen uns in das Alte Testament hinein. Damit wollen wir Israel weder enteignen noch sein Verstehen für ein minderes erklären. Und daher bedürfen gerade die Worte des Psalms große Aufmerksamkeit, in denen sich gerade nicht "unsere" Erfahrung, unsere Frömmigkeit, unsere Sprach- und Denkgewohnheiten ausdrücken. Der Verzicht auf eine Israel beraubende Aneignung muß sich auch in der Sprache ausdrücken. Eine solche Lektüre steht hinter dem Versuch der Kirchentagsübersetzung. Es dürfte deutlich geworden sein, daß es beim Übersetzen um mehr geht als darum, Wörter einer Sprache in Wörter einer anderen Sprache zu transformieren.

Ich habe vorhin einige Sätze aus Psalm 118 genannt, um damit deutlich zu machen, daß dieser Psalm nicht so selbstverständlich "uns" zu Adressatinnen und Adressaten hat. Ich will einiges noch einmal wiederholen: Wollen denn "wir" durch die Tore des Tempels gehen? Hat denn "uns" Gottes starker Arm aus Ägypten befreit? Feiern denn "wir" das Sukkotfest, das Fest der Laubhütten? Gehören denn "wir" zu Israel oder gar zum "Haus Aarons"? Sind denn "wir" es, die mit einem Vers des Psalms sagen können: "Alle Völker umringten mich"? Aber nun stelle ich mir vor, ich könnte diese Fragen an Luther selbst richten, und ich stelle mir vor (die vielleicht noch größere Imagination), Luther würde sich auf die Fragen einlassen und mich nicht sogleich in seine gerade in der Auslegung dieses Psalms besonders kräftigen Schimpfkanonaden über Papisten, Juden, Türken und Rottengeister einbeziehen. Würde er dann nicht gegen meine Zitate andere aus eben diesem Psalm stellen können, solche, die den Bezug auf Christus doch offenkundig machen? Steht nicht in Vers 22: "Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden"? Wird das Wort vom Eckstein nicht in Markus 12,10 (vgl. Matth 21,42) auf das Christusgeschehen bezogen, und steht nicht im Epheserbrief (2,20) ganz eindeutig, Christus sei dieser Eckstein aus Ps 118? Sind es nicht Worte aus Vers 25 des Psalms, eben das "Hosianna" und "Gelobt sei, der da kommt im Namen des HERRN", mit denen Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem begrüßt wurde (Mk 11,9)? Daß ich Luther widerspräche, würde er womöglich (wenngleich kaum gleichmütig) hinnehmen. Aber widerspräche ich nicht dem Neuen Testament, ja den Worten Jesu selbst und dazu den jüdischen Menschen, die Jesus beim Einzug in Jerusalem als den erkannt haben, von dem der Psalm spricht? Kann ich denn einen Christen mich nennen, wenn ich die Messianität Jesu Christi nicht als Kern meines Christseins anerkenne?

3. Wider die Alternative selbst
Soll das die schreckliche Folgerung sein, daß ich nur dann Christ sein kann, wenn ich jüdischen Menschen unterstelle, die Worte ihrer eigenen Schrift nicht oder allenfalls rudimentär zu verstehen? Muß ich Jüdinnen und Juden ins Unrecht setzen, ja diffamieren, um Christ sein zu können? Wenn das die Alternative wäre, wäre sie (schon zu Luthers Zeiten und erst recht nach all dem, was danach geschah) ausweglos. Also kommt alles darauf an, diese Alternative selbst zu überwinden. Das ist nicht leicht, denn auf beiden Seiten steht so viel auf dem Spiel. Aber wenn das nicht geht, geht nichts mehr. Denn dann gäbe es eine unüberbrückbare Kluft zwischen christlichem Glauben und menschlichem Anstand. Und deshalb kann es nicht zum Argument gegen solches Versuchen werden, daß es bisher noch viel mehr Fragen als klare Antworten gezeitigt hat. Es sind nicht mehr nur ganz wenige Theologinnen und Theologinnen, die so fragen, und erste wichtige Schritte sind gegangen. Aber erwarten Sie nicht von mir, mit fertigen Lösungen aufwarten zu können.

Ich versuche also, den Psalm zu sagen, ihn so zu sagen, daß er Israels Psalm bleibt. Ich will auf Israel hören, als Christ auf Israel hören. Und deshalb frage ich zuerst, ob und womöglich wie "wir" in diesem Psalm vorkommen. Man muß ja nicht die Hauptperson sein, um in einer Geschichte vorzukommen. Diese Frage führt an den Beginn des Psalms und mitten hinein in die Übersetzungsfragen, die - auch das möchte ich wiederholen - mehr sind als unterschiedliche Versuche, Wörter einer Sprache in Wörter einer anderen Sprache zu transformieren. Beginnen wir unseren Verstehensversuch, beginnen wir mit den ersten vier Versen.
4. Übersetzen - Übersetzen - Übersetzen!
Danket dem HERRN, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich. Dankt Adonaj: So ist es gut. Gottes Freundschaft ist von Dauer.

Läse man ohne weitere Kenntnisse diese beiden Sätze, so käme man kaum auf den Gedanken, es handele sich um zwei Versuche, denselben Text zu übersetzen (nämlich den ersten Vers von Ps 118 in der Luther-Bibel und der Kirchentagsübersetzung). Außer dem ersten Wort, bei dem sich immerhin nur ein volltönendes "danket" und ein etwas nüchterneres "dankt" unterscheidet, bleibt als Gemeinsamkeit in allen 12 bzw. 11 Worten nur noch ein blasses "ist", das freilich zu ganz verschiedenen Satzformen gehört. Sonst ist schier nichts gleich. "Danket dem HERRN" oder "Dankt Adonaj" - nun, da wissen viele von Ihnen, daß es hier um eine unterschiedliche Wiedergabe des Gottesnamens geht. Aber ist er (nämlich Gott) freundlich, oder ist es (nämlich das Danken) gut? Ist von seiner (Gottes) Güte die Rede oder von Gottes Freundschaft? Und ewiglich und von Dauer meint auch nicht unbedingt das gleiche.

Und welche Übersetzung ist denn nun die richtige? Die zutreffende Antwort lautet natürlich: "Es gibt nicht die richtige Übersetzung." Und nun stelle ich mir einen weiteren Disput etwa so vor: "Wenn ihr Übersetzerinnen und Übersetzer des Kirchentags nicht einmal begründen könnt, daß ihr richtig übersetzt habt, wenigstens richtiger und wenn ihr noch dazu einräumt, die Übersetzung der Luther-Bibel sei nicht falsch, warum macht ihr dann euch und übrigens nicht weniger uns überhaupt die Mühe mit einer anderen Übersetzung? Ist euer Deutsch etwa besser als Luthers? Daß Adonaj besseres Deutsch sei als der HERR, wollt ihr doch wohl nicht ernsthaft behaupten?!" - "Nein, aber eben auch gerade darum wollen wir Adonaj sagen." - "Und was soll das nun heißen?"

Mit diesen Fragen an das Übersetzen sind wir bei der Sache selbst. Eine Übersetzung (im engeren und im weiteren Sinne) soll einen Text aus einer Sprache in eine andere, einer Zeit in eine andere, einer Lebenswelt in eine andere hinübersetzen. Dieses Übersetzen soll aber die Fremdheit nicht auslöschen, sondern erkennbar und verstehbar machen. Wenn aber die Übersetzung selbst so geläufig ist oder (wie die der Lutherbibel) so geläufig geworden ist, dann besteht die Gefahr, daß die Worte gerade durch ihre Bekanntheit um ihren Sinn, ihre Schärfe gebracht sind. "Der HERR ist mein Hirte" (Ps 23) - wer hört denn in den Worten "dein Stecken und Stab trösten mich" noch den bewaffneten Kampf des Hirten gegen Wölfe und Löwen? Und konkret auf den Beginn von Ps 118 bezogen: Luthers Übersetzung ist kaum falsch, sie ist gewiß nicht die einzig vertretbare. Sie klingt uns vertraut, aber eben diese Vertrautheit kann zur Konvention und die Konvention zur Gefahr werden. Wenn wir heute einen israelitischen Psalmendichter sagen lassen: "Danket dem HERRN, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich", dann sagt der Dichter des hebräischen Psalms ein christliches Mittagsgebet auf. Das wäre dann wieder die Verkehrung, von der bereits die Rede war. Statt im eigenen Beten wahrzunehmen und wach zu halten, daß wir uns Worte Israels leihen, uns hineinhören und -sprechen in Israels Gebete, lassen wir die Psalmen klingen, als wären sie schon immer christlich-bürgerliche Gebete gewesen. Das spricht nicht gegen Luthers Übersetzung. Als Luther die Anfangsworte von Ps 118 und anderer Psalmen so verdeutschte, da klang das ganz frisch und auch noch ganz ungewohnt. Aber das ungewohnte, in der Kirche geradezu fremd und allemale revolutionär klingende Deutsch Luthers ist zum konventionellen, sozusagen 10 km gegen den Wind als Kirchensprache erkennbaren Lutherdeutsch geworden. Das Revolutionäre wurde zum Konformismus, indem es beibehalten wurde.

Um die Worte des Psalms selbst wieder hörbar zu machen, müssen sie dieser Konvention entrissen werden. So lange "David" betet wie ein braver deutscher Bürger oder die christliche Hausmutter bei Tisch, wird kaum wahrnehmbar werden, daß diese Worte weder an deutschen bürgerlichen Mittagstischen entstanden noch für sie geschrieben wurden. Wenn die Worte der Psalmen uns etwas sagen sollen, müssen sie auch fremd klingen. Vielleicht kommt einmal eine Zeit (für manche mag sie schon da sein), in der die Sprache der Lutherbibel selbst wieder ganz fremd klingt. Dann wäre neu nach Konformismus und Kritik zu fragen. Der Philosoph und Kulturtheoretiker (und nicht zuletzt große Übersetzer) Walter Benjamin benennt (in der 6. seiner "Thesen über den Begriff der Geschichte", GS I/2, 695) die Aufgabe so: "In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen."
5. Gottes Namen - Gottesnamen - in Gottes Namen
Vieles von dem gilt im Blick auf den Gottesnamen ganz besonders. In der hebräischen Bibel wird er mit den Konsonanten j-h-w-h geschrieben, doch schon in biblischer Zeit nicht ausgesprochen. Wie er auszusprechen wäre, weiß niemand. Alle Rekonstruktionsversuche führen lediglich zu begründeten Hypothesen. In der jüdischen Tradition sprach man statt des Eigennamens das Wort ha-Schem (der Name) oder das Wort Adonaj. Dies hängt mit einem Wort für Herr zusammen, aber die Anrede Adonaj ist allein Gott vorbehalten. Die Tradition der Lutherbibel hat das so zum Ausdruck gebracht, daß sie das Wort "Herr", wenn es für den Eigennamen Gottes steht, anders schreibt, als wenn es sich auf einen Menschen als Herrn bezieht. Das ist in der Schreibweise HERR (mit den Kapitälchen, den besonderen kleinen Großbuchstaben) buchstäblich zum Ausdruck gebracht, d. h. es zeigt sich im Druckbild, aber wenn man es beim Vorlesen hört, unterscheidet sich dieser "Herr" nicht von den "Sehr geehrte(n) Herren", die im Geschäftsbrief angeredet sind, den Herren, die über die Sklaven verfügen, denen, die am "Herrenabend" unter sich sein wollen oder (um´s noch plakativer zu machen) denen der Gang durch eine Tür mit der Aufschrift "HERREN" vorbehalten ist. Und so wird der Eigenname Gottes sowohl zur Floskel banalisiert (Herr Meier und Herr Müller) als auch zur exklusiven Männlichkeit verkürzt (nicht ebenso Frau Meier und Frau Müller). Dieses Bündel von Gründen und der Respekt vor der jüdischen Tradition hat uns bewogen, gegenüber dem HERRN der Lutherbibel und allemal gegenüber jeder angeblich authentischen Aussprache den Gottesnamen mit der allein Gott vorbehaltenen Anrede Adonaj wiederzugeben.

(Dankt Gott,) denn er ist freundlich oder: So ist es gut? Beides ist möglich, für beides gibt es Belege. Nicht was hier richtig oder auch nur richtiger sei, wird hier zur Frage, sondern, wie man in Übersetzungen zum Ausdruck bringen kann, daß Worte mehr als einen Sinn haben. Um wieder etwas anderes geht es bei der Alternative im zweiten Satzteil, der in den folgenden Versen wiederholt wird und auch in anderen Psalmen als Kehrvers steht: Denn seine Güte währet ewiglich oder Gottes Freundschaft ist von Dauer? Im hebräischen Text steht hier das Wort chäsäd, welches eine ganze Bandbreite von Bedeutungen hat und etwa Huld, Gnade, Güte, Freundlichkeit, Wohltaten, Freundschaft umfassen kann. Eines aber ist für dieses Wort entscheidend. Es handelt sich um eine wechselseitige, eine reziproke Beziehung als Praxis. Chäsäd ist die Praxis einer wechselseitigen solidarischen Freundschaftsbezeugung, zu der ich verpflichtet bin, ohne dazu rechtlich verpflichtet zu sein, das "mehr" an Zuwendung, das niemand verlangen kann und von dem doch die menschlichen Beziehungen leben. Es geht auch in den Worten des 118. Psalms nicht um eine einseitig von oben nach unten gewährte Gnade; es geht um eine Beziehung zwischen Gott und den Menschen, eine Beziehung in beiden Richtungen. Hört man das mehr im Wort Güte, oder wird es im Wort Freundschaft deutlicher? Von Gottes Freundschaft zu reden, könnte Gott auf eine zu menschliche Ebene bringen, von Gottes Güte zu reden, könnte die wechselseitige Beziehung unkenntlich machen. Hier können wir beim Übersetzen nur Ersetzen üben und uns zwischen verschiedenen Ersetzungsversuchen entscheiden. Auch darum ist es gut, mehr als eine Übersetzung zu haben.

Ich müßte nun im Blick auf solche Fragen den ganzen Psalm in den beiden Ihnen vorliegenden Übersetzungen (und dann gewiß noch vielen weiteren) durchgehen. Dazu reicht die Zeit nicht, und es würde wohl auch auf die Dauer ermüdend. Aber eine Frage darf bei diesen ersten Versen des Psalms nicht übergangen werden, die nämlich, ob das erste Wort tatsächlich vor allem ein Danken meint. Die Lutherbibel und die Kirchentagsübersetzung stimmen darin überein, aber etwa die lateinische Bibel betont in ihrer Wiedergabe des ersten hebräischen Wortes hodu durch das lateinische confitemini einen anderen Aspekt, nämlich den des Bekennens. Versteht man das Wort so, dann könnte man geradezu übersetzen: Gebt eure Konfession zu erkennen! Zeigt euren Glauben! Wieder trifft auch das einen wichtigen Aspekt. Und wieder sind wir bei der Frage nach der Konfession angekommen, der Frage, ob ich, ob wir als Christenmenschen Israels Psalmen so sagen können, daß sie Israel nicht entrissen werden, daß sie (die Psalmen selbst) nicht gleichsam ihre Konfession wechseln müssen, gar zwangsgetauft werden.

Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir weiter lesen. Drei Gruppen werden aufgerufen, Gott zu danken, Gott zu loben (auch das eine Möglichkeit, das erste Wort zu verstehen), ihre Konfession zu erkennen zu geben. Die Verse 2-4 sind ganz parallel gestaltet. Ich lese sie in der Kirchentagsübersetzung:

Israel soll sagen:
Gottes Freundschaft ist von Dauer.
Das Haus Aaron soll sagen:
Gottes Freundschaft ist von Dauer.
Die Adonaj Ergebenen sollen sagen:
Gottes Freundschaft ist von Dauer.

Israel soll sagen... - Dank, Lob und Bekenntnis sind Israels Worte. Auch da, wo im folgenden ein einzelnes "Ich" spricht, ist es das "Ich" Israels. Das Haus Aaron soll sagen... - diese Aufforderung gilt den Priestern. Von ihrem Segen ist am Ende des Psalms noch einmal die Rede, und im ganzen Psalm geht es um die beiden Pole von Gottesdienst und Recht, die beide im Exodus, der geschehenen Befreiung Israels aus dem Sklavenhaus, ihren Grund haben. Aber wer ist in der dritten Gruppe gemeint, wer sind "die Adonaj Ergebenen", die (so die Lutherbibel) "den HERRN fürchten"? Es gibt da zwei Verstehensmöglichkeiten: Die eine sieht darin eine Zusammenfassung der beiden zuvor genannten Gruppen der Laien und der Priester. Die andere Verstehensmöglichkeit geht darauf, in den "Adonaj Ergebenen" auch die eingeschlossen zu sehen, die sich an den Gott Israels halten, ohne zum Volk Israel zu gehören. In späterer Zeit gab es die Gruppe der "Gottesfürchtigen", Menschen aus den Völkern, die Israels Glauben und Israels Ethik annehmen wollten, sich aber z. B. nicht beschneiden ließen. Die Mission des Paulus fand bei diesen Menschen besondere Aufmerksamkeit. Ob in Ps 118 in der in seiner Abfassung gemeinten Situation solche Menschen aus den Völkern mit gemeint sein könnten, das hängt von manchen offenen Fragen nach der Entstehungszeit und Intention des Psalms ab. Hier ist eine Festlegung des historisch gemeinten Sinns, der Autorenintention schwer zu treffen. Aber Menschen aus den Völkern, Christinnen und Christen, die sich mit hineinnehmen lassen wollen in die Beziehung Gottes zu Israel, ohne Israels Platz zu beanspruchen, können sich in dieser Gruppe angeredet sein lassen. So will ich heute diesen Psalm mitsprechen, nicht als Israel, nicht als Haus Aaron, aber als ein Mensch, der mit Adonaj, mit Israel und Israels Gott im Bunde sein und sich von diesem Bund verpflichten lassen will.

Wenn ich das tun will, muß ich auf das hören, was Israel und was in Israel gesagt ist. So kann ich den Psalm sagen und mir so von ihm etwas sagen lassen. Das "ich" der folgenden Verse bleibt das "Ich" Israels. Ich will mich nicht an seine Stelle setzen, aber ich kann die Worte hören und mir sagen lassen und sie dann so mit sprechen. Wenn es eben zu dieser Gruppe der zu Dank, Lob und Bekenntnis aufgeforderten in Luthers Auslegung heißt: "Das sind die wahren Christen, deretwegen dieser Psalm auch in erster Linie gemacht ist", dann kann ich dagegen nur ein entschiedenes "Nein" sagen, wenn ich den Psalm als einen Psalm Israels hören und mitsprechen will. Daß der Verfasser des Psalms die Christen noch nicht kennen konnte, ist dabei keineswegs mein entscheidendes Argument. Es geht um die Alternative, ob der Psalm für Christen gemacht ist oder ob auch Christen ihn mitsprechen dürfen. Das "Nein" zur ersten Verstehensweise ist ein in der Zuversicht gewisses "Ja" zur zweiten. Dieses "Ja" schließt ein, daß im Neuen Testament an entscheidenden Stellen Worte dieses Psalms mit der Botschaft und Praxis Jesu, mit dem Christusgeschehen in Verbindung gebracht werden können. Ich höre diese Verbindung so, daß ich mich als Mensch aus den Völkern durch die Botschaft und die Praxis Jesu, durch die Mission des Paulus in die Worte Israels einweisen lasse, gerade nicht so, daß sie mich aus Israel hinaus oder über Israel hinweg führten. Ich will hören auf das, was Israel gesagt hat und was in Israel gesagt wird. Das soll mir zum unverzichtbaren Teil meiner Konfession werden. So mit hinein genommen in die Gruppe der Adonaj Ergebenen höre ich auf die folgenden Worte des Psalms. Das erste Wort nach den Aufforderungen zu Lob, Dank und Bekenntnis ist das Wort, das den Psalm mit der Losung dieses Kirchentags verbindet.
6. Enge und Weite - Weite und Enge
"Aus der Enge rief ich Gott, mit weitem Raum hat Jah geantwortet." so steht es in Vers 5 des Psalms. Jah - das ist eine Kurzform des Eigennamens des Israelgottes, vertraut ist uns diese Namensform im Aufruf "Halleluja", etwa: Lobt Jah, lobt Gott! Der weite Raum, in den Gott führt, ist der Gegenraum zur Enge und Angst. "Du stellst meine Füße auf weiten Raum", heißt es in Ps 31, den die Kirchentagslosung aufnimmt. Der weite Raum ist Gottes, ist Jahs Antwort auf die Erfahrungen von Angst, Enge, Bedrohung. Aber (das Wortspiel bietet sich geradezu an) die Antwort Jahs kann zum entschiedenen "Nein" werden, zum Widerspruch und zum Widerstand gegen die Mächte der Angst, Bedrängnis und Unfreiheit. Darum geht es in den folgenden Versen:

Adonaj ist für mich. Ich fürchte mich nicht. Was kann ein Mensch mir tun?!
Adonaj ist für mich, bei denen, die mir helfen. So kann ich ansehen, die mich hassen.
Besser sich bergen bei Adonaj, als sich bei Menschen zu sichern.
Besser sich bergen bei Adonaj, als sich bei Großen zu sichern.

Gottes "Ja" ermöglicht ein "Nein". Amen zu sagen heißt nicht immer "Ja und Amen" zu sagen, sondern fordert nicht selten ein "Nein und Amen". Sich unter Gott zu beugen ermöglicht den aufrechten Gang unter Menschen, Gott allein zu dienen widerstreitet jeder Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Losung "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" ist mehr und anderes als eine biblische Sprachform für die Zusage, mir stehe die ganze Welt offen, oder gar die Ermunterung zur Expansion. Sie enthält ein Widerstandspotential gegen alle Formen der Einengung, der Einschnürung, des Klein-gemacht-Werdens. Wo solche Erfahrungen nicht mitgehört werden, könnte die Losung halbiert erklingen. Auch in Ps 31 gehört ja die erste Satzhälfte dazu. Der ganz Vers lautet: "Du hast mich nicht ausgeliefert in Feindeshand, du stellst meine Füße auf weiten Raum." Erfahrungen von Feindschaft kommen in beiden Psalmen (31 und 118) in den Blick und damit etwas, das bei Kirchentagen nicht oft zum Thema wird. Vielleicht hat die Botschaft von Frieden und Feindesliebe, so unverzichtbar sie ist, die reale Erfahrung von Feinden und Feindschaft fast verdrängt, und vielleicht sind wir ja auch deshalb so hilflos angesichts solcher Erfahrungen.

Ich möchte das erläutern, und ich tue es wieder in eher tastenden Versuchen. Die dramatisch anwachsenden Formen des Hasses und der Gewalt gegenüber Ausländern, Juden, Behinderten, Nichtseßhaften, Hilflosen zeitigt auf der Seite derer, die sich dagegen empören, merkwürdig widerstreitende Reaktionen. Ich nehme wahr, wie manche meiner Freunde versuchen, dieses Problem vor allem sozialpädagogisch und sozialpsychologisch anzugehen. Sie verweisen darauf, daß die Täter selbst im Leben zu kurz gekommen sind, sie glauben noch immer, daß diese Gewalt eine ihrerseits hilflose Reaktion auf die verweigerten Chancen ist. Aber dann müssen sie sich sagen lassen, daß die Täter und auch Täterinnen keineswegs überwiegend aus sozial schwachen Familien kommen, daß z. B. nur ein geringer Teil von ihnen selbst arbeitslos ist. Und doch wollen viele daran festhalten, daß es sich um ein Problem handelt, dem man mit behutsamer psychologischer und kräftiger sozialer Hilfe beikommen könne.

Daneben gibt es die anderen, die hier in aller Härte Feinde sehen und die sich (wenn sie ehrlich sind) dann plötzlich dabei erwischen, daß sie eben das Freund-Feind-Schema, das das Grundmodell jener Gewalttaten ist, selbst übernommen haben. Ist ein jugendlicher rechtsradikaler Gewalttäter ein Opfer der gesellschaftlichen Kälte unserer Gesellschaft, oder manifestiert sich in ihm das Böse? Für beide Deutungsmodelle gibt es viel Zustimmung, nicht selten für beide zugleich. Der Ruf nach dem "Aufstand der Anständigen" ist so gut gemeint wie problematisch. Und die Parole "Nazis raus!" ist beides allemale. Was heißt "raus!"? Woraus ´raus? Aus dem Land, aus der Gesellschaft, aus der Menschheit? Wiederholt sich hier nicht eben die Denkfigur, die in Parolen wie "Ausländer raus", "Juden raus" ihre Fratze zeigte und wieder zeigt? Mit Recht hat der Politologe Hajo Funke statt nach dem "Aufstand der Anständigen" nach dem "Anstand der Zuständigen" gefragt. Ich möchte dann allerdings auch nach dem "Zustand der Aufständischen" fragen. Was ist das für ein "Aufstand", bei dem die Regierung das Volk zum Demonstrieren ruft, ja, sogar selbst vom Aufstand redet? Es mutet seltsam an, wenn die Spitzen des Staates beim "Aufstand" vorneweg gehen - aber alle sind sich einig, daß sie, daß "wir" doch die Anständigen sind.

Bleibt nicht all das (und meine Anfragen daran allemale auch) hilflos? Wie sollen wir umgehen mit der Erfahrung von Feinden und Feindschaft? Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! So haben wir das um 1968 herum gesagt. Und dann traf uns diese Denkfigur beim sogenannten Radikalenerlaß selbst. Wer denn darf bestimmen, was Freiheit ist und wer ihre Feinde sind? Wenn Freiheit die Freiheit der Märkte ist, dann wird leicht ein Gegner des Wirtschaftsliberalismus zum Feind der Freiheit. Aber wenn ich um dieser Gefahr willen lieber so nicht denken und reden und handeln will, wie kann ich mich und andere davor schützen, daß im Namen ihrer Freiheit (ihrer Demonstrations- und Pressefreiheit z. B.) menschenverachtende Worte, Symbole, Texte und Taten ins Recht gesetzt werden? Ich will diesen kleinen Abschnitt der Bibelarbeit über den 118. Psalm nicht zum Leitartikel anwachsen lassen - zumal ich über meine Ratlosigkeit kaum hinaus komme. Aber mir sind diese Beobachtungen gerade beim Hören auf diesen Psalm wichtig. Denn in seinem Mittelteil ist von Feinderfahrungen die Rede, und wir sind gut beraten, sie nicht zu rasch mit dem Gebot der Feindesliebe zuzudecken. Wie können die, denen Gewalt und Haß entgegen schlägt, ihren Verfolgern ins Auge sehen? Wie können sie widerstehen - im Kleinen, im Großen und im ganz Großen? Und wie können sie sich davor hüten, daß sich in diesem Widerstand die Fratze der Feinde im eigenen Gesicht widerspiegelt? Was dies letzte und womöglich allerschwerste angeht, so enthält die jüdische Gebetstradition gerade auch für diesen Psalm etwas Bemerkenswertes. Um das ins Spiel zu bringen, bedarf es einer kleinen Information.
7. Das halbe Hallel
Ps 118 gehört mit anderen (nämlich den Psalmen 113-118 und dazu 136) zu den sogenannten Hallel-Psalmen. Sie haben ihren Ort in den jüdischen Gebeten bei den großen Festen wie Päsach, dem Laubhüttenfest und den anderen. Und so haben sie Jesus und die Jünger beim Sederabend vor dem Tode Jesu gebetet (Mk 14,26; Matth 26,30). In der Woche des Päsachfestes, an dem des Exodus, der Befreiung aus dem ägyptischen Sklavenhaus und der Erinnerung an die Rettung am Schilfmeer, gedacht wird, gibt es bei den Lobgebeten der Hallelpsalmen eine Besonderheit. Von dritten Festtag an wird nämlich nur das halbe Hallel gebetet. Eine Deutung erklärt, das sei wegen des Untergangs der Ägypter. Auch den Opfern der Feinde wird in diesem Schweigen Respekt zuteil. Das halbe Hallel bleibt ein volles Lob, ein voller Dank für Israels Rettung. Aber die im halben Hallel zum Ausdruck gebrachte Leerstelle hält die Trauer darüber fest, daß in dieser Geschichte, daß in aller bisherigen Geschichte die Befreiung und Rettung Leben kostete. Im Dank für die eigene Rettung wird der Untergang der Ägypter nicht verschwiegen. Eben das kommt in diesem Schweigen zum Ausdruck. Indem ich mir das sagen lasse und es mit zu sprechen (und mit zu schweigen) versuche, habe ich etwas Wichtiges gehört auch für den Umgang mit meinen Feinden.
8. Bienenschwärme
Das Thema des Widerstehens wird in Ps 118 weiter geführt und nun aus und in Israels Erfahrung auf Völker bezogen:

Alle Völker umringten mich. Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen;
sie umkreisten, ja umringten mich. Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen;
sie umkreisten mich wie Bienen, verschwelen wie Feuer.
Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen.

Der Name Adonajs, der Name Gottes als Widerstandkraft. Das konnte und kann ganz wörtlich verstanden werden. Mit dem Namen Adonaj auf den Lippen starben jüdische Märtyrer. Daran zu erinnern bedeutet für meine Konfession aber auch, daß der Name Gottes zur Widerstandskraft gegen vieles wurde, das angeblich in Gottes Namen geschah. Christen verfolgten und ermordeten Jüdinnen und Juden immer wieder in Gottes Namen, ja zum Lobe Gottes. Und wenn sie dann das Vaterunser sprachen und dabei die Bitte "Geheiligt werde dein Name", dann blieb ihnen das selten im Halse stecken. Auch diese Erinnerung gehört dazu, wenn wir Israels Psalmen mitsprechen wollen. Dieses Mitsprechen muß zu Scham und Kritik werden und mehr noch: zur Absage an die Formen eines christlichen Glaubens, die mit solchem Tun vereinbar waren, vereinbar schienen oder es gar beförderten. Es gibt keinen geraden Weg von Wittenberg zur Wannseekonferenz, keine zwangsläufige Linie von christlicher Judenfeindschaft zum Versuch der Ausmordung des jüdischen Volkes. Aber das eine hat mit dem anderen zu tun. Im Lichte, nein, in der Finsternis des Völkermords müssen heute alle Formen einer christlichen Judenfeindschaft buchstäblich unsäglich werden, auch dann, wenn sie sich mit den Namen großer und größter Theologen verbinden. Und dann noch dies: Auch deshalb bedarf das Umgehen mit dem Gottesnamen, die Heiligung dieses Namens selbst größter Aufmerksamkeit. Gott, Israels Gott, Adonaj darf mit den Herren der Welt nicht verwechselt werden - auch und gerade im Namen nicht.

Ich versuche, den Psalm zu sagen, indem ich ihn höre, ihn mir sagen lasse und dann mitspreche. Dabei will ich die in den Worten des Psalms geronnenen Erfahrungen Israels als Erfahrungen Israels hören, sie nicht in meine Erfahrungen umformulieren noch im Unbestimmten eines Allerwelts-"Wir" verschwinden lassen. Dazu gehört aber dann auch, daß ich Israels Worte heute höre und sie mit dem in Beziehung setze, was ich heute wahrnehme. Zu den gewaltigen Stärken der Auslegung dieses Psalms in Luthers "Schönem Confitemini" gehört, daß ihm der Psalm gegenwärtig wird, daß er seine Zeit und ihre Plagen und Anfechtungen einbringt in die Auslegung. Da kann er kritisch, drastisch, ja obszön reden. Mit Gott als Helfer will er den großen Herren in Reich und Kirche widerstehen, ja manchem "die Feige weisen". Luther bezieht sich hier auf eine obszöne italienische Handbewegung - man müßte heute Luthers Bild übersetzen und könnte es ziemlich zutreffend-plastisch so, daß er ihnen getrost den "Stinkefinger" zeigen wollte. Das ist ein starkes Stück, in mehrfacher Hinsicht. Aber leben wir denn, aufs ganze gesehen, in so dramatischen Zeiten wie sie im Jahre 1530 waren? Gewiß gibt es gute Gründe, diese Frage nicht nur zu verneinen. Wenn ich an die Gewalt erinnert habe, der heute in unserem Land wieder Menschen ausgesetzt sind, nicht nur, aber schrecklicherweise auch wieder jüdische Menschen, dann gibt es keinen Grund zur Verharmlosung. Aber bei der massenhaften Empörung gegen die rechte Gewalt auch und natürlich mit Recht auch bei diesem Kirchentag und seinen symbolischen Widerstandsformen stellt sich doch eine leise Gegenfrage. Ich kann mir schier nicht vorstellen, daß z. B. heute in dieser Messehalle eine größere Zahl von gewaltbereiten Rechtsradikalen sitzt. Und dann wäre lautstarke Kritik an ihnen so kritisch wieder nicht, sind wir uns doch in dieser Kritik ganz überwiegend so einig. Kritischer wäre deshalb vielleicht im Zusammenhang eines Bildes im 12. Vers des Psalms eine weitere Beobachtung. Dort heißt es über die Völker: "...sie umkreisten mich wie Bienen". Kaum jemand hier in der Halle wird Israel stechen, vergiften wollen. - Aber Bienen wollen nicht zuerst stechen, sie wollen Honig gewinnen. Heute könnte sich im selben Bild des Bienenschwarms eine andere und in ihrer vermeintlichen Freundlichkeit ebenfalls problematische Haltung widerspiegeln. Wollen nicht viele gutmeinende, "israelbewegte" Christen aus dem Judentum Honig saugen? Jüdische Folklore füllt noch jede Gemeindeveranstaltung oder Akademietagung; jüdisches Leben wird nicht selten als ganz besonders edel, ganz besonders "echt", ganz besonders vorbildlich wahrgenommen. Man kann Menschen nicht nur durch ein feindliches Umringen um ihr eigenes Leben bringen, man kann das auch mit einem überaus freundlich gemeinten, begeisterten Umschwärmen tun. Auch eine Umarmung kann erdrücken, vor allem dann, wenn die Umarmten gar nicht gefragt worden sind, ob sie das wollen. Auf einem Kirchentag sind in diesem Sinne die honigsaugenden Bienen gewiß häufiger als die stechenden. Unproblematisch sind auch sie nicht. Das allerdings macht die Aufgabe noch schwieriger, den Psalm so zu sagen, daß er Israels Psalm bleibt und daß er doch von Christen gesprochen werden kann, die Christen sein und bleiben wollen. Weder soll man im Judentum ein Defizit sehen, dem mit Mission beizukommen wäre, noch auch die eigene Konfession vor dem Votivbild einer umschwärmten jüdischen schlecht machen. Die eine Unwahrheit ist allemale viel böser als die andere, doch unproblematisch ist auch sie nicht, zumal wenn sich dann doch zeigt, daß die Objekte des Schwärmens mit den lebendigen Menschen nicht viel zu tun haben. Jüdinnen und Juden sind keine schlechteren Menschen als andere. Diese Lektion haben sehr viele Deutsche, sehr viele Christen endlich begriffen. Aber sie haben sie nicht wirklich begriffen, wenn sie nun stattdessen für sich und andere dekretieren, Jüdinnen und Juden hätten daher bessere Menschen zu sein als andere. Ich verstehe die Zurückhaltung von Jüdinnen und Juden gegenüber solchem Umschwärmtsein gut. Israels Erfahrung, so höre ich die Worte des Psalms heute, läßt beide Sorten von Bienenschwärmen als Plage erkennen. Übrigens kann man ja bei den "Bienen" nicht sicher sein, ob und wann die Honigsuche zum Stechen führt ...
9. Den ganzen Psalm zu Ende sagen - und wieder am Anfang beginnen
Die Frage, ob überhaupt ich diesen Psalm sagen kann und wie ich ihn so sagen kann, daß er Israels Psalm bleibt und ich ihn doch mitsprechen kann, hat so viel Raum gefordert (und leider noch so wenig "weiten Raum" gezeigt), daß kaum noch Zeit bleibt, den ganzen Psalm zu sagen und auszulegen. Und doch meine ich, daß es bisher nicht nur um Vorfragen ging, sondern um Grundfragen. Und daß man sich bei einer Bibelarbeit nur auf einige wenige Aspekte des immer vielschichtigeren und reicheren Bibeltextes beschränken muß, das ist eine Binsenweisheit. Ich will deshalb nun großräumiger vorgehen, vor allem den Psalm selbst zu Wort kommen lassen und nur noch wenige Hinweise geben.

10 Alle Völker umringten mich. Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen;
11 sie umkreisten, ja umringten mich. Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen;
12 sie umkreisten mich wie Bienen, verschwelen wie Feuer.
Mit dem Namen Adonaj - so kann ich ihnen widerstehen.
13 Heftig hast du mich gestoßen. Aber Adonaj half mir.
14 Meine Kraft und mein Gesang ist Jah. Jah wurde mir zur Befreiung.
15 Der Lärm von Jubel und Befreiung ist in den Zelten der Gerechten:
Die starke Hand Adonajs - sie handelt mächtig.
16 Die starke Hand Adonajs - sie ist erhoben.
Die starke Hand Adonajs - sie handelt mächtig.
17 Ich sterbe nicht, sondern lebe und erzähle die Taten Jahs.
18 Hart hat Jah mich angefaßt, dem Tode hat Jah mich nicht übergeben.

Erfahrungen von Bedrängnis und Rettung kommen hier zur Sprache, mehr als einmal klingt die Exoduserfahrung an. Worte aus dem Mirjamlied in 2Mose 15 sind hier aufgenommen, Erfahrungen von Exil und mühsamem Neuaufbau der nachexilischen Gemeinde kommen zu Wort. Viel spricht dafür, daß wir es mit einem im Wechselgesang vorgetragenen Lied beim Einzug in den (nachexilischen, den Zweiten) Tempel zu tun haben. Die geschehene Rettung und Befreiung wird zur Hoffnung auf die endgültige Aufrichtung eines Lebens in Freiheit, in weitem Raum, in Gerechtigkeit und nicht zuletzt in Festfreude. Kult und Recht - es geht um beides, und beides soll zusammengehen. Und so ist auch in der Fortsetzung von den Toren des Tempels als den Toren der Gerechtigkeit die Rede:

19 Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit. Ich will hineingehen und Jah danken.
20 Dies ist das Tor zu Adonaj. Gerechte gehen hinein.
21 Ich danke dir: Du hast mir geantwortet und wurdest mir zur Befreiung.
22 Ein Stein, den die Bauleute für untauglich hielten, wurde zu einem tragenden Eckstein.
23 Von Adonaj her geschah dies. Es ist wunderbar in unseren Augen.
24 Dies ist der Tag, da Adonaj es getan. Wir wollen jubeln und uns daran freuen.
25 Bitte, Adonaj, befreie doch. Bitte, Adonaj, laß es gelingen.
26 Gesegnet, wer eintritt, mit dem Namen Adonaj. Wir segnen euch vom Tempel Adonajs her.
27 Adonaj ist Gott und gibt uns Licht.
Am Fest der Laubhütten laßt die Zweige reichen bis an die Hörner des Altars.
28 Mein Gott bist Du. So danke ich dir. Mein Gott, ich erhebe Dich.
29 Dankt Adonaj: So ist es gut. Gottes Freundschaft ist von Dauer.

Der Dank für die geschehene Befreiung und Rettung wird zur Hoffnung auf die endgültige Befreiung, der Psalm ist - so gelesen - auch ein Zeugnis messianischer Hoffnung. Die Gemeinde Jesu, die ihn als den gekommenen und wiederkommenden Messias ansah, konnte daher Worte dieses Psalms als Hinweis auf Christus wahrnehmen. Manche Jüdinnen und Juden konnten diese Auffassung teilen, die jüdische Mehrheit teilte sie und teilt sie nicht. Auch in dieser Hinsicht konnten die Worte des Psalms unterschiedlich wahrgenommen werden, sie bieten mehr als eine Verstehensmöglichkeit. Ich möchte diesen Psalm, die anderen Psalmen, ja die Worte und Texte der hebräischen Bibel so mitsprechen, daß ich mich (die Kirche, das Christentum) nicht an die Stelle Israels setze, sondern hören will auf das, was Israel gesagt und was in Israel gesagt ist. Juden und Christen hören dann dennoch in denselben Worten nicht das gleiche. Ich sehe darin keinen Mangel, sondern einen Reichtum. "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen", heißt es im Johannesevangelium (14,2) - ich will das für heute einmal so lesen. Ich muß kein Jude werden, um den Psalm sagen zu können, und ich muß noch viel weniger den Jüdinnen und Juden ihr Verstehen wegnehmen oder es abwerten, damit ich Christ bleiben kann. Denn wenn ich mein Christsein nur auf Kosten Israels haben könnte, dann wäre es ein halbiertes Christsein, und hier wäre die halbe Wahrheit eine ganze Lüge. Ich lasse mich durch das Neue Testament einweisen in das Alte. Jüdinnen und Juden bedürfen solcher Einweisung nicht, sie sind schon da, sie leben mit, sie leben in diesen Worten und Texten.

Ich wiederhole das in dieser Bibelarbeit so oft, weil ich es mir selbst so oft sagen muß. Denn da ist noch längst kein weiter Raum, in dem Schritte in mehr als einer Richtung frei gegangen werden können, da ist zunächst und wohl lange noch ein "vermintes Gelände". Und (wenn ich das martialische Bild weiterführen darf) nicht selten treten wir beim Versuch, einer Mine zu entgehen, auf eine andere, die dann explodiert. Diese Minen sind das böse Erbe christlicher Schlachtfelder. Und wie oft stand ein "Gott mit uns" auf den Fahnen oder den Koppelschlössern der christlichen Soldaten. Manche Minen kann man entschärfen, andere muß man explodieren lassen, damit sie wenigstens fortan unschädlich sind.

Ich glaube, ich habe noch nie so viele Kriegsbilder aneinandergereiht, und mir wird dabei eng. Und auch deshalb ist mir dieser Psalm wichtig geworden. Zu den Worten, die ich mitsprechen möchte, gehört dann vor allem auch der Vers, der uns dazu brachte, eben diesen Psalm zum Text einer Bibelarbeit zu wählen, der Vers, der ihn mit der Kirchentagslosung verbindet:

Aus der Enge rief ich Gott, mit weitem Raum hat Jah geantwortet.

Der Gottesname Jah wird zum Nein gegenüber allen, die den Raum wieder eng machen wollen. Damit bin ich (fast) wieder am Anfang angekommen. Wenigstens das entspricht dem Psalm selbst, der in seinem letzten Vers den ersten wieder aufnimmt. Und da kann ich nun einmal mit aller Zustimmung aus Luthers Auslegung dieses Psalms zitieren: "So pflegt man die guten Lieder, wenn sie ausgesungen sind, gerne noch einmal von vorn anzustimmen, besonders dann, wenn man sie mit Lust und Liebe gesungen hat." Ich sage also den letzten Vers, der wieder der erste ist:

Dankt Adonaj: So ist es gut. Gottes Freundschaft ist von Dauer.

Und damit ich nun auch bei dieser Bibelarbeit wieder ganz am Anfang ankomme, schließe ich mit dem Satz des Rabbi Uri:

"David konnte die Psalmen verfassen, und was kann ich? Ich kann die Psalmen sagen."

copyright by Jürgen Ebach

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