Ein weites Feld. - Ein zu weites Feld?

Bibelarbeit über 1Mose 12 auf dem Kirchentag 2001 in Frankfurt/M

von Jürgen Ebach

I. Eine Geschichte in verschiedenen Zeiten
Die Bibeltexte des Kirchentags legen die Losung aus. Auf je ihre Weise entfalten sie deren Dimensionen, legen Spuren aus und helfen, das Leitwort des Kirchentags in verschiedenen Perspektiven und Konkretionen wahrzunehmen. Umgekehrt lädt der Losungssatz aus Psalm 31: "Du stellst meine Füße auf weiten Raum" dazu ein, "unseren" Text aus dem 1. Mosebuch unter einer bestimmten Fragestellung zu lesen. In der Erzählung von Abram und Sarai (später heißen sie Abraham und Sara) ist von Räumen und Wegen die Rede, vom Gehen ins Offene und auf bedrückende Weise auch vom Geschickt-Werden und Sich-Schicken in enge und engste Räume.

(Fast) ganz am Anfang steht ein Befehl: läch-lecha "Geh für dich / auf dich gestellt!", und (fast) ganz am Ende ertönt wieder ein Befehl "Geh!" Die beiden Imperative bilden eine Klammer der Erzählung, verbinden Anfang und Ende, und doch sind es ungleiche Forderungen zu gehen. Am Anfang ergeht dieser Befehl an Abram von Adonaj, Israels Gott, am Ende vom ägyptischen Pharao. Am Anfang ist es die Aufforderung, Schritte ins Offene zu wagen; am Ende ist's eine (so Bettina Eltrop in den "Exegetischen Skizzen") "großzügige Abschiebung". Dazwischen geht es um viel, und es wird viel gegangen. Wir werden dem Schritt für Schritt nachgehen. Ich will die Erzählung nacherzählen und so auslegen.

Eine Geschichte heute nachzuerzählen bedeutet auch, sie heute neu zu erzählen. Dabei will ich die alte Geschichte von Abram und Sarai nicht so erzählen, wie wenn sie heute spielte. Vielmehr will ich umgekehrt das Heute, meine (unsere) Gegenwart in das Lesen der alten Geschichte einbringen. Die alten Worte verknüpfen sich, wo immer sie erzählt werden, mit neuen Erfahrungen. Das ist nicht erst so, wenn wir die im biblischen Text erzählte vergangene Zeit mit der gegenwärtigen Zeit zusammen bringen. Das war schon so, als die alten Geschichten aufgeschrieben wurden. Es kommt nicht darauf an, ob Abraham und Sara je als historische Personen gelebt haben. Sie leben in den Geschichten, und sie leben weiter, wo immer diese Geschichten erzählt und gehört, weitererzählt und neu gehört werden.

Zwischen der Zeit, in der die Geschichte spielt, und der Zeit, in der sie in ihrer endgültigen Gestalt an dieser Stelle der Bibel aufgeschrieben wurde, liegen Jahrhunderte. Folgen wir den biblischen Zeitangaben selbst, so lebten Abraham und Sara etwa 2000 Jahre nach der Weltschöpfung. Dürfte man das in Datierungen unserer Zeitrechnung umbuchen, käme man auf den Beginn des 2. vorchristlichen Jahrtausends. Die in den Mosebüchern jetzt so vorliegende Gestalt bekam die Erzählung etwa eineinhalb Jahrtausende später, in der persischen Zeit, als man in Israel nach dem Babylonischen Exil in der Erinnerung an all das Geschehene nach neuen Lebensgestaltungen und zugleich nach verbindlich bleibenden Normen fragte. Von den ersten Abrahamerzählungen bis zu den jetzt vorliegenden Bibeltexten haben Menschen in Israel die Geschichten mit je ihren Fragen und Erfahrungen immer wieder nach- und neu erzählt. Die Geschichte heute nachzuerzählen heißt daher, den Versuch zu machen, sie als Gewebe wahrzunehmen (das lateinische Wort Text, textus heißt eben das), als Gewebe, in das viele Generationen ihre Erfahrungen, ihre Antworten und ihre Fragen, ihr gelebtes Leben eingewoben haben. Der so entstandene Text ist kein "Patchwork", keine Flickarbeit aus verschiedensten Stoffen, sondern ein Gewebe, in dem jeder Satz so, wie er da steht, zu einem unverzichtbaren Faden gehört und andere Fäden aufnimmt. Kein Satz, kein Wort ist überflüssig, keines überschüssig - zusammen bilden sie einen Text.

Wenn wir die Geschichte heute hören, werden wir auch unsere Fragen und Erfahrungen einbringen. Vielleicht verhelfen Beobachtungen an der alten Geschichte zu neuen Entdeckungen im Blick auf die Losung und die großen Themen dieses Kirchentags, zur Frage nach dem weiten Raum, in dem wir auf Freiheit und in Freiheit bestehen müssen, oder zur Gefahr, den weiten und freien Raum gerade dadurch zu verlieren, daß wir ihn sichern wollen. Aber das ist schon zu viel an Ankündigung und Reden über den Bibelarbeitstext. Ich will lieber mit ihm reden und tue das in acht Abschnitten. Ich lese 1Mose 12 in der "Kirchentagsübersetzung", die eine Gruppe von Exegetinnen und Exegeten gemeinsam erarbeitet hat. Ein Ziel unserer Übersetzung ist, Frauen in den biblischen Texten und als Adressatinnen biblischer Texte nicht unsichtbar zu machen. Wir werden sehen, wie wichtig das gerade bei diesem Text ist.
II. Der Text
Adonaj [Gott] sprach zu Abram: "Geh, auf dich gestellt, aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Elternhaus in das Land, das ich dich sehen lasse. Ich werde dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen. Werde du ein Segen! Ich will segnen, die dich segnen, die dich erniedrigen, verfluche ich. In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde." Da ging Abram, wie Adonaj ihm gesagt hatte, und Lot ging mit ihm. Abram war 75 Jahre alt, als er aus Charan hinauszog. Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, seinen Brudersohn, und alle Habe, die sie erworben hatten, und die Leute, die sie sich in Charan zu eigen gemacht hatten; sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen, und sie kamen in das Land Kanaan. Abram durchzog das Land bis zum Ort Sichem, bis zum Baum Moräh. Und da wohnte das kanaanäische Volk im Land. Adonaj ließ sich sehen vor Abram und sprach: "Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land." Er baute dort einen Altar für Adonaj, denn Gott hatte sich vor ihm sehen lassen. Und Abram brach von dort ins Gebirge auf bis östlich von Bet-El und spannte sein Zelt auf, Bet-El im Westen und Ai im Osten. Und er baute dort einen Altar für Adonaj und rief den Namen "Adonaj" an. Danach zog Abram weiter südwärts in den Negev. Es kam eine Hungersnot über das Land. Abram machte sich auf den Weg hinab nach Ägypten, um dort als Fremder Aufnahme zu finden - schwer war ja der Hunger im Land. Als er sich Ägypten näherte, sprach er zu Sarai, seiner Frau: "Sieh doch, ich weiß ja, du bist eine Frau, die schön anzusehen ist. Wenn dann die Ägypter dich sehen, werden sie sagen: 'Das ist seine Frau', und sie werden mich töten, dich aber leben lassen. Sag doch, du wärst meine Schwester, damit es mir auf deine Kosten gut geht und ich mein Leben dank deiner behalte". Als Abrahm nach Ägypten kam, sahen die Ägypter die Frau: Ja, sie war sehr schön. Die Mächtigen Pharaos sahen sie und priesen sie vor Pharao. Da wurde die Frau in den Harem Pharaos gebracht. Und Abram ging es gut auf ihre Kosten. Er bekam Schafe und Rinder und Eselhengste und Sklaven und Sklavinnen und Eselinnen und Kamele. Da schlug Adonaj Pharao mit harten Schlägen - auch sein ganzes Haus. Es ging um Sarai, Abrams Frau. Pharao rief Abram und sprach: "Was hast du mir da angetan? Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie deine Frau ist? Warum hast du gesagt: 'Sie ist meine Schwester'? So habe ich sie mir zur Frau genommen. Nun sieh: Sie ist deine Frau. Nimm sie und geh!" Und Pharao ordnete Männer für ihn an, ihn und seine Frau und alles, was er hatte, fortzubringen.
III. Eine Geschichte in verschiedenen Räumen
Ein ganzes langes Kapitel aus dem ersten Mosebuch also - mit vielen Wegen und weiten Räumen. Der weite Raum wird zuerst in den in 1Mose 12 genannten Ortsnamen erkennbar. Da ist Charan genannt; eine Stadt im oberen Mesopotamien, am Eufrat, heute in der Südtürkei, nahe der syrischen Grenze. Nach Charan selbst war die Sippe, wie zuvor erzählt wird, auf weiten Wegen gekommen. Als Ausgangsort nennt 1Mose 11 die Stadt Ur ganz im Süden des Zweistromlandes am persischen Golf, heute im Südirak. Von Charan aus wandert Abrams Familie nach Kanaan, ins Land des späteren Volkes Israel. Aber auch im Israelland selbst kommen in "unserem" Kapitel weit voneinander entfernte Orte in den Blick, solche im Norden wie Sichem und Betel, aber auch der Negev, die südliche Wüste. Und dann gelangen Sarai und Abram nach Ägypten. Von Charan am Eufrat bis an den Nil sind es weit mehr als 1000 km Luftlinie. Aber natürlich reiste man in Abrahams Zeiten nicht "per Luftlinie", und die Karawanenstraßen mußten in zuweilen gewaltigen Umwegen unwegsame Gegenden weiträumig umgehen. All diese Orte und Räume spielen eine Rolle in Israels Geschichte, und mit all diesen Orten im Israelland und den weiten Räumen draußen verbinden sich Geschichten. Geschichten und Geschichte bilden die Markierungen der Landkarte "unseres" Kapitels. Betel und Sichem, aber auch Charan sind Orte der Geschichte des Abrahamenkels Jakob, der den Namen Israel bekommen wird. Der Süden des Landes ist seit alters mit der Abrahamtradition verbunden. Der Ortsname Ai läßt die Erinnerung an Josuas Eroberung auftauchen. Das Land am Eufrat ist nicht nur Heimat der Abrahamfamilie, sondern auch Ort des Babylonischen Exils Israels. Ägypten ist nicht nur der Zufluchtsort wandernder Nomaden in Hungerzeiten, sondern auch das Land, in dem Israel zum Volk wurde. Ägypten aber wurde Israel zum "Sklaven-" zum "Arbeitshaus", aus dem Gott das Volk herausführte. Von der Heimat der ältesten Sippen, aus denen das Volk wurde, über den Auszug aus Ägypten - Ur-Sprung der Geschichte und Theologie Israels -, weiter über die Zeit der Einwanderung der Stämme ins Land Kanaan bis hin zur Babylonischen Gefangenschaft, dem neuen Auszug aus diesem Exil und der Neukonstituierung jüdischen Lebens in einem multikulturellen Großreich - alle diese Zeiten und ihre dramatischen Geschichten sind in der Landkarte des Textes verortet.

Es ist so, wie wenn wir heute bestimmte Ortsnamen nennen und damit nicht zuerst eine geographische Lage bezeichnen wollen. Wer "Schalke" sagt, meint meist mehr als einen Stadtteil von Gelsenkirchen, "Pankow" war zuzeiten nicht nur ein Ortsteil Berlins, "Woodstock" ist mehr als ein ziemlich öder Ort mit einer großen Wiese im Staat New York, "Canossa" meint nicht nur ein Schloß in der Nähe von Reggio nell'Emilia in Norditalien. "Waterloo" ist nicht nur eine Stadt in Belgien, "Gorleben" nicht nur ein Dorf im niedersächsischen Wendland. - Und dann könnten wir an noch andere Ortsnamen denken, solche wie "Eschede" oder "Hiroshima" - - - und noch andere wie "Birkenau" oder "Bergen-Belsen".

Orte stehen für Geschichten. Ein weiter Raum ist in 1Mose 12 entfaltet, aber in den meisten Zeiten war er weder Freiraum noch Spielraum. Ich sage das zu Beginn unserer Reise mit und durch 1Mose 12, damit jeder idyllisierende Zugriff auf diese Geschichte erschwert wird. Abrahams Gottvertrauen, "der Weg" als besonders beliebtes Feld der Symboldidaktik - ein solcher Zugang muß nicht, aber er kann die Geschichte ins Ungefähre der Gefühle abdriften oder im Zugriffig-Banalen eines "Wir alle sind unterwegs" versinken lassen. Folgen wir Abram und Sarai, folgen wir der Erzählung - Schritt für Schritt:

Adonaj sprach zu Abram:

So beginnt 1Mose 12. Israels Gott ist hier mit seinem Eigennamen genannt, den ich Adonaj ausspreche. Gott redet den "Erzvater" an, der zunächst noch Abram heißt und später (in 1Mose 17) den erweiterten, größeren Namen Abraham bekommen wird. Voraus geht in Kapitel 11 eine Genealogie, eine Familiengeschichte, die Namen und Lebensdaten der großen Familie nennt, vom Noahsohn Schem bis zu Abram selbst und seiner Frau Sarai, die später Sara heißen wird. Gott ruft Abram, ruft ihn hinaus in weiten Raum:

"Geh, auf dich gestellt,
aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus deinem Elternhaus
in das Land, das ich dich sehen lasse. (...)

Der Schritt ins Offene, den zu tun Gott Abram anweist, ist mit Trennungen verbunden. Freiheit und Bindung gehören zusammen, aber sie gehen nicht immer leicht zusammen. Abram erhält einen Befehl und ein Ziel. Das Ziel wird nicht vorab definiert. Kennt Gott es schon? Abram kennt es nicht. Er geht, ohne zu wissen, wohin. Die offene Zukunft kann leicht zu offen, das weite Feld leicht ein zu weites Feld werden. Bereits der erste Vers "unserer" Geschichte läßt die Losung dieses Kirchentags in eben dem Zwiespalt erkennbar werden, in dem allein sie ernst genommen ist.

Bei der Wahl dieser Losung gab es ausführliche und spannende Debatten im Kirchentagspräsidium. Da waren viele, die spontan und freudig auf diese Losung zugingen. Der weite Raum, Raum der Freiheit, Raum zur freien Gestaltung. Aller Bedrängnis und Beklemmung entkommen, "mit meinem Gott über Mauern springen" (Psalm 18,30). Der weite Raum: Gegenbild zu Enge und Angst, zum Eingeschnürtsein in die Zwänge der verkrusteten Strukturen in Gesellschaft und Kirche - Raum zum Atmen, Spielraum, Raum zum Gestalten. Nicht länger ängstlich und defensiv auf die Sicherung der Bestände fixiert sein (die wachsenden Austrittszahlen und die sinkenden Einnahmen der Kirche, den schwindenden Einfluß der christlichen Werte - oder was man dafür hält), nein: Schritte ins Offene, phantasievolle und phantastische Ideen, neue Wege entdecken und gehen. Aber da war dann in der Debatte um die Losung rasch und gewichtig auch das Gegenbild. "Du stellst meine Füße auf weiten Raum." Das Bild kann auch Unsicherheit auslösen. Wie soll man sich einigermaßen sicher bewegen, wenn es keine Grenzen gibt, wie soll man auf unüberschaubarem Weg gehen können ohne Geländer, ohne Halt? Die Wahl des Kirchentagsplakats scheint mir auf ihre Weise diesen Zwiespalt zu kommentieren. Unter den vier zur Wahl gestellten Plakatentwürfen fiel die große Mehrheit der abgegebenen Stimmen (stimmberechtigt waren alle, die sich an dieser Wahl beteiligen wollten) auf das Plakat mit dem Kompaß, das in diesen Tagen allerorts zu sehen ist. Ich sehe in dieser Wahl einen Versuch, den weiten Raum nicht all zu unübersichtlich, den Weg nicht all zu richtungslos werden zu lassen. Immerhin will ich darauf beharren, daß ein Kompaß keinen Weg zeigt. Er zeigt, wo Norden ist und ermöglicht so eine Orientierung. Doch wohin ich gehen will, gehen soll - das sagt mir der Kompass nicht. Freilich ist es gut zu wissen, wo Norden ist, wenn ich, sagen wir, strikt nach Süden (oder mit Abram) irgendwie nach Westen gehen will. Der Kompaß hilft mir, den Weg auch zu gehen, den ich gehen will. Er nimmt mir nicht die Entscheidung ab, welchen Weg ich gehen will oder soll oder muß.

Hatte Abram (im übertragenen Sinne, versteht sich) einen Kompass? Der Aufbruchbefehl selbst spricht eher dagegen. Da heißt es in einer eigentümlichen und nur noch ein weiteres Mal (in 1Mose 22) vorkommenden Formulierung: läch-lecha: Man kann verdeutschen: "Geh, auf dich gestellt!", "Geh für dich" - womöglich kann man das (mit dem großen jüdischen Gelehrten Samson Raphael Hirsch, der in der Geschichte der Frankfurter jüdischen Gemeinde im 19. Jh eine herausragende Rolle spielt) noch schärfer verstehen: "Isolier dich!" Abram soll (und wird) gehen ohne Rückversicherung, ohne zu fragen, was die anderen sagen, die Mehrheit denken wird, ohne Anpassung an das, was üblich, ohne das Leitbild dessen, was "man tut". Der Schritt ins Offene ist verbunden mit Trennungen - kaum nur für Abram. Die Verheißung hat einen Preis. Abram muß sich entscheiden zwischen dem höchst fragilen Neubeginn und der sichernden Kontinuität. In einer Zeit, in der zunehmend das als richtig gilt, was die meisten sagen, in der die Akzeptanz der Vielen als Maßstab für Wahrheit gilt, Einschaltquoten über Qualität entscheiden, muß der Befehl an Abram grotesk und sein Befolgen geradezu als absurd erscheinen. "Sicherheit mit Dividende!" - das ist die zeitgemäße Losung: Sicher will ich sein und dabei noch was verdienen. Und am sichersten geht das, wenn ich mit dem Strom schwimme. Doch: "Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom." Das steht so nicht in der Bibel, das stand in Maos kleinem roten Büchlein - aber so ganz falsch muß es deshalb ja nicht sein. Abram aber folgt der Stimme Gottes - wir werden noch sehen, daß der Drang nach Sicherheiten auch für ihn noch eine große Bedeutung bekommen wird. In bestimmter Hinsicht sage ich "glücklicherweise", denn der Abram, der sich sichern will - und wenn es auf Kosten anderer geht - ist mir immerhin, wenn ich ehrlich bin, immer noch näher, als der, der allein auf Gottes Wort und sich selbst gestellt, geht. Für die Kritik an Abram und die dabei fällige Selbstkritik kommt noch Zeit und Ort - folgen wir dem Text. Der enthält eine riesige Verheißung.
IV. Ein Raum für verschiedene Völker
(...) Ich werde dich zu einem großen Volk machen
und dich segnen
und deinen Namen groß machen. (...)

Gott wird aus Abram ein großes Volk machen, Abram segnen und seinen Namen groß machen. Hier beginnt etwas ganz Neues. Und doch ist diese grandiose Anfangsgeschichte mit mehreren Fäden verbunden mit der vorausgehenden Erzählung vom "Turmbau zu Babel". Hatte sich (1Mose 10) die Menschheit - ausgehend von Noah und seinen Söhnen - entfaltet in Sippen, Völker und Sprachen, so kam es (Kap. 11) in "Babel" zu einem imperialen Versuch, die Vielfalt rückgängig zu machen zugunsten eines riesigen Einheitsprojekts mit einer eindeutigen, verordneten Sprache. Gott zerstört Stadt und Turm und stellt die Vielfalt wieder her. Die Vielfalt von Völkern und Sprachen ist keine Strafe Gottes, sondern die "Gott sei Dank" wieder hergestellte Vielfalt von Sprachen, Völkern und Kulturen gegen das Projekt imperialer, globaler Einheit. Mit dieser Globalisierung (geradezu "Globabelisierung") war das Bestreben verbunden, sich einen Namen zu machen. Der Größenwahn findet Ausdruck im "Babylonischen Turm!". Die Worte in den ersten Versen "unserer" Geschichte weisen auf das "Babelprojekt" zurück und eröffnen eine Gegenlinie. Abram macht nicht sich einen Namen, vielmehr macht Gott seinen Namen groß. Und in dem Wort "ich will groß machen" (we'agaddela) steckt ein Rückbezug auf den Turm (migdal).

Zu beachten ist aber vor allem das Wort für "Volk" in der Verheißung "Ich werde dich zu einem großen Volk machen". Hier steht nämlich das Wort, das ein Volk neben und mit anderen Völkern bezeichnet, das Wort goj. Wenn vom Volk Israel, von Gottes Volk die Rede ist, wird meist ein anderes Wort für "Volk" gebraucht, das Wort 'am. So gewiß in den Worten an Abram das künftige Volk Israel im Blick ist, so deutlich markiert die Wortwahl das große Thema, das dieses und die weiteren Kapitel durchzieht. Es geht um das Verhältnis dieses Volkes zu den Völkern, um Israels Geschichte im Raum der Völkerwelt. Das entscheidende Stichwort ist Segen. Nicht weniger als fünfmal kommen die Worte Segen, segnen in den Versen 2 und 3 vor. Damit ist ein Gegenton gesetzt zu den fünf Fluchworten in den 1Mose 12 vorausgehenden Texten. Die Worte: "Ich werde dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen" münden ein in einen Imperativ:

(...) Werde du ein Segen! (...)

Manchmal muß man die Grammatik eines biblischen Satzes sehr genau ansehen, um den Satz interpretieren zu können. So ist es hier, denn die hebräische Formulierung (wähjä bracha) bezeichnet ein Resultat, das aus dem zuvor Gesagten folgt. Es handelt sich also nicht um eine Aufforderung, der man nachkommen, die man auch aber verweigern oder verfehlen kann, vielmehr wird Abram ein Segen. Abrahams, Israels gesegnetes und segenspendendes Dasein und Sosein steht nicht zur Disposition. Diese Segenszusage gilt unbedingt. Wie aber steht es im Blick auf den Segen mit den übrigen Völkern? Die Aussage des folgenden Verses nimmt die Völker hinein in den Segensraum Abrams - freilich mit einer Bedingung, an die Gott sein eigenes Verhalten gegenüber den Völkern bindet:

Ich will segnen, die dich segnen;
die dich erniedrigen, verfluche ich.

Mit diesem Satz bindet Gott selbst sich in seinem Verhalten gegenüber den Völkern daran, wie sie sich verhalten gegenüber dem Volk, zu dem Abram werden wird. Menschen, Völker, die Abram segnen, wird Gott segnen; und wer Abram verflucht, gering achtet, wörtlich: leicht nimmt (hier formuliert der hebräische Text im Singular - es geht um den je einzelnen Menschen), den wird Gott verfluchen. Während der Segen je mit demselben Verb bezeichnet wird, finden sich im anderen Satzteil zwei Verben, die fluchen bedeuten, wobei Gott den Fluch mit einem womöglich noch substanzielleren beantworten wird.

Der Segensraum, den Abram und das Volk, zu dem er werden wird, auch für die anderen Völker eröffnet, wird im nächsten Satz noch einmal aufgenommen:

(...) In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde."

Dieser Satz und vor allem eine (hebräische) Formulierung in ihm hat zu einer langen und noch anhaltenden Debatte unter den Auslegerinnen und Auslegern geführt. Mehrere Übersetzungs- und mit ihnen mehrere Verstehensmöglichkeiten stehen neben- und gegeneinander. Eine Auffassung (vor allem Gerhard von Rad) versteht Abram als Segensmittler für alle Völker: "Durch dich sollen gesegnet werden alle Völker der Erde!" Der universale Segen für die ganze Welt wäre danach das Ziel des Segens für Abram. Das ist eine christlich universalisierende Sicht auf 1Mose 12. Aber wenn der Zweck des Segens für Abram der universale Segen für alle Völker wäre, wären dann nicht Abram und sein Volk geradezu zu einem Mittel für diesen Zweck geworden? Damit Israel nicht in dieser Weise instrumentalisiert wird, haben andere Ausleger (vor allem Erhard Blum) vorgeschlagen, Abram nicht als Segensmittler zu verstehen, sondern als einen geradezu paradigmatisch, vorbildlich Gesegneten. Möglich wäre in dieser Linie die Übersetzung: "Mit dir" (indem sie von dir als Beispiel sprechen) werden sich Menschen aller Völker Segen wünschen. Alle wünschten sich so gesegnet zu sein wie Abram. So bleibt der Segen bei Abram und Abrams Volk. Aber diese Auffassung enthält geradezu das umgekehrte Problem. Israel wird nicht instrumentalisiert, der Segen Abrams kann anderen wie ein Vorbild erscheinen, aber sie haben bei dieser Auffassung keine Möglichkeit, an diesem Segen Anteil zu bekommen. So spricht vieles für eine (von Magdalene L. Frettlöh eingebrachte) dritte Möglichkeit, die auch in die Kirchentagsübersetzung eingegangen ist: "In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde." Die Völker können hineinkommen in den Segensraum Abrahams und Israels, aber nicht, indem sie Israel enteignen und sich an die Stelle Israels setzen, sondern indem sie sich in diesen Segensraum hineinbegeben, sich mit-segnen lassen. Wie das gehen kann, ist im Gotteswort des vorangehenden Satzes klar benannt. Es geht um ein Tun, ein Handeln an und mit Israel:

Ich will segnen, die dich segnen; die dich erniedrigen, verfluche ich.

Völker und Menschen aus den Völkern kommen in den Blick in diesen ersten Worten an Abra(ha)m. Sie sind in dieser Bestimmung mit hineingenommen in die Beziehung zwischen Gott und Abra(ha)m, dem Gott Israels und dem Volk Israel. Aber sie kommen nur vor in diesem Mit-hineingenommen-Sein, nicht außerhalb der Beziehung zwischen Gott und Abraham - und erst recht nicht so, daß sie sich (wie es in der Christentumsgeschichte nur zu oft geschehen ist und bis heute geschieht) an die Stelle Abrahams und seiner Kinder setzen könnten.
V. Offene Wege
Abram tut, was Gott ihm gesagt hat; er verläßt Vaterhaus und Heimatland, um in das Land zu gehen, das Gott ihm zeigen wird. Abram geht auf sich gestellt, doch nicht allein:

Da ging Abram, wie Adonaj ihm gesagt hatte, und Lot ging mit ihm.

Lot, Abrams Neffe, zieht mit. Die Geschichten der Abramfamilie und der Lotfamilie kommen in den folgenden Kapiteln mit- und auch gegeneinander zur Sprache. Mit ihnen werden sich unterschiedliche Formen des Gehens und Bleibens verbinden. Lots Geschichte und mehr noch die seiner Frau und die seiner Töchter enthalten dramatische und bedrückende Erfahrungen. Sie wären gewichtig (und irritierend) genug, ihnen eigene Aufmerksamkeit zu widmen. Doch für diesmal müssen wir uns auf Abram und Sarai beschränken. Folgen wir ihren Wegen:

Abram war 75 Jahre alt, als er aus Charan hinauszog.
Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, seinen Brudersohn,
und alle Habe, die sie erworben hatten,
und die Leute, die sie sich in Charan zu eigen gemacht hatten;
sie zogen aus, um in das Land Kanaan zu gehen,
und sie kamen in das Land Kanaan.

Diese Sätze lassen einiges über die Familienstruktur der erzählten Zeit erkennen. Vorausgesetzt ist eine Großfamilie, zu der mehrere Generationen und auch die abhängigen Personen gehören. "Chef" der Großfamilie ist der "Vater". Solange er lebt, verfügt er über die gesamte Familie, über die Frau(en) ebenso wie über die Kinder, auch wenn die längst erwachsen sind. Freilich, Abram und Sarai hatten keine Kinder, denn - so steht es schon in Kap. 11: Sarai war quälend lange kinderlos. Dieses Schicksal teilt sie mit vielen Frauen der Erzelterngeschichten.

"... und sie kamen in das Land Kanaan." Abram also zieht mit allen zu seiner Großfamilie gehörenden Personen sowie mit den Tieren und aller Habe nach Kanaan.

Abram durchzog das Land bis zum Ort Sichem, bis zum Baum Moräh.

Was es mit diesem Baum auf sich hat, ist nicht ganz klar. Es handelt sich womöglich um eine "Orakeleiche", einen heiligen Baum. Der nächste Satz bringt eine ganz andere Frage ins Spiel:

Und da wohnte das kanaanäische Volk im Land.

Das Land ist nicht leer, es ist bewohnt, bewohnt vom Volk der Kanaanäer. Die auf den ersten Blick unscheinbare Notiz eröffnet ein Problemfeld, indem sie die zuvor gegebene Bestimmung des Verhältnisses zwischen Abrams Volk und den anderen Völkern aus einer abstrakten Relation in die politische Realität bringt. Wie kann die gleich im nächsten Vers ausgesprochene Verheißung des Landes für Abrams Nachkommen Wirklichkeit werden, wenn doch andere Menschen und Völker dort schon wohnen? In der Bibel gibt es das Konzept der Eroberung und Vertreibung, es gibt aber in derselben Bibel auch ganz andere Konzepte - und gerade im 1. Mosebuch solche einer friedlichen Koexistenz. Worauf ist zu hoffen, worauf zu setzen, auf welchen Normen und regulativen Ideen soll das reale Leben der Völker basieren? Im nachexilischen Israel wurde diese Frage neu virulent. In der Gegenwart der verschiedenen Nachkommen Abrahams ist sie virulent. Wie kann sich das Zusammenleben zwischen verschiedenen Völkern und Religionen gestalten? Welche Bilder hat man voneinander, welches Verhalten entspringt solchen Bildern? Wir werden noch sehen, wie die Geschichte in 1Mose 12 mit eben diesen Fragen zu tun bekommt. An dieser Stelle steht der Satz "Und da wohnte das kanaanäische Volk im Land" wie ein Merkzeichen. Hören wir, wie es weiter geht.

Adonaj ließ sich sehen vor Abram und sprach:
"Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land."
Er baute dort einen Altar für Adonaj,
denn Gott hatte sich vor ihm sehen lassen.
Und Abram brach von dort ins Gebirge bis östlich von Bet-El
und spannte sein Zelt auf, Bet-El im Westen und Ai im Osten.
Und er baute dort einen Altar für Adonaj
und rief den Namen "Adonaj" an.
Danach zog Abram weiter südwärts in den Negev.

Abram war in Kanaan, seinem Zielraum angekommen, aber er wurde in diesem Raum nicht seßhaft. Wir sollten uns an dieser Stelle der Erzählung keine armen Flüchtlinge vorstellen, die durch ein fremdes Land hetzen, sondern eine große und starke, eine reiche Gruppe, die das Land weiträumig durchzieht und in Zelten lebt. "Sesshaft" (wenn man das so sagen darf) werden Abraham und Sara, Isaak und Rebekka, Jakob und seine Frauen erst im Grab. Orte ihrer Wege werden genannt, die später eine große Rolle spielen werden in der Geschichte Israels, Orte die - in der Erinnerung derer, die die Abrahamgeschichten so erzählten und weiter erzählten - eine große Rolle in der Geschichte Israels gespielt haben. Abram baut einen Altar für Gott, doch er opfert nicht auf diesem Altar. Seine Beziehung zu Gott beruht im Anrufen des Gottesnamens. Gott ist in seinem Namen präsent. Doch nicht alles, was "in Gottes Namen" geschieht, läßt sich mit dem Namen Gottes vereinbaren. Auch in Abrahams Geschichte nicht, wie wir gleich sehen werden. Die Geschichte geht weiter, sie geht so weiter, daß der weite Raum zunächst ganz eng wird.
VI. Geschlossen, eingeschlossen, ausgeschlossen
Es kam eine Hungersnot über das Land.
Abram machte sich auf den Weg hinab nach Ägypten,
um dort als Fremder Aufnahme zu finden -
schwer war ja der Hunger im Land.

Der Hunger macht den weiten Raum eng. Abram und Sarai gehen nach Ägypten. Sie sind - so nennt man das heute - Wirtschaftsasylanten, gar: Scheinasylanten. Die in diesem Begriff steckende perfide Unterscheidung zwischen Wirtschaftsflüchtlingen und "echten" Asylanten unterstellt ja, daß Hunger so etwas ist wie ein Naturgeschehen oder gar eine Folge eigener Faulheit, jedenfalls nicht etwas, das mit der Frage nach Gerechtigkeit in der Welt zu tun hat. Immer wieder erzählt die Bibel von solchen Wirtschaftsflüchtlingen, Abram und Sara sind keineswegs die letzten. Im letzten Teil des Buches "Genesis" wird erzählt, wie die Jakobsippe aus eben solchen Gründen nach Ägypten kommt, wie sie dort von Josef und von Pharao versorgt wird und in Ägypten bleibt. Und die in "unserem" Text nun folgende Geschichte wird, was ihre Grundzüge angeht, gleich dreimal erzählt. Abraham erlebt fast dasselbe noch einmal im Gebiet des Königs Abimelech von Gerar (1Mose 20), und auch seinem Sohn Isaak und dessen Frau Rebekka bleibt die Wiederholung nicht erspart, wie in 1Mose 26 erzählt wird. Die Geschichten sind in der Bibel als Wiederholungen erzählt; zuweilen muß man etwas noch einmal erleben, und nur in seltenen Fällen hat man aus einer Geschichte oder gar aus der Geschichte so viel gelernt, daß einer und einem die Wiederholung erspart bleibt.

Wirtschaftsflüchtlinge gehören zur Realität nicht nur, aber auch des Altertums und das Wirtschaftsasyl auch. Es gibt ägyptische Dokumente, die den Vorgang schildern. So ist in einem "Grenztagebuch" eines ägyptischen Beamten aufgezeichnet, daß Nomaden in Hungersnotzeiten die ägyptische Grenze überschritten, um zeitweilige Zuflucht baten und diese Zuflucht auch erhielten. In Israels Erinnerung ist diese Erfahrung grundlegend geblieben. Keine Norm wird in den Gesetzen der hebräischen Bibel so oft und so intensiv eingeschärft wie die, die Fremden nicht zu bedrücken. In immer neuen Variationen lautet die Begründung: Du weißt, wie es Fremden zumute ist. Du kennst das Herz der Fremden. Du selbst warst Fremdling in Ägypten. Ägypten wurde für Israel das Land des Sklaven-, des Arbeitshauses, das Land, aus dem Gott sein Volk herausführte. Aber Ägypten war und blieb zugleich das Land, in dem die Mütter und Väter Zuflucht fanden, als Fremde leben und überleben konnten. Das pharaonische Ägypten war kein Unrechtsstaat, im Gegenteil: ein ausgesprochener Rechtsstaat. Doch man kann (das gilt nicht nur für das pharaonische Ägypten) auch mit den herrschenden Gesetzen Unrecht tun. Ohne Risiken war daher eine solche Asylsuche gewiß nicht. Hätte Abram nicht sehen müssen, was da auf ihn und vor allem auf Sarai zukommt, und die Reise nach Ägypten unterlassen müssen? So fragen die mittelalterlichen jüdischen Gelehrten und sind sich nicht einig. Manche sehen hier eine Schuld Abrams, der die eigene Sicherheit höher stelle als das Vertrauen auf Gott. Doch andere weisen auf die reale Not hin (zweimal ist im Text der schwere Hunger betont), und sie erinnern an den talmudischen Grundsatz, man dürfe sich nicht auf ein Wunder stützen (bKidduschin 39b).

Und noch etwas findet sich im Talmud als ein Gebot (bBaba Qamma 60b), indem es unter direkter Bezugnahme auf "unseren" Text heißt: "Ist Hungersnot in der Stadt, so zerstreue deine Schritte", d.h. geh in ein anderes Land! In Hungerzeiten ist es Menschenrecht, ja, folgen wir den Rabbinen, Menschenpflicht, für sich und die Seinen ein Land aufzusuchen, in dem man zu essen hat. Freilich ist das (und auch das wird an dieser Stelle des Talmud gleich im Anschluß bedacht), nicht ohne Risiko. Abram selbst sieht vor allem ein Risiko, das mit seiner Frau zusammen hängt, um die es von nun an geht. Das immer wieder auftauchende Wort "Frau" wird zum Leitwort des folgenden Textes. Daß sich alles um eine Frau dreht, heißt aber noch lange nicht, daß diese Frau auch als Subjekt wahrgenommen wird. Hören wir Abrams Besorgnis:

Als er sich Ägypten näherte,
sprach er zu Sarai, seiner Frau:
"Sieh doch, ich weiß ja,
du bist eine Frau, die schön anzusehen ist.
Wenn dann die Ägypter dich sehen, werden sie sagen:
'Das ist seine Frau',
und sie werden mich töten, dich aber leben lassen.

Abram fürchtet, die Schönheit seiner Frau Sarai werde ihm zum Verhängnis werden. Denn wenn ein hoher Herr in Ägypten ein Auge auf sie werfe, werde er sich des lästigen Ehemanns wohl entledigen. Daß hohe Herren so handeln, wußte man in Israel durchaus auch aus der eigenen Geschichte. Denn eben so handelte David an Uria, dem (übrigens ausländischen) Mann der Batscheba. David sah Batscheba, sah, wie schön sie war, begehrte sie und nahm sie. Die Erzählung im 2. Samuelbuch kritisiert David hart. Aber was kritisiert sie? Um Batscheba und ihr Geschick geht es da kaum. Dass David über sie und ihre Sexualität schlicht verfügte, kommt ins Bild wie ein Eigentumsdelikt gegenüber ihrem Ehemann, jedenfalls als eine Sache zwischen den beteiligten Männern. So denkt (aus der Perspektive des Schwächeren in der möglichen Männerrivalität) auch Abram - und was das Kommende betrifft, denkt er zunächst einmal mit Recht so. Doch der Erzvater ist schlau und weiß einen Ausweg:

Sag doch, du wärst meine Schwester,
damit es mir auf deine Kosten gut geht
und ich mein Leben dank deiner behalte."

Wird man den Ehemann einer Frau, auf die man selbst scharf ist, töten, um ihn aus dem Weg zu räumen, so wird man (so sagt sich Abram) den Bruder einer schönen Frau hofieren, ihn gut versorgen - oder sagen wir's ehrlicher: gut bezahlen für seine Einwilligung. Alles hat dann ja seine Ordnung, und Abram ginge es gut. Gut "auf Kosten" seiner Frau. So läßt es, unverstellt, die Erzählung Abram selbst ausdrücken. Mangelnde Ehrlichkeit wird man dem Erzvater nicht vorwerfen können. Freilich: Sarai wird in einem Harem verschwinden. Ich stelle mir vor, dass das Abram auch irgendwie leid tut, aber Opfer müssen eben gebracht werden in schweren Zeiten, und so können doch immerhin beide überleben und Abram vielleicht nicht einmal schlecht, ja viel besser, als es einem Wirtschaftsflüchtling im allgemeinen vergönnt sein dürfte. Und hatte (ich imaginiere weiter, wo der Text selbst vieles offen läßt) nicht Sarai ein ums andere Mal gesagt, sie wolle alles tun, damit es Abram nur gut gehe? Warum soll sie nicht beim Wort genommen werden, wenn es hart auf hart geht? Sie hatte das doch wohl hoffentlich ganz ernst gemeint ... Und schließlich: Wenn es so komme, wie es zu erwarten stehe, dann bleibe der Harem eines reichen Ägypters oder Pharaos der Sarai so oder so nicht erspart. Für sie gehe es also nur um die Alternative, ob sie als vermeintliche Schwester oder als Witwe Abrams in einem ägyptischen Harem leben werde. Aber für ihn gehe es um Leben oder Tod, um die Alternative, getötet zu werden oder ("auf deine Kosten") ein gutes Leben zu haben. Und (so könnte Abram hinzufügen, wie er es in der Wiederholungsgeschichte in 1Mose 20 tut): Eine richtige Lüge ist das übrigens auch nicht, schließlich bist du ja meine Halbschwester. Und wenn die Ägypter daraus schließen, dass wir nicht verheiratet sind, dann ist das schließlich ihr Problem. Nicht einmal eine wirkliche Unwahrheit also, und sie kann mein Leben retten. -

Sarai schweigt. -

Ich phantasiere weiter und stelle mir vor, wie Abram in tiefste Krisen gerät: Wenn es nur um mich ginge (höre ich ihn sagen), ich würde, wenn es denn irgend etwas nützte, mein Leben geben für dich und deine Unversehrtheit. Aber es geht nicht nur um mich; es geht um das, was ER (und nun höre ich Abram tief bewegt reden) - es geht um das, was Gott mit mir vor hat. Ich bin ja nicht nur der einst wohlhabende und nun hungernde Nomade, ich bin (Abram richtet sich auf) der Träger einer großen Verheißung. Ich weiß es noch wie heute, ich höre die Stimme Gottes ganz nah: "Geh für dich" - ich habe also die Pflicht, für mich, für mein Wohlergehen zu sorgen. Nur so kann ich zum Segen auch für andere werden. Und auch das hat ER zu mir gesagt, zu mir allein: "Ich werde dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen. Werde du ein Segen! Ich will segnen, die dich segnen, die dich erniedrigen, verfluche ich. In dir sollen sich segnen lassen alle Völker der Erde." Hat je ein Mensch eine solche Verheißung bekommen? Ich bin es mir und dir, ich bin es aller Welt schuldig, das meine zu tun, sie nicht zu gefährden! Was soll aus dieser Verheißung werden, wenn ich hier in Ägypten beiseite geräumt werde, nur weil du so attraktiv bist!? Mein Same, meine Nachkommen werden das Land erben. So hat ER es gesagt: "Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land." Es geht nicht um mich und mein elendes Leben, das ich, ich sage es noch einmal, gern für dich hergäbe. Aber du mußt einsehen: Es geht um mehr, um viel, viel mehr.

Diese Beweggründe und Worte stehen nicht im Text; es ist meine Phantasie in den Lücken des Textes, die mich Abram so denken, so reden läßt und die mich annehmen läßt, dass er all das ganz ernst meint, ganz tief empfindet. Wir könnten auf solche Verstehensversuche verzichten und uns mit der Aussage begnügen, das seien nun einmal andere Zeiten gewesen, die mit unseren moralischen Maßstäben nicht zu messen seien. Das aber wäre am Ende noch überheblicher und verächtlicher als jede Kritik an Abram. Wir könnten uns den Erzvater auch als schlichten Macho vorstellen, der leichtfertig und zynisch seine Frau preisgibt und es sich auf ihre Kosten gut gehen lassen will. Aber ich meine, daß die Sache noch dramatischer (und im Blick auf mein eigenes Verhalten, meine eigenen Konfliktlösungsstrategien noch kritischer) wird, wenn ich mir Abram an dieser Stelle als einen Menschen vorstelle, der sein Tun mit höchst altruistischen Begründungen versieht und eben diese Begründungen auch glaubt. Abram opfert Sarai, um Gottes Verheißung zu retten. Er tut, was er tut, "um Gottes willen". Müssen denn nicht zuweilen die kleinen und auch die nicht so kleinen Schurkereien sein, damit das Große und eigentlich Wichtige nicht in Gefahr gerät? Wenn schon die Parteiraison zuweilen verlangt, um der größeren Sache willen zu lügen, zu betrügen, Andersdenkende wider besseres Wissen zu diffamieren, wenn das gegebene Ehrenwort einen Gesetzesbrecher zu einem tragischen Helden stilisieren kann, ist es dann nicht geboten, (ich springe wieder in die biblische Geschichte) lieber das Wohlergehen einer einzelnen Frau als Gottes Verheißung preiszugeben. Ich stelle mir vor, dass Abram sich selbst als tragischen Helden begreift. Wenn der tragische Held selbst noch komfortabel davon kommt, um so besser! Und wenn er sich zugleich als Realist ausgeben kann - noch besser! Denn könnte nicht Abram bei allem, was nun geschieht, ein ums andere Mal ausrufen: Da sieht man mal, wie Recht ich hatte!? Denn es geschieht eben so, wie Abram es vorausgesehen (und mit eingefädelt ...) hatte:

Als Abrahm nach Ägypten kam, sahen die Ägypter die Frau:
Ja, sie war sehr schön.
Die Mächtigen Pharaos sahen sie und priesen sie vor Pharao.
Da wurde die Frau in den Harem Pharaos gebracht.
Und Abram ging es gut auf ihre Kosten.
Er bekam Schafe und Rinder und Eselhengste und Sklaven und Sklavinnen und Eselinnen und Kamele.

Ägypter sehen die schöne Sarai, Mächtige überzeugen sich von dem Eindruck, melden es dem Allermächtigsten, und der greift zu. Sarai wird be- und gehandelt wie ein besonders attraktiver Gegenstand, wie eine Ware. Und Abram erging es gut auf ihre Kosten. Die Erzählung konstatiert das in kalter Präzision. Als Bruder der schönen Frau wird er großzügig entlohnt für die Ware, die er zu geben hat. Pharao, so könnte man auch sagen, läßt sich nicht lumpen. Und überhaupt: Ein Lump ist Pharao nicht. Niemand könnte ihn wohl zwingen, den Bruder einer Frau, die er in seinen Harem nehmen will, so gut zu stellen. Hielte Abram die Ägypter allesamt für Lumpen, so hätte seine Rechnung gar nicht aufgehen können. Man hätte ihn ja auch umbringen können, um die Brautgabe für den vermeintlichen Bruder zu sparen. Abram entwirft, was die Ausländer angeht, ein merkwürdiges Doppelbild. Er hält sie für so gewissenlos, dass er auf seinen Tod rechnet, solange er als Mann der schönen Frau angesehen werde. Andererseits hält er dieselben ägyptischen Ausländer für so ehrbare Kaufleute, dass er auf seine Alimentierung rechnet, wenn er nur als Sarais Bruder durchgehe.

Zunächst geht nun alles, wie Abram es vorausgeahnt, vorausgeplant hatte. Wie aber sieht das ganze aus Sarais Sicht aus? - Sarai schweigt. - Sarai wird nicht gefragt, von Abram nicht, von den Ägyptern nicht, von Pharao nicht. Sie ist - grammatisch und sachlich - Objekt:

Als Abrahm nach Ägypten kam, sahen die Ägypter die Frau:
Ja, sie war sehr schön.
Die Mächtigen Pharaos sahen sie und priesen sie vor Pharao.
Da wurde die Frau in den Harem Pharaos gebracht.
Er bekam Schafe und Rinder und Eselhengste und Sklaven und Sklavinnen und Eselinnen und Kamele.

VII. "Es ging um Sarai"
Wie ein Paukenschlag durchbricht der folgende Satz den Fluß der Erzählung. Die Gewichtungen zwischen den handelnden und behandelten Personen werden umgestülpt:

Da schlug Adonaj Pharao mit harten Schlägen - auch sein ganzes Haus. Es ging um Sarai, Abrams Frau.

Es ging um Sarai, Abrams Frau. So haben wir die hebräischen Worte al dvar sarai übersetzt. Das ist eine Möglichkeit, vermutlich die im Text gemeinte. Aber beim hebräischen Wort davar ist es so ähnlich wie beim griechischen logos; es kann Sache bedeuten, aber auch Wort und manches weitere. Und so kann man auch ganz wörtlich verstehen, Gott habe Pharao geschlagen: "auf das Wort der Sarai". Blieb sie also doch nicht stumm? Aber dann wäre zwar vom Wort der Sarai die Rede, doch kein Wort von ihr wäre mitgeteilt. Und zu wem spräche sie ihr Wort? Der Midrasch, die erzählende rabbinische Auslegung (Bereschit rabba, Par. 41), spielt mit der Möglichkeit, daß es da um ein Wort Sarais gehe. Im Diskurs der Gelehrten werden gleich drei Adressaten des Wortes ins Spiel gebracht. Rabbi Berachja schlägt vor, zu Gott habe Sarai geredet: "Herr der Welten! Abraham ist mit einer Verheißung ausgezogen und ich mit Vertrauen. Abraham ist außer Not, und ich bin in Not." Da habe Gott ihr geantwortet, alles geschehe um ihretwillen. Rabbi Levi bringt andere Möglichkeiten ins Spiel: Um Sarai vor Pharaos Zudringlichkeit zu schützen, habe die ganze Nacht ein Engel mit einem Knüppel dagestanden. Der habe zu Sarai gesagt: Sobald du sagen wirst "Schlage!", so schlage ich, sobald du sagen wirst: "Hör auf!", so höre ich auf. Und auch Pharao wird als Adressat eines Wortes Sarais ins Spiel gebracht. Er sei nämlich zudringlich geworden, obwohl Sarai ihm gesagt habe, sie sei eine verheiratete Frau.

Mehr als eine Möglichkeit also, die Worte zu verstehen. Blieb Sarai stumm, oder macht der Text sie wieder stumm, indem er von ihrem Wort spricht und es nicht nennt? Dann kann das Nach- und Neu-Erzählen Sarai ihre Stimme zurückgeben, wie es die jüdische Überlieferung tut. Hat Sarais klagendes und anklagendes Wort Gott selbst daran erinnert, dass da etwas fehlte in den Segens- und Verheißungsworten an Abram? Vieles noch kann man sich vorstellen. Der weite Raum der Deutungsmöglichkeiten steht im Gegensatz zur Enge des Raums, in dem Sarai sich befindet. Nur auf Spekulationen führt auch die Frage, was konkret wir uns vorstellen sollen unter jenen harten Schlägen, mit denen Gott Pharao und sein ganzes Haus schlug. Irgend etwas traf Pharao und sein Haus, und das, was da zuschlug, zeigte, daß es um Sarai ging. Eine plötzliche Krankheit, die Pharao und sein Haus traf, womöglich eine, die man mit dem mindestens geplanten sexuellen Zugriff auf Sarai in Verbindung bringen konnte - eine Art epidemischer Impotenz womöglich? Eine Katastrophe, die den Palast oder ganz Ägypten heimsuchte? In Frage kommen alle die "Ägyptischen Plagen", die am Beginn der 2. Mosebuches berichtetet werden, wenn es darum geht, nicht den Exodus der Sarai aus dem Machtbereich Pharaos zu bewirken, sondern den des ganzen Volkes Israel. Diese Verknüpfung zwischen "unserer" Geschichte und der Exoduserzählung ist nun keine Spekulation, sie ist im Text selbst deutlich markiert, indem die Formulierung" Da schlug Adonaj Pharao mit harten Schlägen" eine der Plagenerzählungen ist.

Die Geschichte der Befreiung Sarais ist Vor-Bild der Exodusgeschichte. Es ging um Sarai - es geht um ganz Israel. Aber ebenso auch umgekehrt: Es ging um ganz Israel - es geht um Sarai! Hier wird es ganz deutlich: Die Erzählungen des 1. Mosebuches von Kapitel 12 an sind eben keine Erzvätergeschichten, sondern Erzelterngeschichten, und die (so nennt man in der Tradition Abraham, Isaak und Jakob auch) Patriarchen müssen lernen, dass ihr Patriarchat mit dem Willen Gottes nicht identisch ist. (Wir, die lange Zeit fast ausschließlich raumbeherrschenden männlichen Exegeten, konnten und können das, belehrt durch Exegetinnen - im Blick auf die Erzelterngeschichten von Irmtraud Fischer vor allem -, dann noch einmal lernen.)

Gott nimmt Partei für Sarai. Jetzt nimmt Gott Partei für Sarai. Das ist nicht weniger als eine Korrektur der Verheißung der Nachkommenschaft an Abram. Nicht: Abram wird Nachkommen haben, sondern: Abram und Sarai werden Nachkommen haben. Was Abram tat, womöglich auch um die Verheißung zu sichern, gefährdet eben diese - mindestens die mit diesem letzten Satz korrigierte - Verheißung. Gott selbst kann lernen, kann sich korrigieren. Ein für manche verstörender Gedanke. Aber die Bibel kann von Gottes Lernen, ja von Gottes Reue erzählen. Und auch diese Stelle kann ich nur so verstehen. Gott erinnert sich daran, dass der Segen nicht auf einen Männersegen halbiert bleiben darf, soll er Segen für die Welt werden. Dass es um Sarai geht, korrigiert die Verheißung und den Segen, wie sie in den allein männlichen Formen am Anfang des Kapitels formuliert sind. (Eine Korrektur vielleicht auch des Segens allein über die Männer - Noah und seine Söhne - am Beginn von 1Mose 9?).

Es gibt noch mehr zu korrigieren; wir sind noch nicht ganz am Ende der Erzählung angekommen. Sie hat noch eine Überraschung in petto, die Pharao betrifft. Ich lese den Text bis zum Schluß:

Pharao rief Abram und sprach:
"Was hast du mir da angetan? Warum hast du mir nicht erzählt, dass sie deine Frau ist?
Warum hast du gesagt: 'Sie ist meine Schwester'?
So habe ich sie mir zur Frau genommen.
Nun sieh: Sie ist deine Frau.
Nimm sie und geh!"
Und Pharao ordnete Männer für ihn an,
ihn und seine Frau und alles, was er hatte, fortzubringen.

Pharao hat gemerkt, dass es die großen Schläge, die ihn und sein ganzes Haus trafen, mit Sarai zu tun hatten, mit Abrams Frau. Und so wendet er sich an Abram. Sarai selbst kommt nicht zu Wort. Ein Männergespräch also um eine Frau, Patriarchen unter sich. Wieder drängt sich der Eindruck auf, es gehe bei der Sexualmoral in Wahrheit um Eigentumsfragen. Das Verhalten gegenüber Frauen wird zum Problem, wenn sich dabei Männer in die Quere kommen. Und so kann man mit Fug fragen, ob Pharao wirklich begriffen hat, dass es um Sarai geht. Und doch: Die Erzählung zeichnet ein erstaunliches Bild vom ägyptischen König. Könnte man nicht nach allem erwarten, dass Pharao Sarai und Abram als die Schuldigen ausmerzen lässt? Kann er zulassen, dass hergelaufene Nomaden aus dem Lande Kanaan solches Unheil über ihn, den geliebten Sohn der Götter und ägyptischen Allherrscher bringen?

Gewiß berichtet "unser" Text nicht, wie es damals in Ägypten "wirklich gewesen". Er entwirft Bilder, aber korrigiert auch Bilder. Denn Pharaos Verhalten durchkreuzt die Imaginationen Abrams. Abram hatte sein Tun begründet mit seinem Bild der brutalen und geilen Ausländer, vor denen keine anständige Frau sicher ist. Und nun dieser Pharao. Das erste ist: Er sieht eine eigene Schuldverstrickung. Dass ihm Unheil widerfuhr, begreift er als Folge seines Übergriffs auf die Frau Abrams. Aber er gibt diese Schuld mit allem Recht an Abram zurück. "Was hast du mir da angetan?", fragt er, und diese Frage verbindet seine Geschichte mit anderen in der Genesis. "Was hast du da getan?" - fragt Gott Adam im Garten in Eden, "Was hast du da getan?" - fragt Gott den Brudermörder Kain. Abram hat den ausländischen Mann in Schuld verstrickt. Das lastet auf ihm wie die Preisgabe Sarais selbst. Pharao gibt die Verantwortung an Abram zurück. Das ist ein im Rahmen seiner Logik berechtigter Haftungsvorhalt. Man könnte aber auch sagen: Pharao achtet das Gottesrecht mehr als Abram. Dieser Ausländer verhält sich nicht so, wie Abram erwartet hatte. Ist das nicht auch ein Kommentar zu der an früherer Stelle notierten Problemanzeige, nach der es im verheißenen Land, im weiten Raum um ein Zusammenleben verschiedener Völker und Kulturen geht? Die Erzählung ist auch eine über die Gefahr von Vorurteilen und Vorverurteilungen.

Freilich: Pharao will die Menschen, die ihn in solche Bredouillen bringen, nicht im Lande haben. So schickt er sie weg. Er beläßt ihnen großzügig alle Habe, auch die Brautgaben, die Abram für Sarai bekommen hatte. "Geht mit Gott", höre ich Pharao sagen, "geht mit Gott, aber geht!" Eine komfortable Abschiebung in einen weiten Raum. Die Geschichte endet, wie sie begann: mit dem Imperativ "geh!". Abram und Sarai gehen (ich will mir vorstellen, dass sie nun zusammen gehen) abermals nach Kanaan. Es geht wieder von vorn los.

VIII. Verschiedene Schlüsse
Es geht wieder von vorn los. Aber die Wiederholung ist nicht die ewige Wiederkehr des Gleichen. Gewiß: Auch und gerade "unsere" Geschichte wiederholt sich noch zweimal. Es ist oft mit einem Mal nicht getan, wenn man etwas Schwieriges lernen muß. Die Erzväter und auch die Erzmütter sind in der Darstellung der Bibel selbst nicht ohne Fehl und Tadel. Das unterscheidet sie von den unechten Heldinnen und Helden manch anderer Literatur. Das ist ein weites Feld. (So steht das berühmte Zitat in Adalbert Stifters "Nachsommer"). Vielleicht ist es auch ein zu weites Feld (so steht es in Theodor Fontanes "Effi Briest"). Ein weites Feld - ein zu weites Feld? Allemale ein mehrdeutiger Beitrag zur Kirchentagslosung.

Und was ist "die Moral von der Geschicht"? Wir sollten nicht versuchen, die Quintessenz einer biblischen Geschichte zu destillieren und in Flaschen abzufüllen. Was die Geschichte zu sagen hat, sagt sie als diese Geschichte - in allen ihren Sätzen und Worten. Und doch gibt es da das eine oder andere mit dieser Geschichte und über sie hinaus zu beherzigen. Ich versuche deshalb (angeregt durch die biblischen Nacherzählungen, die der polnische Philosoph Leszek Kolakowski in seinem wunderbaren Buch "Himmelsschlüssel" verfaßt hat und die jeweils mit einem oder mehreren Sätzen zur "Moral" enden) einige Schlußfolgerungen zu formulieren:

Moral: Wenn wir eine Schurkerei begehen, damit wir auf Kosten anderer gut leben, lasst uns diese Schurkerei wenigstens nicht mit einem höheren Zweck adeln. Denn niemals heiligt der Zweck die Mittel, vielmehr werden noch die heiligsten Zwecke durch unheilige Mittel in den Dreck gezogen.

Eine andere Moral: Das, was uns ganz wichtig ist, wollen wir sichern. Aber der Versuch, ganz sicher zu gehen, erzeugt die größte Unsicherheit. Was ich sichern will, kann gerade durch den Versuch der Sicherung verloren gehen. Beispiel: Abram.

Dritte Moral: Wenn wir uns im Besitz einer göttlichen Verheißung wähnen, sollten wir mit der Möglichkeit rechnen, daß Gott selbst lernfähig ist, sich korrigieren und wahrnehmen kann, dass da etwas gefehlt hat. So war es, wo es zunächst nur um Abram zu gehen schien. "Es ging um Sarai."

Und noch eine mögliche Moral: Wenn wir meinen, genau ausrechnen zu können, wie die anderen, z.B. "die Ausländer" sich verhalten, könnten wir uns sehr irren. Beispiel: Pharao.

Schließlich: Wenn Menschen hungern und deshalb ein anderes Land aufsuchen, in dem sie genug zu essen bekommen können, dann nehmen sie ein Menschenrecht, eine Menschenpflicht wahr. Wer diese Menschen als "Scheinasylanten" denunziert, verachtet ein Menschenrecht, verstößt gegen eine Menschenpflicht.

Einstweilen letzte Moral: Es ist schön, wenn unsere Füße auf weiten Raum gestellt sind. Es bedarf aber auch der "Raumpflege", damit die weiten Räume nicht zu weite und eben darum wieder ganz enge Räume werden. Gewiß: Wir sollen auf der Freiheit bestehen. Aber viel schwieriger kann es sein, in Freiheit bestehen zu können.

copyright by Jürgen Ebach

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