Jerusalem - Nabel der Welt.

Stadt und Tempel im Schnittpunkt dreier Weltreligionen

von Michael Tilly

Im Midrasch Pesikta Rabbati, einer frühmittelalterlichen jüdischen Predigtsammlung, heißt es:

So predigte R. Tanchuma b. R. Abba: Dies [ist] das, was gesagt wurde im heiligen Geist durch Salomo: "Dein Nabel ist eine runde Schale; der Mischtrank möge ihr nicht fehlen usw" Was [bedeutet] "dein Nabel"? Dies [ist] der Große Sanhedrin, das Gericht, das in Jerusalem war und [in] Kapitalprozessen Recht sprach. Und warum vergleicht sie es mit einem Nabel[, indem die Schrift sagt:] "dein Nabel"? Weil der Sanhedrin so, wie dieser Nabel in der Mitte des Menschen angebracht ist, in Jerusalem zu sitzen pflegte, denn Jerusalem ist die Mitte der Welt.
Pes r § 10 zu Ex 30,12 (p. 34a, 6ff. Friedmann)

Jerusalem gilt drei monotheistischen Weltreligionen - dem Judentum, dem Christentum und dem Islam - als eine heilige Stadt. Der Felsendom, die Klagemauer und die Grabeskirche versinnbildlichen ihre zentrale Bedeutung. Die Bezeichnungen des irdischen Jerusalems und seines Heiligtums als "Nabel der Welt"; als "Mittelpunkt der Welt" und als Ort, an dem sich der "Gründungsstein" befindet, der Fels, von dem der jüdischen Sage nach die Weltschöpfung ihren Ausgang nahm und der als Verschlußstein der Urflut diente, diese Bezeichnungen bezeugen die außergewöhnliche Stellung von Stadt und Tempel in der religiösen Überlieferung, in der Liturgie und Architektur sowie im tradierten religiösen Brauchtum. Sie spiegeln sich auch in der besonderen politischen Bedeutung Jerusalems für den Staat Israel, dessen umstrittene "unteilbare" Hauptstadt es seit Dezember 1949 ist, und als emotionelles, kulturelles und religiöses Integrationssymbol für viele Juden, Christen und Muslime in der ganzen Welt. In diesem Beitrag geht es vor allem um die Fragen, welche Bedeutung Stadt und Tempel für das antike Judentum hatten, und wer sich ihrer Bedeutung bediente, um seinem religiösen oder politischen Anliegen Ausdruck zu verleihen.
1.
Die zentrale Bedeutung dieser Stadt und ihres Tempels für das Judentum erlangte nicht erst im Zusammenhang mit der aktuellen israelischen Tendenz besonderes Gewicht, die enge Bindung der jüdischen Religion an das Territorium des Staates Israel zu betonen. Hierbei scheinen sich vielmehr religiöse und zionistisch-weltliche Elemente zu vermischen.

Die zentrale Bedeutung Jerusalems ist weitaus älter. Von Anfang an trug die symbolische Deutung von natürlichen Landschaften und abgetrennten sakralen Räumen auch im antiken Judentum zur Bewußtwerdung des individuellen und des kollektiven Selbstbildes bei. Die Behauptung der zentralen Position des Jerusalemer Tempels diente dabei zu keiner Zeit allein der räumlichen Orientierung. Tatsächlich widerspricht sie der sinnlichen Wahrnehmung bzw. den sichtbaren geomorphologischen und städtebaulichen Gegebenheiten. Daß sich der Tempel nicht im Mittelpunkt Jerusalems erhebt, sah man bereits in der Antike. Nun hängt die Bedeutung eines heiligen Raums nicht nur daran, wo er sich tatsächlich befindet. Der Tempel als abgetrennter heiliger Raum wird vielmehr auch durch das charakterisiert, was seine vergangene, gegenwärtige und zukünftige Bedeutung ist für seine Erbauer, dann für diejenigen, deren Brennpunkt des religiösen Lebens er darstellt, und schließlich für alle diejenigen, denen er als Symbol vergangenen oder zukünftigen Heils dient.

Jerusalem stand und steht im Mittelpunkt des Judentums. Was bedeutet das? Die beanspruchte Dominanz eines solchen Mittelpunktes leitet sich von der Stellung des Menschen im Raum mit dem eigenen Körper als "Koordinatennullpunkt" ab. Die Reichweite der ordnenden und bindenden Funktion der bildhaften Bezeichnung eines beliebigen geographischen Ortes als "Mittelpunkt" der Welt steht demnach in engem Zusammenhang mit der Organisation und dem Selbstbild einer Gesellschaft. Ebenso wie es bei einem besonderen Kult oder bei einer besonderen Ethik der Fall ist, kann die Bedeutung dieses Ortes als ein besonderes Symbol sowohl in der deutenden Legitimation seiner aktuellen gesellschaftlichen, politischen und kultisch-religiösen Machtansprüche und Aufgaben liegen, als auch in der zurückblickenden, als "Erinnerung" ausgewiesenen Behauptung seiner kosmologischen oder heilsgeschichtlichen Bedeutung.

Ein Tempel ist das materielle und empirisch faßbare Zentrum der transzendenten, unsere Sinneswahrnehmungen übersteigenden Sphäre - eben des Göttlichen. Der Tempel dient der Repräsentation symbolischer Ordnungen und ermöglicht ihr Überdauern in der Zeit. Als ein solcher symbolischer Mittelpunkt erlangt er seine geographische Zentralität nicht unbedingt durch den ihn umgebenden Raum. Er vermag diesen vielmehr selbst zu prägen und zu strukturieren, indem er als der zentrale Bezugspunkt aller anderen ihn umgebenden räumlichen Größen wahrgenommen wird. Die mythische Bedeutung des Tempels und seines Inventars findet ihren konkreten Ausdruck nicht nur in der zeichenhaften Visualisierung durch seine Lage, seine Größe, durch räumliche Strukturen, ästhetische Prinzipien und Architekturformen, sondern auch in Gestalt der an das Tempelgebäude geknüpften geschichtlichen Erfahrungen, Glaubensvorstellungen, Ordnungen und Werte, der hier ausgeführten Handlungen, Rituale und Kultformen, der hier befindlichen gesellschaftlichen Institutionen, und schließlich in den hieraus hervorgehenden narrativen und normativen schriftlichen Überlieferungen.

In der Anlage und in der Bedeutung des zentralen Heiligtums spiegelt sich das Selbstverständnis einer religiösen Gesellschaft. Als die beiden wesentlichen Bestandteile des Weltbildes einer solchen Gemeinschaft beziehen sich also Weltbild und Gesellschaftsbild aufeinander. Die hiermit knapp skizzierte Bedeutung des heiligen Ortes ist im Auge zu behalten, wenn im folgenden Abschnitt die Geschichte des antiken Jerusalems und seines Tempels zur Sprache kommen.
2.
Im Jahre 586 v. Chr. kam es zur endgültigen Einnahme der Stadt Jerusalem durch Nebukadnezar II. Jerusalem, das einstige politische Zentrum des judäischen Staates, und der salomonische Tempel, der uneinnehmbar geglaubte befestigte Wohnsitz Gottes, waren von den Babyloniern nahezu vollständig zerstört worden. Der mächtig geglaubte Gottesberg Zion war nur noch ein Schutthügel in einer verwüsteten und entvölkerten, machtlosen und politisch abhängigen Stadt. Allerdings gab es in Jerusalem auch in den Jahrzehnten nach der Deportation des Großteils der Priesterschaft wahrscheinlich noch einen bescheidenen Opferbetrieb.

Der von Anfang an ideelle Charakter der Zentralität des Jerusalemer Tempels ermöglichte die Verselbständigung dieser Vorstellung. Auch im babylonischen Exil konnte der Zion als Ort der heiligenden Gottesnähe deshalb Orientierungspunkt vieler religiöser und nationaler Hoffnungen bleiben. Unter den Angehörigen der aus Jerusalem verschleppten Oberschicht wurde die - nun unerreichbar weit entfernte - Heimatstadt zunehmend Schauplatz des erhofften endzeitlichen Eingreifens Gottes zugunsten seines bedrängten Volkes.

Nach der Eroberung des neubabylonischen Großreiches durch den Perserkönig Kyros II. (539 v. Chr.) wurde Judäa unselbständiger Teil einer persischen Provinz. Schon im darauffolgenden Jahr wurden der regelmäßige Opfergottesdienst und der Wiederaufbau des Heiligtums in Jerusalem durch ein königliches Dekret wieder gestattet. Diese Maßnahmen der Perser, die hierdurch das Problem der Kontrolle ihres weiten Herrschaftsraums zu lösen trachteten, beabsichtigten die Schaffung eines organisatorischen und räumlichen Zentrums der regionalen Verwaltung, das nicht zuletzt dem effizienten Eintreiben von Steuern zugute kommen sollte. Sie trugen aber auch zur Förderung der ethnischen und religiösen Identität der jüdischen Stadtbevölkerung Jerusalems bei.

Unter den Bewohnern Jerusalems scheint das Bedürfnis nach einem Wiederaufbau des Tempels angesichts des allgegenwärtigen Elends zunächst gering gewesen zu sein. Dennoch propagierten priesterliche und prophetische Kreise die Notwendigkeit, das irdische Kultzentrum wieder herzurichten. Dieser Ort der rituellen Entsühnung des Volkes durch Opfer verhinderte ihrer Überzeugung nach die Anhäufung ungesühnter Schuld bzw. die hierdurch bewirkte Anballung unheilvoller Macht. Die Wiederherstellung des Tempels sei unbedingte Voraussetzung allen von hier aus in die Welt strömenden Segens. Die Botschaft der Propheten Haggai und Sacharja, die diesen Gedanken Ausdruck verlieh, indem sie den Tempel als Quelle paradiesischen Heils schilderte, fand ihren Widerhall in der Hoffnung eines Teiles der Bewohner Jerusalems. Man glaubte, allein das baldige wunderbare Eingreifen Gottes selbst könne einerseits die überlebensnotwendige Fruchtbarkeit des Landes bewirken, andererseits der Stadt zu ihrer einstigen nationalen Bedeutung und Macht verhelfen, und damit auch jeden einzelnen aus der aktuellen Notsituation befreien.

Erst im Jahre 515 v. Chr. fand die Einweihung des mit persischer Unterstützung errichteten Zweiten Tempels in Jerusalem statt. Die in den folgenden Jahrhunderten mehrfach umgebaute und erweiterte Tempelanlage wurde nach dem Vorbild, auf dem Fundament und nach den Maßen des zerstörten salomonischen Tempels errichtet, jedoch in weitaus bescheidenerem Rahmen als dieser. Ihre architektonische Grundstruktur unterteilte das Tempelgelände in verschiedene Bereiche abgestufter Heiligkeit, die als aufeinanderfolgende Höfe und Räume gleichsam konzentrischer Kreise das Allerheiligste als ideales Zentrum der göttlichen Sphäre umgaben und deren Betreten eine entsprechend abgestufte rituelle Reinheit erforderte.

Der zentrale Entsühnungsort existierte nun wieder; auch der zentralisierte Opferkult konnte wieder stattfinden. Die Heilsprophetie Haggais und Sacharjas erfüllte sich jedoch nur hinsichtlich des eigentlichen Geschehens des Tempelbaus und einer damit einhergehenden gewissen wirtschaftlichen Stabilisierung. Die von vielen erhoffte nationale Erneuerung Israels hingegen blieb aus.

Vor allem das nach dem Ende des davidischen Königtums entstandene Machtvakuum trug zu einem raschen Anstieg von Macht und Einfluß der Jerusalemer Priesterschaft bei. Als einzige auch in der Krisenzeit des babylonischen Exils noch organisierte und verfaßte gesellschaftliche Gruppe trat sie gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber den persischen Behörden zunehmend als Repräsentantin der Allgemeinheit auf. Man kann annehmen, daß die meisten dieser Priesterfamilien aus Babylonien kamen. Ihre Ansiedlung in Judäa wurde von den Persern, die so eine lokale Führungsschicht in der fernen Provinz zu installieren beabsichtigten, tatkräftig unterstützt. Es ist zu beachten, daß die aus dem Exil im babylonischen Kernland zurückgekehrten politischen und religiösen Funktionsträger hierdurch auch eine besondere ideelle Position in der jüdischen Bevölkerung erlangten. Sie stellten nun wieder das Kultpersonal des Tempels unter der Führung der hohenpriesterlichen Dynastie mit eigenen, durch die bauliche Strukturierung des Tempelraums auch architektonisch gekennzeichneten, Monopolbereichen. Wo sie waren, war der Mittelpunkt, war der Nabel der Welt.

Ihre besondere Position ermöglichte es den Priestern bald, als die einzigen legitimen Hüter des religiösen und nationalen Erbes aufzutreten. Ungeachtet der Tatsache, daß die jüdische Bevölkerung Judäas und Jerusalems nun keine territoriale und staatliche Einheit mehr besaß, wuchs ihr Einfluß auf die bei der Wegführung im Land verbliebenen Judäer, die mittlerweile zugewanderten ehemaligen Nordreichsbewohner im Land, und die jüdischen Gemeinden in der gesamten Diaspora.

Unter dem Statthalter Nehemia (ca. 445-433 v. Chr.) wurde Jerusalem die ummauerte und wieder von ca. 1200 - 1500 Menschen besiedelte Hauptstadt der kleinen und armen, jedoch aufgrund des Verlaufs der wichtigen Fernhandelsstraßen wirtschaftlich äußerst wichtigen Provinz Jehud im Südwesten des Perserreiches zwischen Mittelmeer und Antilibanon. Dem Jerusalemer Tempel kam wieder eine hohe Bedeutung als religiöser und nationaler Orientierungspunkt für die jüdischen Bewohner der Provinz zu. Der fortgesetzte Opferkult und die gemeinschaftlichen Feste im Tempel befriedigten das Bedürfnis vieler dieser Menschen nach Absicherung vor der drohenden Gefahr einer möglichen Wiederholung der erlebten nationalen Katastrophe. Schon allein aus diesem Grund finanzierte auch die jüdische Bevölkerung durch ihre Abgaben in Form von Geld und Naturalien den laufenden Kultbetrieb, notwendige Baumaßnahmen und auch den Unterhalt der Priester und Tempelbeamten.

Der Jerusalemer Tempel selbst übernahm neben seinen religiösen Aufgaben immer mehr politische und - z. B. als Bank - eine Reihe wirtschaftlicher Funktionen. Ebenso mündete die politische, gesellschaftliche und religiöse Entwicklung innerhalb des Judentums in einen immensen Machtzuwachs der priesterlichen Aristokratie. Die Bedeutungsfunktionen des Jerusalemer Heiligtums als kosmischen und gesellschaftlichen Zentrums verschmolzen zu einer Einheit. Für die priesterliche Oberschicht stellte der Tempel nun quasi die eigene Existenzgrundlage dar. Jedoch standen die Pläne und Interessen der Priester zunehmend im Widerspruch zu denen der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit.

Mit der Eroberung Syriens durch Alexander d. Gr. (332 v. Chr.) geriet Jerusalem endgültig in den unmittelbaren Einflußbereich des makedonischen Großreiches und der hellenistischen Einheitskultur: Auch den neuen Machthabern war sehr an politischer Stabilität in der Provinz gelegen. Die bereits unter der Perserherrschaft bestehende weitgehende innere Autonomie Judäas und "Hierosolymas" auf der Grundlage der Tora als Verfassung und mit dem Jerusalemer Tempel als anerkanntem politischen Zentrum bestand deshalb fort, wenn auch mit je und je unterschiedlicher Intensität. Hoherpriester und Ratsversammlung wurden dabei von den nichtjüdischen Herrschern als Repräsentanten und als privilegierte politische Vertreter der jüdischen Bevölkerung in dem tributpflichtigen Tempelstaat anerkannt. Der Seleukidenherrscher Antiochos III. (223-187 v. Chr.) billigte diese Staatsform ausdrücklich. Einige Jahrzehnte später scheiterte der Versuch eines Teils der Jerusalemer Tempelaristokratie, den Tempelstaat gewaltsam in eine hellenistische Stadt zu verwandeln (167 v. Chr.), um so die eigene Machtposition zu festigen. Dieser Umsturzversuch einer Minderheit stieß auf den heftigen Widerstand vor allem derer, die durch diese als religiöse und kulturelle Erosion empfundenen gewaltsamen Hellenisierungsbestrebungen die politische Reichweite der Zentralität des Tempels und somit ihre statusbestimmende Lebensgrundlage, Macht und Autorität als Priester oder Tempelbeamte bedroht sahen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellte der Jerusalemer Tempel bzw. seine unterschiedliche Wahrnehmung den deutlichen Ansatzpunkt für polarisierende Auseinandersetzungen verschiedener konkurrierender religiöser Teilgruppierungen im antiken Judentum dar. Es ist zu beachten, daß sich diese durch Anpassung und Widerspruch gekennzeichnete Entwicklung nicht vorwiegend zwischen pro- und antihellenistischen Angehörigen verschiedener sozialer Schichten in Judäa vollzog, sondern vor allem innerhalb der Jerusalemer Oberschicht.

Den Makkabäerbrüdern, Söhnen des Priesters Mattatias aus Modein, gelang es, eine "konservative" antihellenistische Sammelbewegung zu führen und diese Bestrebungen abzuwehren. Der "Tempelreinigung" des Judas Makkabaios (164 v. Chr.) folgte die Herrschaft der in Jerusalem residierenden Hasmonäerdynastie. Dieses jüdische Herrscherhaus legitimierte seine gesellschaftliche Machtposition nach innen vor allem durch die Selbstdarstellung als den väterlichen Gesetzen verpflichteter religiöser Streiter für Tempel und Kult. Es bewirkte so die Umwandlung der Stadt zum politischen Zentrum eines "unabhängigen" Königreiches sowie die Umwandlung des Tempels in das bedeutendste Symbol der jüdischen Selbstbehauptung. Seit 142 v. Chr. politisch unabhängig, war Jerusalem nun für mehr als sieben Jahrzehnte wieder der machtpolitische Mittelpunkt eines expansionistischen jüdischen Staates.

Die besondere Bedeutung Jerusalems und des Tempels als Symbole der nationalen und religiösen Zugehörigkeit blieb kennzeichnend für die gesamte hasmonäische Ära. Mit der römischen Eroberung der Stadt durch Pompeius Magnus (63 v. Chr.) und dem von Rom unterstützten Aufstieg Herodes d. Gr. nahm die Intensität der Handelskontakte und der kulturellen Beziehungen Jerusalems zu anderen städtischen Zentren im Osten des Römischen Weltreichs noch einmal beträchtlich zu. Seit 19 v. Chr. renovierte Herodes den während der römischen Angriffe beschädigten Jerusalemer Tempel als Symbol des "weltstädtischen" Charakters der Stadt am Rand des Imperium Romanum und als international beachtetes Wahrzeichen seiner Herrschaft. Der im Stil der hellenistisch-römischen Monumentalbauweise erneuerte, in Entsprechung des bereits zuvor bestehenden baulichen Strukturprinzips der konzentrischen Heiligkeit erweiterte, erhöhte und mit gewaltigen Umfassungsmauern versehene Tempel wurde zu dem erfahrbaren religiösen Zentrum des Judentums in Palästina und - unbeschadet aller Loyalität gegenüber und Teilhabe an der jeweils bestimmenden Umwelt - in der gesamten antiken Welt. Die Angehörigen der priesterlichen Dienstabteilungen kamen aus verschiedenen Orten im ganzen Land in regelmäßigen Abständen zur Verrichtung ihrer Dienstzeiten nach Jerusalem. Pilger aus vielen Ländern strömten zu den Wallfahrtsfesten nach Jerusalem, übereigneten dem Tempel kultische Abgaben und Weihegeschenke, und wohnten am Zielort ihrer Pilgerreise den Opfern bei. Juden überall in der Diaspora entrichteten freiwillig die jährliche (Halb-)Schekelsteuer, die in erster Linie für den Unterhalt des Jerusalemer Tempels bestimmt war.

Und dennoch: Im Gegensatz zu dem hohen religiösen Gewicht des herodianischen Tempels auch außerhalb des Landes war seine politische und wirtschaftliche Bedeutung innerhalb Judäas nunmehr merklich gesunken. Das unter der Herrschaft der Perser, Ägypter und Syrer mit zahlreichen Machtbefugnissen ausgestattete, während der hasmonäischen Herrschaft mit dem Königtum verschmolzene Amt des Hohenpriesters war nun, da mit Herodes wieder ein Nichtpriester herrschte, auf seine kultischen Funktionen beschränkt. Diese von vielen Juden als schmählich und bedrohlich empfundene Entwicklung sollte nicht folgenlos bleiben. Spätestens seit der Unterstellung Palästinas unter die direkte römische Verwaltung entzündeten sich an der Frage nach der vorrangigen Funktion des Jerusalemer Tempels wieder heftige innerjüdische Auseinandersetzungen.

War das Heiligtum vor allem der unpolitische, allein religiös bedeutsame heilige Ort der Gottesgegenwart oder das politisch relevante Symbol einer neu zu erkämpfenden nationalen Unabhängigkeit? Über diese Frage gestritten wurde sowohl innerhalb der jüdischen Aristokratie, die die Kontrolle über den Tempel hatte, als auch zwischen dieser und den unteren Bevölkerungsschichten, die am stärksten unter der Ausbeutung durch die eigene Oberschicht litten und die sich durch die römischen Steuern und Tribute in ihrer Existenz bedroht sahen. Die angespannte Situation in Jerusalem spitzte sich rasch zu; die religiös und vor allem sozial motivierten jüdischen Unabhängigkeitsbestrebungen mündeten in den offenen Aufstand gegen Rom (66 n. Chr.). Sie fanden ihr vorläufiges Ende mit der Belagerung und Einnahme Jerusalems und der Zerstörung der Tempelanlagen durch Titus (70 n. Chr.).

Große Teile der Stadt waren nach der römischen Eroberung verwüstet, der Hauptteil ihrer Bevölkerung tot, versklavt oder geflohen, das Opfer im Tempel nunmehr unmöglich. Judäa war nun einem römischen Statthalter unterstellt. In und um Jerusalem lebten fortan auch römische Legionäre. Das Jerusalemer Heiligtum, der wichtigste Anknüpfungspunkt für das religiöse Selbstverständnis und für die Lebensgestaltung der jüdischen Mehrheit und sämtlicher jüdischer Sekten, war zerstört. Das Judentum war nun zum Verzicht auf alle diejenigen Formen der Religiosität genötigt, die nur im Jerusalemer Tempel gepflegt werden konnten.

Die überlebenden Priester, Leviten und Tempelbeamten waren nach der Tempelzerstörung ohne Amt, ohne kultische Funktion und ohne öffentliche Macht, wenn auch ihr Landbesitz und der relative Wohlstand ihrer aristokratischen Oberschicht nicht unmittelbar von den Umwälzungen, d. h. von der wirtschaftlichen Notlage betroffen waren. Ein Teil der Priesterschaft versuchte neben der aufstrebenden jüdischen Laiengelehrsamkeit, verkörpert vor allem durch die pharisäische Bewegung, als konsolidierte Gemeinschaft fortzubestehen. Man versuchte, die für Priester geltenden besonderen Gebote und kultischen Anordnungen weiterhin zu bewahren, um dadurch eine besondere gesellschaftliche Funktion im Bereich der Rechtsprechung zu erlangen. Die den Priestern des Jerusalemer Tempels von der jüdischen Bevölkerung zuvor zuerkannte Kompetenz scheint nicht abrupt an ihr Ende gekommen zu sein. Einige von ihnen betätigten sich fortan als rabbinische Gelehrte.

Der Beschluß des Kaisers Hadrian (117-138 n. Chr.), auf den Trümmern Jerusalems die römische Stadt Colonia Aelia Capitolina zu errichten, gehörte zu den auslösenden Faktoren des Bar Kochba-Aufstandes (132-135 n. Chr.). Der römische Legionsstandort Jerusalem wurde rasch zum Zentrum dieser jüdischen Aufstandsbewegung. Auch der improvisierte Opferbetrieb auf dem Tempelplatz wurde von den jüdischen Rebellen nach dem Rückzug der Römer wieder aufgenommen. Nach der Niederschlagung der Erhebung durch eine gewaltige römische Übermacht jedoch wurde die Stadt in ein von römischen Soldaten, Veteranen und zahlreichen fremden Siedlern bewohntes heidnisches Kultzentrum mit einem Jupiterheiligtum auf dem nahezu eingeebneten Tempelareal umgewandelt. Für Sieger und Besiegte war dies ein Symbol der völligen Unterwerfung des jüdischen Aufstands und des Triumphs der überlegenen Weltmacht Rom. Juden war das Betreten der Stadt von nun an offiziell untersagt. Das Verbot, als Jude in Jerusalem zu wohnen, bedeutete für die Stadt den Verlust ihrer vormaligen identitätstiftenden Bedeutung als zentralen Ortes der Versammlung und des gemeinsamen religiösen Lebens.

Der Zerstörung des Jerusalemer Tempels wurde im Judentum bald an einem jährlichen Tag der Trauer gedacht, dessen feierliche Begehung - späterhin am 9. Av - das bedrohte Gemeinschaftsgefühl stärkte, Juden in allen Ländern verband und solidarisierte. Die christlichen Autoren dieser Zeit deuteten die Tempelzerstörung hingegen vor allem als geschichtlichen Beweis für die geschehene Auflösung des "alten" Bundes Gottes mit Israel und für die Wahrheit der Prophezeiung Jesu vom Ende des Tempels (Mk 13, 1f. parr.).

Wie bereits nach der Zerstörung des salomonischen Tempels durch die Babylonier ermöglichte der symbolische Charakter der Zentralität des Jerusalemer Tempels nun wieder die theologische Deutung seiner Zerstörung. Mit dem rabbinischen Lehrhaus in Javne, einer kleinen Stadt in der Küstenebene südlich von Jaffa, bildete sich bald eine andere "Zentralinstitution" heraus, die unter römischer Duldung Aufgaben der früher in Jerusalem angesiedelten jüdischen Selbstverwaltung an sich zog. Nach dem Bar Kochba-Aufstand verlagerte sich der Sitz dieser Institution weiter nach Galiläa. In der rabbinischen Literatur ist das Interesse an der Darstellung der Tempelzerstörung erstaunlich gering. Grund hierfür dürfte das Selbstverständnis der (in ihrer Mehrzahl nichtpriesterlichen) Gelehrten sein, die ihr individuelles Torastudium bereits zuvor an die Stelle des gemeinschaftlich verstandenen Opferdienstes gesetzt hatten und ihm dieselbe religiöse Bedeutung beimaßen. Was in den rabbinischen Texten fortan über das irdische Jerusalem, den Tempel und den Tempelkult tradiert wurde, hatte keine begründende Funktion für das religiöse und gesellschaftliche Selbstverständnis der eigenen Gemeinschaft mehr, sondern stand im Zusammenhang der verschiedenen rabbinischen Interpretationen der Gegenwart bzw. der idealisierenden Konzeptionen für die Zukunft.

In der geographischen Verlagerung der maßgeblichen religiösen Autoritäten und Tradentengruppen scheint im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. ein gewisser Bedeutungsverlust des gegenwärtigen Jerusalems im Judentum zum Ausdruck zu kommen. Von Juden, die an einem Stein auf dem ehemaligen Tempelgelände die Zerstörung des Heiligtums beklagen, liest man nichts in den rabbinischen Quellen, sondern erfährt man allein im Reisebericht eines christlichen Pilgers aus Bordeaux (um 333 n. Chr.). Hingegen kam der Stadt als dem Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu im zeitgenössischen Christentum eine besondere Bedeutung zu, für das die Lokalisierung heilsgeschichtlicher Ereignisse (bzw. der Besuch dieser heiligen Stätten) von ganz besonderer Wichtigkeit war. Unter dem ersten christlichen Kaiser Konstantin I. (306-337 n. Chr.) wurde ab 325 n. Chr. ein massives Kirchenbauprogramm in Jerusalem verwirklicht.

In der kirchlichen Überlieferung des 4. Jahrhunderts n. Chr. galt bald Golgotha, die Kreuzigungsstätte Jesu, als Mitte der Welt. Dem Tempelgelände hingegen widmete man keine Aufmerksamkeit. Die Übertragung dieser Jerusalemer Lokaltraditionen vom Tempel nach Golgotha, also eine kultgeschichtliche Erbfolge der beiden Orte, führte zu einer radikalen Umdeutung der kommemorativen Bedeutung des Tempelgeländes als Gedächtnisstätte einstigen Heils in die soteriologische Bedeutung der Kreuzigungsstätte Jesu als des zentralen Ortes der Erlösung der Welt.

Nur für kurze Zeit flackerten Jahrzehnte später jüdische Hoffnungen auf einen Wiederaufbau des Jerusalemer Tempels auf. Kaiser Julian I. "Apostata" (361-363 n. Chr.), der die alten Tempelkulte im römischen Reich förderte, verstand die jüdische Religion als besonders eng mit der von ihm besonders geschätzten neuplatonischen Philosophie verwandt. Im Jahre 362 n. Chr. unternahm er den Versuch, das Jerusalemer Heiligtum auf dem ehemaligen Tempelgelände als jüdisches Kultzentrum wieder aufzubauen. Der Bau verzögerte sich jedoch durch einen Brand oder ein Erdbeben und wurde bald nach Julians Tod eingestellt. Im christlich-byzantinischen Jerusalem, in dem die Juden bald eine Minderheit waren und dessen Stadtbild durch eine Reihe prunkvoller Kirchenbauten geprägt war, wurde das Tempelareal fortan nicht als sakrale Fläche genutzt. Wahrscheinlich stand hier vor der Zeit der Kreuzfahrer keine Kirche. Bis zur Errichtung des Felsendoms durch die Araber im Jahre 691/92 n. Chr., blieb der eigentliche Tempelplatz auf dem Südosthügel der Stadt verödet.

Der Felsendom ist das nach der Kaaba in Mekka wichtigste Heiligtum und Pilgerziel des Islam. Wer den Felsendom auf der Stelle des ehemaligen Tempelgeländes besucht, erblickt in dessen Mitte einen ca. 18 x 13 m großen unregelmäßig geformten, unbearbeiteten Kalksteinfelsen, der den höchsten Punkt des Tempelbergs überdeckt. Die Frage ist berechtigt, ob dies der Stein auf dem Tempelgelände ist, von dem der Pilger aus Bordeaux berichtete. Die verbreitete Annahme, daß dieser im inneren Rundbau des Felsendoms erhaltene Felsen auch die Stätte des Allerheiligsten im herodianischen Tempel bezeichne, ist allerdings wegen der meßbaren Raum- und Höhenverhältnisse und aufgrund der baustatischen Bedingungen auf dem Zionshügel unhaltbar. Auch die Vermutung, daß dieser Felsen das Fundament des Brandopferaltars im Tempel war, bleibt bloße Spekulation, denn gegen sie sprechen vor allem geomorphologische Gründe. Es ist nämlich zu berücksichtigen, daß das Gelände des Tempelplatzes unmittelbar westlich des heiligen Felsens stark abfällt, so daß das Heiligtum, wäre der Platz des Felsens unterhalb des Brandopferaltars im Priesterhof gewesen, in den Abhang hätte hineingebaut werden müssen, und dies lag außerhalb der Möglichkeiten der antiken Baukunst.

Wahrscheinlicher ist eine andere Erklärung: Daß bei der Errichtung des Felsendoms im Jahre 691/92 n. Chr. die nunmehr in der Stadt bestimmende Minorität der Araber gerade diesen Felsen als den erhabenen Mittelpunkt ihres zu erbauenden Heiligtums verstanden, verdanke sich vor allem der Tatsache, daß er nach der vollständigen Verwüstung des Tempelareals durch die Römer (also im Jahre 135 n. Chr.), aufgrund seiner charakteristischen Position, Form und Beschaffenheit als das einzige verbliebene sichtbare Zeugnis und Memorialzentrum der ehemaligen Existenz und Bedeutung des zerstörten Jerusalemer Tempels angesehen werden konnte.

Die Lokalisierung des in dem frühislamischen Heiligtum erhaltenen Felsens unter dem ehemaligen Brandopferaltar des Zweiten Tempels oder seine Verortung im Allerheiligsten bleibt fraglich. Vielmehr setzten erst die Einrichtung eines muslimischen Gebetsortes auf dem Tempelberg und später dann die Errichtung des Felsendoms durch die Araber auf dem höchsten Punkt des ehemaligen Zionshügels, dessen Position und dessen zentraler Grundriß mit einem Gedächtnisort im Mittelpunkt sicher nicht der Anlage des Herodianischen Tempels entsprechen, das alte mythische Konzept der Zentralität des Ortes architektonisch um und machten es so allgemein sinnlich erfahrbar. Andererseits setzt die Behauptung der kultischen Ortskontinuität in der islamischen Felsauffindungslegende voraus, daß der heilige Fels einer größeren Öffentlichkeit bekannt war und längst als heilig galt.
3.
In der Tat weiß die jüdische Überlieferung bereits Jahrhunderte vor der Zeit der Araberherrschaft von diesem Fels zu berichten. Im Midrasch Tanchuma, einer spätantiken Sammlung von rabbinischen Auslegungen zu den fünf Büchern Mose lesen wir folgendes:

Salomo war weise und kannte die Wurzel des Grundpfeilers der Welt. Warum [sagt die Schrift]: "Von Zion her, der Krone der Schöpfung, erstrahlt Gott"? [Antwort:] "Von Zion her wird die ganze Welt vollendet. Warum wird sie "Gründungsstein" genannt?[Antwort:] Weil von ihr aus die Welt gegründet wurde. Wie dieser Nabel in der Mitte des Menschen ist, so [ist] das Land Israel der Nabel der Welt. Denn es heißt: "Das auf dem Nabel des Landes wohnt." Das Land Israel befindet sich in der Mitte der Welt und Jerusalem [befindet sich] in der Mitte des Landes Israel und der Tempel [befindet sich] in der Mitte Jerusalems und die Lade [befindet sich] in der Mitte des Heiligtums und der Gründungsstein [befindet sich] vor dem Heiligtum, denn von ihm aus wurde die Welt gegründet.
Tanchuma B Kedoschim § 10 zu Lev 19,23 (p. 78, 3ff. Buber)

Ausdrücklich betont der Predigtmidrasch die kosmische Bedeutung des Jerusalemer Tempels als mythischen Zentrums und Ausgangspunktes der Weltschöpfung. Ebenso betont er dessen fortwährende heilvolle Bedeutung für das Land Israel und für die gesamte Welt. In diesem Zusammenhang begegnet die Vorstellung vom fruchtbarkeitspendenden "Gründungsstein" im Tempel. Eine besondere Funktion kommt diesem Stein in der rabbinischen Beschreibung des Lauhhüttenfestes im Tempel zu, wobei sich ältere Überlieferungen mit zeitgenössischen heidnischen Mythen (bzw. mit einer allgemeinantiken religiösen Subkultur) zu verbinden scheinen. So berichtet Tosefta Sukka IV 9, ein Text aus dem frühen 3. Jahrhundert n. Chr., vom merkwürdigen Ritus der Wasserspende. Jedes Jahr zum Laubhüttenfest wurden nach Auskunft dieses rabbinischen Textes von den Priestern im Jerusalemer Tempel Krüge mit Wasser zum Brandopferaltar gebracht und an dessen Fundament über einem durchlöcherten Stein ausgegossen. Ein Zusammenhang zwischen diesem Ritus und dem Bestreben nach Sicherung der Fruchtbarkeit des Landes im kommenden Jahr ist augenfällig, denn bald nach Sukkot setzte im Vorderen Orient der für den Ackerbau unentbehrliche Herbstregen ein.

Tosefta Sukka IV 9 ist zwar der älteste bekannte Beleg, der den Gründungsstein erwähnt, jedoch erst zwei Jahrhunderte nach der Tempelzerstörung verfaßt worden. Erst zu dieser Zeit wurde die Jerusalemer Lokaltradition vom "heiligen Felsen" mit der alten prophetischen Überlieferung vom Tempel als Weltmittelpunkt und als Ausgangspunkt der heilbringenden Paradiesquelle verbunden. Neben der allgemeinen Absicht der rabbinischen Auslegung, die in der Deutung des Bibeltextes auf die Situation der jüdischen Gemeinden in der tempellosen Zeit besteht, erkennt man eine spezielle Absicht, nämlich den tröstenden Aufweis der noch immer bestehenden zentralen Bedeutung des Tempels für die Erhaltung der Weltordnung.

Der "Gründungsstein" wurde von den Rabbinen also erst nachträglich mit der mythischen Vorstellung vom Weltmittelpunkt am Ort der Gottesgegenwart in Verbindung gesetzt. Erst nach der völligen Abtragung des bereits seit Jahrzehnten zerstörten Heiligtums im Jahre 135 n. Chr. konnte dieser Felsen als das sichtbare Zeugnis der einstigen Existenz und Bedeutung des Jerusalemer Tempels mit älteren Lokalüberlieferungen verbunden und als zentraler Ort des Gedenkens mythisch befrachtet werden. Die Existenz des "Gründungssteins" bereits im Zweiten oder gar im salomonischen Tempel ist hingegen eine rabbinische Rückprojektion.

Die handschriftliche Überlieferung des Midraschs bietet als Abschluß des Leseabschnittes eine unter dem Namen des Tannaiten R. Jischma'el tradierte Liste von zukünftigen Eingriffen und Maßnahmen der Araber in Israel, die als nachträglich formulierte Prophezeiung auch die Errichtung des Felsendoms auf dem Tempelplatz erwähnt. Es ist deshalb ohne weiteres möglich, die hier verarbeiteten Traditionen vom "Gründungsstein" im Jerusalemer Tempel als Reflex auf die Präsenz des Felsendoms zu deuten. Mit der Erbauung dieses weithin sichtbaren Symbols des arabischen Sieges über die zuvor die Stadt beherrschenden Christen (und auch als ein Zeichen der Vorherrschaft über die in Jerusalem verbliebene kleine jüdische Gemeinde) wurde die Vorstellung der Zentralität des Ortes, der für die muslimischen Erbauer die vergangene jüdische und christliche Herrschaft über Jerusalem und den weltweiten Geltungsanspruch des Islams symbolisierte, von neuem aufgegriffen und in demonstrativer Weise sinnlich erfahrbar gemacht.

Ebenso jedoch konnte der Bau des Felsendoms über dem heiligen Felsen von einem jüdischen Betrachter als Bestätigung der seit alters her bestehenden Heiligkeit dieses Ortes verstanden werden. Die Juden in Jerusalem sahen im Mittelpunkt des Felsendoms den heiligen Felsen der monotheistischen Tochterreligion und konnten darin zugleich das rituelle Zentrum des zerstörten Jerusalemer Tempels erkennen. Durch die "literarische" Beanspruchung der symbolischen Repräsentation des Schöpferwillens und der Geschichte Israels in der haggadischen Überlieferung vom "heiligen Felsen" konnte das palästinische Judentum, nunmehr eine tatsächlich machtlose religiöse Minorität, seiner Hoffnung auf Erlösung am Ende der Zeiten Ausdruck verleihen. Dies wiederum provoziert die Annahme, daß eine solche Verknüpfung verschiedener mythischer Heiligtumstraditionen ihre Funktion vor allem in der Tröstung der kleinen jüdischen Gemeinschaft hatte, indem sie ihr die endzeitliche Überwindung der über Israel und Jerusalem herrschenden fremden Macht durch den Messias bzw. durch Gott selbst zusagte. Im muslimischen Felsendom manifestierten sich fortan die heilsgeschichtlichen Traditionen des Judentums. Ein muslimisches Heiligtum wurde fortan zum Ausdruck und zum Bezugspunkt religiösen, kulturellen und nationalen jüdischen Selbstbewußtseins.
4.
Die mythische Vorstellung vom "Nabel der Welt" ist ein religionsgeschichtliches Universale. Als zentraler Bestandteil von Jerusalemer Heiligtumstraditionen diente sie im antiken Judentum der Konstruktion und der objektivierenden Ausformulierung der eigenen Identität, und zwar mittels der Geschichte der Stadt und des irdischen Heiligtums, erfahrbar gemacht in ihrer räumlichen Ausprägung.

Juden und Muslime leiten seit der Errichtung des Felsendoms auf dem höchsten Punkt des ehemaligen Tempelgeländes ihren Besitzanspruch auf den Jerusalemer Tempelberg und das umliegende Territorium, d. h. ganz Jerusalem, aus seiner kosmologischen und heilsgeschichtlichen Bedeutung ab. Keine der beiden Weltreligionen vermag diesen Anspruch jedoch auf etwas anderem zu begründen als auf einer erinnernden Rückprojektion gegenwärtiger legitimierender, ordnender und Orientierung stiftender symbolischer Bedeutungsfunktionen dieses sakralen Zentralortes. Solange sich die Konstruktion der Geschichte von Stadt und Heiligtum vor allem durch das aktuelle Bedürfnis nach Konstituierung von Gruppenidentität durch gesellschaftliche und religiöse Abgrenzung speist, wird der Konflikt, der sich am "Nabel der Welt" entzündet, nicht zu lösen sein. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

Michael Tilly geb. 1963, Studium der Evangelischen Theologie in Mainz und Heidelberg, 1993 Promotion in Mainz, 1991-1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 1997 wissenschaftlicher Assistent in Mainz, 2001 Habilitation in Mainz, Forschungsschwerpunkte: antikes Judentum, Judentum im 19. und 20. Jahrhundert.

Veröffentlichungen (in Auswahl):
  • So lebten Jesu Zeitgenossen. Alltag und Frömmigkeit im antiken Judentum, Mainz 1997.
  • Elementarisierung oder Fehlinformation? Anmerkungen zur Darstellung des Judentums im christlichen Religionsunterricht, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 51 (1999), S. 378-390.
  • Die "Protokolle der Weisen von Zion" und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, in: Sachor 19 (2000), S. 67-75.
  • Im Frühjahr 2002 erscheint im Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) eine ausführliche Monographie des Autors zum Thema dieses Beitrags unter dem Titel "Jerusalem - ‚Nabel der Welt'. Überlieferung und Funktionen von Heiligtumstraditionen im antiken Judentum".

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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