Zur gegenwärtigen politischen Lage in Israel

von Andreas Grefen

Die momentane politische Lage in Israel und die anhaltende Gewalt zwischen Palästinensern und Israelis macht es für viele Freunde Israels in Europa derzeit sicher nicht leicht, sich solidarisch mit diesem Staat zu zeigen. Wie könnte in der momentanen Situation Solidarität mit Israel aussehen, ohne dass man kritiklos alle Handlungen der derzeitigen israelischen Regierung befürwortet und "auf einem Auge blind" ist?

Zunächst einmal ist es wichtig, die Situation und die psychologischen Mechanismen zu begreifen, die eine Rolle spielen.

Die Regierung Barak war im Mai 1999 mit dem hohen Anspruch gestartet, binnen eines Jahres die Armee aus dem Libanon abzuziehen, einen Vertrag mit Syrien über die Rückgabe der Golanhöhen auszuhandeln und zu einer umfassenden Friedensregelung mit den Palästinensern zu kommen. In der israelischen Bevölkerung existierte eine grosse Bereitschaft, ja geradezu Euphorie, ihm auf diesem Weg zum Frieden mit den arabischen Nachbarn zu folgen. Barak ist letztlich gescheitert, weil er keine Partner für den Frieden fand und darüber zuletzt dann auch die Unterstützung der eigenen Bevölkerung verlor. Das Resultat war letztlich die Wahl Ariel Scharons zum Ministerpräsidenten im Februar 2001.

Die Verhandlungen mit Syrien über die Rückgabe des Golan scheiterten, weil Syrien zu keinerlei Kompromissen, die den Sicherheitsbedürfnissen Israels entgegengekommen wären, bereit war. Der Abzug aus dem Libanon erfolgte als ein einseitiger Akt Israels, ohne im Gegenzug dafür irgendwelche Zusagen Syriens, des Libanon oder gar der Hisbollah-Milizen erhalten zu haben. Heute können die Bewohner im Norden Israels auf ein Jahr relativer Ruhe an der Nordgrenze zurückblicken, wohl wissend, dass diese Ruhe nicht zwingend von langer Dauer sein muss, da das von der israelischen Armee und der mit ihr verbündeten SLA (Südlibanesische Befreiungsarmee) hinterlassene Machtvakuum unmittelbar von der Hisbollah gefüllt wurde und sich die libanesische Regierung bis heute weigert, den von der UN anerkannten völligen Rückzug Israels aus dem Libanon zu honorieren, indem sie ihre Armee die Grenze sichern lässt. Wiederholte Anschläge der Hisbollah auf israelische Grenzpatrouillen lassen befürchten, dass die Angriffe auf Nordisrael nicht ein für alle Mal aufgehört haben. So ist es bis heute eine offene Frage, ob Baraks einseitiger Rückzugsbefehl aus dem Libanon auf lange Sicht die richtige Entscheidung gewesen ist. Auch wir in Nes Ammim, 14 Kilometer von der Nordgrenze gelegen, stellen uns mitunter diese Frage. Die potentielle Gefahr für weite Teile des Nordens Israels hat sich durch das Vorrücken der Hisbollah in den Südlibanon erhöht.

Im Blick auf die Verhandlungen mit der PLO ist Barak so weit gegangen wie kein israelischer Premier vor ihm. Dennoch sind die Camp David-Verhandlungen im Sommer 2000 gescheitert. Es ist müßig zu spekulieren, warum. Die offizielle israelische Lesart ist, dass Arafat zum Frieden und zu Kompromissen im Blick auf Territorien und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 und 1967 nicht bereit war. Die Palästinenser hingegen vertreten die Auffassung, dass sie ihren historischen Kompromiss bereits mit der Akzeptanz der Grenzen, die bis zum Sechstagekrieg 1967 bestanden, gemacht haben, und von daher keine weiteren Zugeständnisse machen müssten. Sie sehen Israel als Aggressor und Besatzungsmacht und verweisen auf die UN-Resolutionen, die Israels Rückzug auf die Grenzen von 1967 fordern. Vor allem aber das Thema Jerusalem und dabei besonders die Frage, wer über die Altstadt und die Moscheen auf dem Tempelberg, die Westmauer und die Grabeskirche herrschen wird, ist ein nahezu unlösbarer Interessenkonflikt. Baraks Fehler in Camp David mag gewesen sein, dass er eine allumfassende Lösung aller strittigen Fragen, einschliesslich Jerusalems, erreichen wollte, und sich mit diesem Anspruch, ein den Konflikt mit den Palästinensern beendendes Abkommen zu erreichen, übernommen hat.

Die seit dem Beginn des Oslo-Prozesses 1993 aufgestaute Frustration der Palästinenser, verstärkt durch den negativen Ausgang von Camp David, entlud sich Ende September 2000 nach dem provokativen Besuch von Ariel Scharon auf dem Tempelberg in einer Welle der Gewalt. Die seitdem anhaltende "Al-Aksa-Intifada" ist mittlerweile zu einer blutigen Spirale der Gewalt und Gegengewalt geworden, deren Ende derzeit völlig unabsehbar ist.

Um diese Vorgänge und die dahinter steckenden psychologischen Mechanismen auch nur annähernd begreifen zu können, muss man sich einige Realitäten vor Augen führen.

· Seit der Unterzeichnung der Osloverträge ist es beiden Parteien nicht gelungen, eine Kultur des friedlichen Umgangs miteinander zu entwickeln. In der israelischen Bevölkerung gab und gibt es es trotz aller Unterstützung des Friedenskurses von Barak nur ein unzureichendes Verständnis, welche Opfer für einen endgültigen Friedensschluss mit den Palästinensern nötig sein werden. Auf palästinensischer Seite dagegen wurde kaum etwas getan, um eine mehr versöhnliche Sprache gegenüber Israel zu pflegen. Stattdessen verbreiteten und verbreiten palästinensische Medien, Schulbücher, und weite Teile der islamischen religiösen Führer Hass und Unversöhnlichkeit gegenüber Israel.

· Korruption und Misswirtschaft haben in den Palästinensergebieten verhindert, dass die Politik der Osloverträge eine wirtschaftliche Verbesserung des Lebensverhältnisse bringen konnte. Die einseitige Schuldzuweisung der PLO an Israel als vermeintlich Alleinverantwortlichem für die wirtschaftliche Misere verstärkte nur den Hass in der palästinensischen Bevölkerung auf die Besatzer. Die zeitweisen Blockaden der selbstverwalteten palästinensischen Gebiete (Area A und B) durch die israelische Armee - mit Sicherheitsbedürfnissen begründet - haben die Verzweiflung in der palästinensichen Bevölkerung nur verstärkt, lenkt jegliche Kritik von ihren eigenen Führern ab und richtet sie stattdessen allein auf die israelische Besetzung.

· Israel hat zu wenig unternommen, um glaubhaft zu machen, dass es tatsächlich zum Rückzug aus der kompletten (oder annähernd kompletten) Westbank bereit sein wird. Die Siedlungspolitik Israels, vor allem die jüdischen Nachbarschaften in Ostjerusalem von Ramot im Westen bis zu Gilo im Süden, haben den Palästinensern das Gefühl vermittelt, politisch stranguliert, eingekesselt und vor vollendete Tatsachen gestellt zu sein, die letztlich die Gründung eines lebensfähigen Staates Palästina unmöglich machen werden. Israel hingegen hat die Siedlungspolitik seit 1967 vor allem als Teil einer umfassenden Sicherheitspolitik verstanden, und in Jerusalem ganz sicher auch im Sinne einer Politik, die die Annektierung Ostjerusalems in den Staat Israel durch "Tatsachen am Boden" zu untermauern suchte. Daneben existierte und existiert aber in den Kreisen der nationalreligiösen Parteien auch die Überzeugung, dass Juden das Recht haben, in Judäa und Samaria, dem Kernland des alten Israel, siedeln und leben zu dürfen. Leider schliesst diese Denkweise in der Regel nicht die Bereitschaft mit ein, gegebenenfalls in Zukunft dafür auch in einem arabischen Staat Palästina leben zu wollen.

· Der derzeitige Konflikt gründet aber nicht zuletzt in der andauernden Weigerung vieler Palästinenser und arabischer Nachbarstaaten, die Existenz des Staates Israel als gegeben innerlich zu akzeptieren. Das erklärt die Vorsicht der Israelis, den Palästinensern allzuweit entgegenzukommen bzw. den Wunsch nach einer allumfassenden Einigung, die künftige Forderungen ausschließt. Dazu aber scheinen weder die Palästinenser noch Staaten wie Syrien, Iran, Irak bereit zu sein. Viele hoffen nach wie vor auf eine veränderte politische Konstellation, die eine Zerstörung Israels und einen Staat Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer ermöglichen könnte. Es war nicht die jüdische, sondern die arabische Seite, die 1947 den UN-Teilungsplan ablehnte, der die Errichtung eines jüdischen und palästinensischen Staates vorsah, weil sie glaubte, den Staat Israel völlig verhindern oder militärisch auslöschen zu können. Und wieder waren es die arabischen Staaten und die Vertreter des palästinensischen Volkes, die 1967 nach dem Sechstagekrieg das Angebot Israels zu Verhandlungen über die Rückgabe der besetzten Gebiete ablehnten. So ist Israel durch seine militärischen Siege in den Kriegen von 1948, 1956, 1967 und 1973 sowie im Libanonkrieg 1982 und durch die andauernd feindselige Haltung seiner arabischen Nachbarn ungewollt die ungeliebte Rolle der Besatzungsmacht zugefallen. Die innenpolitische Diskussion in Israel zeigt, dass Israel diese Rolle der Besatzungsmacht liebend gerne los wäre - aber eben nicht um den Preis seiner Selbstaufgabe.

· Die Berichterstattung über die aktuelle "Al-Aksa-Intifada" in den westlichen Medien erscheint mir äußerst einseitig zu sein, da sie in der Regel in Absehung von den historischen Zusammenhängen dem klassischen Reflex folgt, dass man mit dem vermeintlichen "underdog" sympathisiert, der gegen eine haushoch überlegene Besatzungsarmee aufbegehrt. Es wird in der westlichen Presseberichterstattung - anders als im israelischen Fernsehen und in den Zeitungen - auch oft nicht deutlich, dass Angriffe der israelischen Armee in aller Regel allein Reaktionen auf Angriffe oder terroristische Anschläge sind. Es wird nur die vermeintliche Unverhältnismäßigkeit der Mittel angeprangert und Israel pauschal als Aggressor gebrandmarkt. Es muss die Frage erlaubt sein, welcher Staat in der Welt es tolerieren würden, wenn seine Bürger permanent zu Zielscheiben von Terror- und Gewaltakten würden. Die harsche Reaktion etwa der israelischen Armee auf das kürzliche Attentat im Einkaufszentrum von Netanja (Einsatz von F-16-Bombern gegen Ziele in der Westbank) mag man als unangemessen kritisieren. Sie zeigt jedoch auch etwas von der verzweifelten Hilflosigkeit im Kampf gegen den heimtückischen Terrorismus gegen die Zivilbevölkerung. Es muss festgehalten werden: Israel reagiert auf terroristische Anschläge. Der Schlüssel für ein Ende der Gewalt und die Rückkehr zu Verhandlungen liegt bei den Palästinensern.

· Wie wird es weitergehen? Wie kann ein Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt und Gegengewalt gefunden werden? Wenn ich israelische Freunde frage, sind sie in aller Regel äußerst pessimistisch. Ariel Scharon ist von zwei Dritteln der israelischen Wähler zum Premierminister gemacht worden, da er Sicherheit für die Bürger des Landes versprochen hat. Auch wenn er dieses Versprechen bislang nicht eingelöst hat und vermutlich niemals wird einlösen können, wird er dennoch nach wie vor von der breiten Mehrheit der Israelis unterstützt, weil sie in diesen unruhigen Zeiten mehr Vertrauen in eine harte rechte Politik denn in eine Politik der Nachgiebigkeit haben. Für die Palästinenser hingegen ist Scharon der "Schlächter von Sabra und Schatilla", der aus ihrer Sicht für die Massaker an Palästinensern im Libanon im Jahr 1982 verantwortlich ist. Es ist nicht zu sehen, wie zwischen einer von Scharon geführten Regierung und den Palästinensern auch nur irgendeine Form von Verständigung zu erreichen sein wird.

· Die israelische Gesellschaft ist in dieser Situation (noch) in ihrer überwiegenden Mehrheit auf Seiten einer harten Haltung gegenüber den Palästinensern. Sie unterstützen Scharons Haltung, dass nur bei einem Ende der Terrorakte Gespräche wiederaufgenommen werden können. Das israelische "Friedenslager" und die linke Opposition in der Knesset wie etwa die "Meretz"-Partei und der linke Flügel der Arbeiterpartei verfechten ein Ende jeglicher Bauaktivitäten in den Siedlungen (einschliesslich in Ostjerusalem) als einseitige Vorleistung Israels für einen Waffenstillstand. Friedensaktivisten wie Uri Avnery werden in ihren drastischen Vorwürfen gegen die Regierung Scharon-Peres ("Staatsterrorismus gegen die palästinensische Bevölkerung") in der arabischen Welt begierig zitiert, sind jedoch derzeit in der Bevölkerung Israels in ihren Positionen in keinster Weise mehrheitsfähig.

Die Diskussion zeigt jedoch in einer augenfälligen Weise auch den Unterschied zwischen einer demokratischen Streitkultur, wie sie in der israelischen Gesellschaft vorhanden ist, und dem nahezu völligen Fehlen einer auch nur annähernd vergleichbaren internen Kritik im palästinensischen Lager.

· Wir in Nes Ammim können kaum etwas zur Änderung der augenblicklichen politischen Lage beitragen. Aber wir können durch unsere bleibende Präsenz im Staat Israel weiterhin ein Zeichen der Solidarität für Israel als der Heimstatt des jüdischen Volkes setzen und für das Recht des jüdischen Volkes eintreten, in Frieden und Sicherheit innerhalb anerkannter Grenzen leben zu können.

Wir wollen aber auch ein Ort sein, an dem weiterhin die Idee der Koexistenz zwischen Juden und Arabern verfolgt und unterstützt wird. Jüdisch-arabische Friedensgruppen, Sommercamps jüdischer und arabischer Jugendlicher, Seminargruppen von Palästinensern und Israels haben Nes Ammim als "neutralen Boden" für ihre Arbeit entdeckt und schätzen gelernt.

Als Gäste in diesem Land wollen wir Bewohner von Nes Ammim unseren israelischen Gastgebern keine - noch so gut gemeinten - politischen Ratschläge erteilen. Wir kommen als Lernende in dieses Land. Das schliesst aber nicht aus, dass wir im persönlichen Gespräch mit unseren israelischen Freunden mitunter auch unser Unverständnis über bestimmte Positionen und Aktionen der israelischen Regierung ausdrücken dürfen - solange nur unsere grundsätzliche Solidarität mit dem Staat Israel, der sich auch 53 Jahre nach seiner Gründung noch in einem Kampf um sein Überleben befindet, nicht in Frage steht.

Pfarrer Andreas Grefen ist Studienleiter in Nes Ammim, Israel

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