Zwischen Okzident und Orient

Volk Gottes und Trinität im interreligiösen Dialog

von Klaus-Peter Lehmann

1.) Haben Kulturen ein Wesen?

Das Bild vom Kampf der Kulturen ist wie eine Neuauflage der Parole vom Untergang des Abendlandes. Nach der untergegangenen roten und der verblassten gelben Gefahr taucht am Horizont das Geheimnis des Islams in der Gestalt eines terroristischen Islamismus auf. (1) Doch die westlichen Politiker scheinen nach den mörderischen Aktionen am 11. September die gefährliche Sprengkraft dieses Feindbildes erkannt zu haben. Die Brisanz eines plakativen Bildes vom Wesen einer Kultur ist fast unbestritten. So unbestritten, dass Fragen in anderer Richtung kaum laut werden. Denn problematisch ist auch, in Kulturen nur ein Gemenge austauschbarer Identitäten und verschiedener Interessen zu sehen und keiner eigenes Wesen zuzuerkennen. (2) Schlechte Erfahrungen mit einem essentialistischen Kulturbegriff sollten nicht den Blick für spezifische Prägungen verstellen, die einer Kultur eigen sind und einer anderen nicht. So schwer die Bestimmung im Konkreten sein mag, die Annahme, keine Kultur habe ein eigenes Wesen, unterhöhlt den Begriff von Kultur selbst.

Uns interessiert das jeweils Spezifische einer Kultur, ein roter Faden, ein bleibendes Bündel an Ideen, das den Wechsel ihrer Geschichte überdauerte. Wenn wir so nach Charakterzügen des Orients und des Okzidents fragen, nach Denkmustern, die ihren Diskurs prägen, so wird es sich weniger um die im öffentlichen Vordergrund stehenden handeln, wie Aufklärung, Demokratie oder Gleichberechtigung. Wir suchen ein kontinuierliches Gepräge, das an die geschichtlichen Ursprünge beider Kulturkreise zurückreicht. Ihre tiefe und verschiedene religiöse Prägung, die aus einer identischen Wurzel wuchs, legt einen prinzipiellen Unterschied im Blick auf den gemeinsamen Ursprung nahe. Der Wahn von Kreuzzügen und Erbfolgekriegen sagt nichts über eine Verschiedenheit aufgrund kultureller Grundmuster bzw. religiös geprägter essentials aus, die trotz geschichtlicher Brüche wie die Säkularisierung Denken und Weltsicht bis heute prägen.

Dies scheint für die verschiedenen Formen der Abgrenzung zum Judentum zu gelten. Seine Minderbewertung war in beiden Kulturen immer Praxis. Die abendländische Ausprägung ist ein feindseliger Pogrom-Antijudaismus. Er erklärt sich durch die heilsgeschichtliche Konkurrenz, die die Kirche im Judentum sah. Seine orientalische Form ist aufgrund der ambivalenten Anerkennung als Buchreligion im Islam ein relativ festgeschriebener gesellschaftlicher Status mit eingeschränkten Rechten. In beiden Fällen erweisen sich christliche wie islamische Theologie als kulturprägend. Das begründet die Frage nach anderen Prägungen aus den Ursprüngen von Okzident und Orient.

2.) Um die Trinitätslehre - lebendiger Streit statt abgehobenes Dogma

Der Rationalismus der abendländischen Theologie, die Scholastik und das geschichtliche Denken blieben den Ostkirchen bis heute fremd. Hier wurde die Theologie in den Kultus verwoben, der als Mysterium die Herrlichkeit Gottes darstellt. Heute noch kämpft die Orthodoxie gegen die Theologie der Westkirchen, der zufolge der Heilige Geist vom Vater und vom Sohne (filioque) ausgeht. Sie erblickt darin "eine Art oberflächlichen Intellektualismus," dessen "zwangsläufiges Ergebnis ist, dass das Leben des christlichen Glaubens zu einer Demonstration der Macht wird, entweder in Form des massiven Kollektivismus kirchlicher Institutionen oder in Form des zerbrochenen Individualismus der verschiedenen theologischen Schulen, die die Kirche noch weiter zu spalten drohen." (3) Theologiekritik ist hier Kulturkritik. Den reformatorischen Kirchen, die meist entschiedener als die Katholische Kirche für das filioque eintraten, (4) ging es um die geschichtliche Bindung Gottes, um personale Bundesgeschichte und geschichtliche Nachfolge Jesu Christi und damit um den ethischen Charakter des Zeugnisses vom biblischen Gott. Der Orthodoxie gilt der Sohn lediglich als der gesandte Träger des Gottesgeistes. Gottes Menschwerdung wird so der Sache nach in Frage gestellt. Das widersprüchliche Festhalten an ihr führt zur Vergötterung Jesu statt zur Nachfolge in seinem Geist. (5) Wo das exklusive "vom Vater / ex Patre" als ewige Wahrheit gilt, wird die Beziehung Gottes zum Menschen ungeschichtlich und erhält mehr oder weniger einen naturalistischen, also heidnischen und unethischen Charakter. An die Stelle des forensischen, des erwählenden und richtenden Wortes tritt eine Beziehung zu Gott, die vom mystischen Einswerden geprägt ist. (6) Das Fehlen jeglicher diakonischer Aktivität in der orthodoxen Tradition hat hier ihren Grund oder ihre Legitimation. Zweifellos bezeichnet das filioque den Graben zwischen rationaler und geschichtlicher Ausprägung der Kultur der Westkirchen und der mystischen Archaik der Ostkirchen.

Der Islam leitet sich vom Kontakt Muhammeds mit dem arabischen Judentum und den Kirchen des Orients her. Man könnte ihn interpretieren als eine Fortführung der in den orientalischen Kirchen virulenten Abwehr des geschichtlich erwählenden Gottes. Die islamische Verabsolutierung des Einsseins Gottes wäre der rationalistische Spiegel des exklusiven ex Patre der Orthodoxie - unter Abstrich alles sakramentalen Pomps. Doch entwickelt sich der Islam als betont ethische Religion. Seine Verabsolutierung der Transzendenz verzerrt die Einzigkeit Gottes zu einem abstrakten Absolutum. Für unsere Betrachtung entscheidend ist, dass der ungeschichtliche Naturalismus der Gottesbeziehung erhalten bleibt - wie in der Orthodoxie.

"Der Kunstgriff des Islam besteht doch nur darin, dass er, gewissermaßen in Potenzierung alles sonstigen Heidentums, dessen esoterisches Wesen, d. h. aber eben den sogen. Monotheismus als solchen ans Licht und in den Mittelpunkt gerückt hat. Er konnte damit allen anderen Heidentümern, er konnte damit auch einem heidnisch auf die Einzigkeit Gottes bedachten Christentums zur tödlichen Gefahr werden." (7)

Wir heben hervor: Das jüdische Erbe des geschichtlichen und rationalen Denkens hat trotz des durchgehenden Antijudaismus im Westen Eingang erhalten. Der Orthodoxie fehlt beides, der Islam denkt rational und im biblischen Sinne ungeschichtlich.

3.) Das Reich

An der Wiege der christlichen Kirchen wie des Islam standen die Großreiche der Antike. Die Idee eines anderen Reichs prägen Christentum und Islam, allerdings in charakteristischer Verschiedenheit. Trotz Verehrung des Kaisers und staatspolitischer Prägung seit der konstantinischen Wende blieb in allen Kirchen des Westens eine Differenz zwischen dem politischen Reich und dem Reich der Erlösung, civitas terrena und civitas Dei seit Augustinus. An ein geschichtliches Jenseits zu den bestehenden Reichen wurde im Orient nicht gedacht. Die orthodoxen Kirchen sprechen von einer Symphonie zwischen lokaler Kultur und Verkündigung. (8) Ihr Grundgedanke des liturgischen Eingehens ins Volk führt geradewegs in den religiösen Nationalismus. Der Islam kennt kein Jenseits zur politischen Ordnung, die er selbst etabliert. Seit der Übersiedlung Muhammeds nach Medina ist die Weltgeschichte in muslimischer Sicht die Geschichte der islamischen Glaubensgemeinschaft. Hinter allem Geschehen ist Allahs Plan, den Djar al-Islam, das Haus des Islam, über alle Ungläubigen triumphieren zu lassen. (9) Die Erwartung einer Zukunft, die die herrschende Realität radikal transformiert, kommt im Orient nicht zum Zuge. Anders im Westen. Christliche Existenz ist beinahe prinzipiell Pilgerschaft, geduldiges Warten auf ein jenseitiges Reich.

Es scheint unumgänglich, in dieser Differenz eine Konsequenz des filioque zu sehen, das die Westkirchen davor bewahrte, die herrschende Geschichte und die kommende Zukunft ineinander übergehen zu lassen. Ein strikte Trennung zwischen den zwei Reichen gab es hier fast immer, außer z. B. im Kulturprotestantismus. Der Ausgang des Gottesgeistes vom Sohne zielt auf den geschichtlichen Beginn einer neuen Menschheit inmitten der alten, ein Gedanke, wie er vom orthodoxen ex Patre und mit der natürlichen Gotteserkenntnis im Islam nicht nachvollzogen werden kann, sondern abgelehnt wird.

Der geschichtliche Messianismus, auch ein Erbe des Judentums, hat den Westen bis in seine antijüdischen Verirrungen geprägt, im Unterschied zum Osten, dessen Denken im Prinzip autochthon blieb.

4.) Der Einbruch des Barbarischen

Weder war das Abendland ein Vorbild des Christlichen, noch lebte der Orient durchwegs nach den Vorschriften des Koran. "Jesus erwartete das Reich Gottes - gekommen ist die Kirche." (Loisy) Eine entsprechende Unterscheidung zwischen Quelle und Wirkungsgeschichte muss auch für die islamische Welt gelten. Aber Gewaltausbrüche oder Einbrüche des Barbarischen beziehen sich zu ihrer Legitimation auf die geistigen Quellen ihres Kulturkreises. Auch ihre Gestalt erweist ihnen Referenz. Die NS-Ideologie erinnerte an christliche Heilsversprechen, indem sie christliche Vokabeln aufgriff und amalgamierte. Das "Dritte Reich" stand im Endkampf mit dem ewigen Erbfeind. Nach seiner Vernichtung würde das zur Weltherrschaft erwählte germanische Volk ein ruhmvolles Zeitalter einläuten. Der westliche Antichrist bleibt an spezifische Vorgaben gebunden: er verspricht ein neues Reich.

Ein solches Versprechen wird im Orient kaum laut. Die Vorstellung von Auferstehung als Vergeistigung, wie die Ostkirchen sie pflegen, bietet dafür keine Anknüpfung. Der Islam kennt kein geschichtliches Jenseits vom Djar al-Islam, der muslimischen Welt. Deshalb stellt die neuzeitliche machtpolitische Unterlegenheit des Orients gegenüber der abendländischen Welt für alle Orientalen eine empfindliche Erniedrigung dar. Im Rückblick auf die Kreuzzüge sind die orthodoxen Christen, wie die Entschuldigung des Papstes zeigte, in dieses Gefühl miteingeschlossen. Deshalb ist der in den arabischen Ländern verbreitete Hass auf den Westen nicht reduzierbar auf eine Reaktion gegen eine imperialistische Politökonomie der Verelendung.

Die muslimische und die christliche Welt empfinden den Staat Israel nicht nur als Brückenkopf des Westens, sondern als Stachel im eigenen religiösen Fleisch. Denn er widerlegt die Idee vom Haus des Islam, das nirgendwo Einbruch oder Rückzug erleiden kann - ebenso wie er der christlichen Verwerfung des alten Bundesvolkes widerspricht. An Israel entzündet sich der islamistische Terrorismus, der orthodoxe Antijudaismus, wie sich an diesem Volk der christlich verbrämte Hass des Nationalsozialismus austobte.

5.) Anforderungen an den christlich-muslimischen Dialog

Über den Antijudaismus im Islam sollte man ebenso offen reden, wie über den Antisemitismus der Kirchen. Alle interkulturelle Begegnung ist Firniss auf faulem Boden, wenn dieses Thema Tabu bleibt. Es gehört in die Mitte des theologischen und politischen Austausches zwischen Christen und Muslimen, auch wenn man hohe Erwartungen zunächst zurückstellen sollte. Wie vorgängige Überlegungen zeigten, gehört die orthodoxe Position auch hierher. Im Blick auf beide Gesprächspartner müssen viele evangelische Christen erst wieder lernen, das trinitarische Dogma ernst zu nehmen, um dialogfähig zu werden. In die sachliche Mitte des Dialoges gehört dieses Thema, weil das filioque immerhin so zu hören ist, dass es für die Anerkennung Israels als ewig erwähltes Volk Gottes die Tür öffnet oder sie gar impliziert, während die Ablehnung des filioque diese Tür zuschlägt. Sohn Gottes ist nach der Tora (Ex. 4,22) Israel und der Gottessohn Jesus also ein Sohn des Gottessohn-Volkes. Das filioque, christologisch nicht exklusiv ausgelegt, würde besagen, dass der Geist Gottes wie vom Messias so vom messianischen Volk ausgeht, gehören doch beide so untrennbar zusammen, dass sein Kommen Israels Erwählung bestätigt (Luk. 1,54). Die Ablehnung des filioque schließt mit dem Gottessohn auch sein Volk vom Getragensein durch Gottes Geist, von der Erwählung aus. Das exklusive ex Patre löst die Gottesbeziehung von der biblisch bezeugten Offenbarungsgeschichte, die der ewige Bund mit Israel ist. Die Funktion der Christologie ist es, diese geschichtliche Gebundenheit des Glaubens festzuhalten, besser: messianisch fortzuschreiben. Eine exklusive Christologie würde nur nachzuholen versuchen, was das ex Patre an dogmatisch richtigerer Stelle für den Osten schon vollendete, die Ausschließung Israels. Deshalb ist ein inklusiv ausgelegtes filioque in den Dialog mit der Orthodoxie einzubringen.

Das sollte den gedanklichen Hintergrund für das theologische Gespräch mit den Muslimen bilden. Denn der verabsolutierten Transzendenz Allahs sollte der geschichtliche Beziehungsreichtum des trinitarischen Gottes in seiner Einheit nach innen (sich treu bleibend in seiner ewigen Liebe zu Israel) wie in seinen pluriformen Werken nach außen (Bünde, Volk, Messias, Kirche, Spuren seines Geistes in anderen Religionen) gegenübergestellt werden.

Es wäre die Aufgabe der Kirchen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten ihr Verhältnis zu Israel grundlegend verändert haben, an dieser ökumenischen und interreligiösen Front gegen den Hass zu wirken, der letztlich in der Ablehnung des Geheimnisses von Gottes Erwählungstreue, also in der Feindschaft zu seinem Volk begründet liegt.
Anmerkungen:
(1) Der Stern vom 4.10.01 stellt auf dem Titelbild, das 5 Personen mit dem unter den Taliban üblichen Schleier zeigt, die Frage: "Ist ihre Religion gefährlich für uns?" Die Antwort steht auf Seite 40: "Sie morden im Namen Allahs. Sie fordern den Tod der Ungläubigen. Seit den Anschlägen in Amerika bewegt viele die Frage, wie gefährlich Muslime sind. Fundamentalisten haben sie in Verruf gebracht." Der letzte Satz ist bestenfalls eine leichte Relativierung des allgemeines Feindbildes. Allerdings verfolgt der Textteil diese Linie nicht weiter.
(2) Die "Kultur" hat kein Wesen, so z.B. E. Seidel in der taz v. 20. 11. 01
(3) N. A. Nissiotis, Die Theologie der Ostkirche im ökumenischen Dialog, Stuttgart 1968, S. 27
(4) CA III: "...et perpetuo regnet ac dominetur omnibus creaturis, sanctificet credentes in ipsum, misso in corda eorum spiritu sancto, qui regat, consoletur et vivificet eos..."
(5) Die Ablehnung des filioque hat eine Neigung zum Monophysitismus (Ein-Naturen-Lehre). Wer diese Konsequenz nicht ziehen möchte, kann den Schein einer Anerkennung der Gottgleichheit des Sohnes nur mittels seiner Vergötzung wahren, d. h. ohne Anerkennung seiner geschichtlichen Erneuerungskraft durch das Kommen seines Geistes, die der Kern des filioque ist.
(6) Vgl. K. Barth, KD I/1, S. 505. "Wenn ein Asket in der Welt lebt...und gute Werke verrichtet, welche sind Nächstenliebe, Gastfreundlichkeit...Wer dies tut, ist sehr gut und befolgt die Gebote, aber er ist noch um irdischer Dinge besorgt. Wer aber der Welt entsagt hat, ist heiliger als dieser und größer als er. Denn er ist emporgestiegen zur schau des Erhabenen." (G. D. Metallinos, Leben im Leibe Christi. Einführung in die Orthodoxie, Athen 1990, S. 181) (7) K. Barth, KD II/1, S. 505
(8) Nissiotis, a.a.O., S. 176ff
(9) Man kann sagen, dass Judentum, Christentum und Islam der Ausblick auf eine versöhnte Menschheit eint. Die biblischen Religionen erwarten sie von einer radikalen Transformation der gesamten menschlich geschöpflichen Realität, die eigene Lebenswelt eingeschlossen. Für den Islam wird die versöhnte Menschheit durch die Ausweitung des Djar al-Islam erreicht. Vgl. dazu: T. Nagel, Der Koran. Einführung - Texte - Erläuterungen, München 1983, S. 171

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