"Was geht uns Juden der Antisemitismus an?"

Über Fremdenfeindlichkeit und politische Versäumnisse

von Paul Spiegel,
Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland

Das Landgericht Kempten findet in diesen Tagen nichts Beleidigendes an der Äußerung "Zigeunerjude", der Berliner CDU-Bürgermeisterkandidat Frank Steffel hält eigene Jugend-Sprüche über "Bimbos" und "Kanaken" für vergebungsfähig. Momentaufnahmen aus Deutschland, wo latenter Antisemitismus und Rassismus nach Überzeugung des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, heruntergespielt oder gar salonfähig gemacht werden. Wir dokumentieren in gekürzter Fassung das Plädoyer für aufklärende Bildungsarbeit und mehr demokratisches Selbstbewusstsein, das Spiegel dieser Tage bei der Veranstaltung "Lyrik gegen das Vergessen" in der Bibliothek Solvay in Brüssel hielt. Eingeladen hatten auf Initiative der Europaparlaments-Abgeordneten Barbara Weiler die EU-Büros aller deutschen Bundesländer.

Es scheint in Deutschland, aber auch im deutschsprachigen Raum insgesamt eine merkwürdige Selbstverständlichkeit geworden zu sein, ausgerechnet Juden zum Thema Antisemitismus zu befragen. Immer wieder werden wir Juden von den Me-dien, von Institutionen und Privatpersonen zu diesem Thema interviewt oder zu Rate gezogen. Und jeder erwartet, dass ausgerechnet wir Juden Fachleute in Sachen Antisemitismus sind, dass ausgerechnet wir die psychologischen und psychosozialen Hintergründe dieser Pest begreifen und erklären können und dass wir es sind, die genau wissen, wie sich die Gesellschaft von dieser Seuche befreien kann.

Dieser Reflex der deutschen Gesellschaft wird von der Mehrheit nicht mehr hinterfragt, im Gegenteil, er wird sogar als Political Correctness angesehen, und eine Abwehr von jüdischer Seite gegenüber dieser Haltung würde mit Sicherheit Befremden und Irritation auslösen.

Die in Israel lebende Schriftstellerin Cordelia Edvardson, die in ihrer Biographie "Gebranntes Kind scheut das Feuer" ihre fürchterlichen Erfahrungen in Auschwitz beschreibt, wurde bei ihrer Lesereise durch Deutschland immer wieder von ihrem Publikum zum Antisemitismus befragt. Lakonisch und sehr distanziert antwortete sie immer dasselbe: "Was geht mich der Antisemitismus an? Das ist kein jüdisches Problem, das ist euer Problem." Wie Recht sie hat. Was geht uns Juden der Antisemitismus an? Wir sind ganz gewiss keine Antisemiten, wenn wir den jüdischen Selbsthass eines Otto Weininger oder eines Theodor Lessing mal beiseite lassen.

Der Antisemitismus betrifft uns, aber unser Problem ist er nicht. Er ist das Problem der nichtjüdischen Gesellschaft, für deren demokratische und ethische Verfassung er eine Katastrophe ist.

I.

Über viele Jahrhunderte versuchten Juden auf den Antisemitismus mit einer Ghetto-Mentalität zu reagieren: Man benahm sich "anständig", versuchte nicht aufzufallen und verhielt sich auf alle Fälle so, wie man glaubte, dass die nichtjüdische Gesellschaft es von den Juden erwartete. Man tat dies in der Hoffnung, auf diese Weise der Feindschaft zu entgehen, keine Angriffsfläche zu bieten und somit einem Pogrom, der Verfolgung und der Vernichtung zu entgehen. Spätestens seit Auschwitz wissen wir, dass dieses Verhalten unsinnig ist. Nirgendwo auf der Welt waren die Juden so angepasst, so "deutsch" wie in Deutschland. Genutzt hat es ihnen nichts. Und dennoch gibt es noch heute Juden, die der Meinung sind, "ein Jude repräsentiert alle, im Guten wie im Schlechten".

Für einen Antisemiten spielt unser Verhalten überhaupt keine Rolle. Je nach Bedarf sind wir für Antisemiten die Bolschewiken oder Kapitalisten, Imperialisten oder Blutsauger, Gottesmörder oder das "eingebildete" auserwählte Volk. Und auch die Funktion des "Alibijuden" ist uns nicht unbekannt: Man hasst die Juden, doch Herrn Cohn von nebenan, den meint man natürlich nicht, der ist ein ganz anständiger Kerl.

Und inzwischen kennen wir auch den Antisemitismus ohne Juden, besonders in Deutschland. Dieses Phänomen hat es bereits vor der Shoah gegeben, umso mehr jetzt, nachdem sechs Millionen Juden in Europa ermordet wurden. Eine weitere Variante des heutigen Antisemitismus ist der so genannte "Anti-Zionismus", der Hass auf Israel und - noch grotesker - auf die Juden, die gar nicht in Israel leben; die Juden werden gehasst wegen der Lage im Nahen Osten.

II.

Ich frage Sie also, meine Damen und Herren, was geht uns dieses Krebsgeschwür, der Antisemitismus, an? Warum müssen ausgerechnet wir Juden uns jedes Mal zu diesem Thema äußern, wenn es auf der Agenda des öffentlichen Interesses steht? Warum - und ich spreche da durchaus aus einschlägiger Erfahrung - stürzen sich bei entsprechenden Attentaten die Medien auf mich und nicht etwa auf Kardinal Lehmann oder Bischof Kock, den Vorsitzenden der Evangelischen Kirche Deutschlands?

Dennoch habe ich Ihre Einladung gern angenommen, um mit Ihnen über dieses Thema zu sprechen. Denn es gibt einen Aspekt, der mir unerlässlich zu sein scheint, über dieses Thema öffentlich zu sprechen: Es ist die Verantwortung des Bürgers gegenüber der Gemeinschaft, gegenüber dem Wohl der Gesellschaft, in der er lebt. Ich spreche also hier zu Ihnen als Bürger der Bundesrepublik Deutschland, als Bürger Europas, der sich seiner individuellen politischen Verantwortung bewusst ist, der alles tun will für den Erhalt und das Wohl der Demokratie. Dass ich Jude bin, mag für Sie eine Rolle spielen, die Sie mich zu diesem Thema eingeladen haben, für mich steht jedoch im Vordergrund meine Pflicht als Bürger.

An dieser Stelle vor Ihnen ist es mir ganz wichtig zu betonen, wie bedeutend für uns Juden in aller Welt das Wohlergehen des Staates Israel ist. Auch wenn wir nicht immer mit den politischen Entscheidungen der jeweiligen israelischen Regierungen einverstanden sind, auch wenn wir manchmal Bedenken, Kritik oder Zweifel haben, eines muss unmissverständlich klar sein: Die Sicherheit des jüdischen Staates ist ein Muss und steht nicht zur Diskussion. Und zwar nicht nur, weil Israel nach wie vor ein Hafen für verfolgte Juden in aller Welt sein muss, sondern weil dieser Staat Israel in dem neuen Selbstverständnis, das die jüdische Welt nach Auschwitz mühsam finden musste, eine wichtige und herausragende Rolle spielt.

III.

Doch zurück nach Deutschland. Nicht erst seit der Wiedervereinigung - aber insbesondere seitdem - erleben wir im Lande des Holocaust einen Antisemitismus von ungeahntem Ausmaß. Mein Vater, der die schlimmsten Lager der Nazis überlebt und dennoch nach Hause, nach Warendorf zurückkam, meine Mutter und mich aus Belgien zurückholte und unser Leben ganz selbstverständlich in Deutschland wieder einrichtete, pflegte angesichts des Nachkriegselends in Deutschland zu sagen: "Die Deutschen werden nie wieder Antisemiten werden. Sie spüren am eigenen Leib, wie verderblich sich das ausgewirkt hat."

Er und seine Generation, aber auch ich, nach dem Ende der Shoa ein kleiner Junge - wir haben es uns nicht vorstellen können, dass jemals wieder in Deutschland Synagogen brennen, Juden beleidigt und auf offener Straße geschlagen werden, dass selbst Politiker demokratischer Parteien antisemitische Äußerungen ohne jede Konsequenz machen dürften.

Was tut man in dieser Situation? Meine Überlegungen zum Antisemitismus beziehen sich nie allein auf ihn, sondern auch immer auf die Fremdenfeindlichkeit ganz allgemein, denn die Fremdenfeindlichkeit ist die große Schwester des Antisemitismus und vielleicht in Deutschland ein noch größeres Problem. Elie Wiesel hat einmal gesagt: "Nicht jeder Antisemit ist fremdenfeindlich, aber jeder Fremdenfeind ist ganz sicher auch ein Antisemit."

Das wohl entscheidende und primäre Problem beim Umgang mit dem Antisemitismus ist seine Wahrnehmung. Es gehört beinahe zum guten Ton politischer Rhetorik, bei entsprechenden Anlässen immer wieder darauf hinzuweisen, Deutschland sei nicht antisemitisch. Der unmittelbar darauf folgende Hinweis auf die funktionierende Demokratie ist so wahr wie banal und dient meiner Meinung nach der Selbstberuhigung einer irritierten deutschen Nachkriegsgesellschaft, die genau weiß, dass Angriffe auf Ausländer im Ausland bis heute anders wahrgenommen werden als Angriffe auf Juden. Die Belastung der Geschichte wirkt bis heute nach.

Die deutsche Öffentlichkeit müsste endlich zur Kenntnis nehmen, dass ein viel zu großer Teil der Gesellschaft tatsächlich antisemitisch ist; den Beweis hierzu lieferte auch eine vor etwa zwei Jahren gemachte wissenschaftliche Untersuchung, der zu-folge 15 Prozent der deutschen Bevölkerung zumindest latent antisemitisch ist. Das Herunterspielen von Ereignissen, Äußerungen, Slogans und Taten wird nicht zum Verschwinden des Antisemitismus führen. Im Gegenteil. Es macht ihn salonfähig.

Es sind einige Politiker des durchaus demokratischen Spektrums, die - vor allem in Wahlkampfzeiten - mit populistischen Slogans im äußersten rechten Lager zu punkten suchen und somit nicht unerheblich dazu beitragen, dass reaktionäres, fremdenfeindliches und antisemitisches Gedankengut seinen Weg in die gesellschaftliche Mitte findet. Wenn demokratische Politiker von "nützlichen" und "ausnützenden" Ausländern sprechen dürfen, von der Grenze der Kapazität zur Aufnahme weiterer Ausländer und Flüchtlinge, dann ist das geradezu ein Freibrief für Rechtsextremisten. Hier wäre es dringend angezeigt, dass sich demokratische Politiker ihrer besonderen Verantwortung für das Gemeinwohl bewusst werden, dass es hier keineswegs um Sympathie oder Antipathie gegenüber Juden oder Ausländern geht, sondern um eine demokratische Kultur und einen ethischen Standard des öffentlichen Diskurses, der den Artikel I des Grundgesetzes immer von neuem respektiert und bewahrt: Die Würde des Menschen ist unantastbar. (...)

IV.

Der Antisemitismus, ich wiederhole mich, betrifft uns Juden. Aber er ist nicht unser Problem. Nach meiner Beobachtung folgt die neue Entwicklung in Deutschland einem ganz alten Muster: In Zeiten gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen und Verunsicherungen suchte man schon immer gern nach Sündenböcken für eigene Ängste und Bedrohungen. Wir Juden kennen dieses Verhalten unserer christlichen Umwelt seit 2000 Jahren.

Was nun ist zu tun? Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten bereits erste Initiativen gestartet, die wichtige Signale in die richtige Richtung sind. Das Aussteigerprogramm von Innenminister Schily und das Aktionsprogramm von Familienministerin Bergmann sind erste Schritte der Bundesregierung hin zu einer Solidargemeinschaft, die zumindest versucht, denjenigen zu helfen, die eine Zukunft, eine demokratische Zukunft haben möchten. Wir sind es uns selbst schuldig, zumindest alles zu versuchen, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft die Chance auf ein besseres Leben hat - natürlich unter der Voraussetzung, dass er die Grundregeln für ein friedliches Miteinander einhält. Und die ist nun einmal Respekt vor der Integrität eines anderen Menschen, ganz gleich, wo er herkommt, wie er lebt, ob er Deutscher oder Ausländer ist. Neben dieser Akut-Behandlung eines Problems müssen jedoch langfristige Initiativen und Therapieformen entwickelt werden. Sehr viel mehr als bisher muss im Bereich der Bildungspolitik geschehen.

Das politische Vakuum, das sich durch den Untergang des SED-Regimes gebildet hat, ist eine nahezu ideale Möglichkeit für den Rechtsextremismus, sich "häuslich" niederzulassen. Man stelle sich Folgendes vor: Eine Gesellschaft, die sozialistisch-totalitaristisch erzogen wurde, der also der Zugang zur freien Information, zu einer pluralistischen Weltsicht, zum demokratischen Diskurs und Dialog über Jahrzehnte vorenthalten wurde, soll nun, von einem Tag auf den anderen, mit einer neuen Gesellschaftsform, mit neuen politischen Strukturen klarkommen.

Hand aufs Herz: Wer von uns westlichen Bürgern begreift denn wirklich, wie Demokratie in ihren Feinverästelungen funktioniert? (...) Selbst wir im demokratischen Westen der Bundesrepublik haben unsere liebe Mühe, unser politisches System zu begreifen. Und angesichts der Schlammschlachten, die sich gegnerische Politiker in Bundestagsdebatten öffentlich liefern, haben wir manchmal Mühe, die Demokratie ernst zu nehmen und verantwortlich mit ihr umzugehen. Um wie viel schwerer haben es die Menschen in der ehemaligen DDR. Wer hat sich wirklich die Mühe gemacht, diesen Menschen demokratische Strukturen zu vermitteln, ihnen das Primat des Konsens und die Vorzüge demokratischer Streitkultur und Willensbildung zu erläutern?

Kaum jemand hat diesen Menschen beizubringen versucht, dass das "deutsche Wesen" ganz gewiss nicht das einzige ist, an dem man gemessen werden kann. Und niemand hat ihnen klarzumachen versucht, dass es in der komplexen Realität von heute ein Plus ist, mit unterschiedlichen Gedanken und Konzepten, unterschiedlichen Weltbildern und Kulturen in Berührung zu kommen, um optimale Lösungen für komplizierte gesellschaftliche Notwendigkeiten zu finden.

V.

Bildungspolitik müsste genau an diesem Punkt ansetzen, um somit die Angst vor dem Fremden, das Vorurteil gegenüber dem Unbekannten zumindest zu minimieren. Ähnliches gilt natürlich nach wie vor auch für den Westen der Republik; denn wir dürfen uns nicht einbilden, dass wir die Toleranz und den Respekt vor dem anderen dadurch für uns gepachtet haben, dass wir in einer Demokratie groß geworden sind. Die Realität zeigt, dass auch wir in den alten Bundesländern massive Defizite in der Bildungspolitik erleben, dass auch hier Vorurteile, Ressentiments und Hass gegenüber Juden und anderen existieren.

Im gleichen Maße müssten Bildungsprogramme auch für eine Stärkung der Zivilcourage bei jedem Einzelnen eintreten. Wir kennen das: Bei jedem neuen Attentat kommt der lautstarke Ruf nach mehr Zivilcourage. Doch anders als in anderen west-lichen Demokratien ist man in Deutschland weit verbreitet immer noch von einer gewissen Obrigkeitshörigkeit erfüllt (...).

Hier wäre es angebracht, im Rahmen politischer Bildungsarbeit vor allem jüngeren Menschen persönliches politisches Engagement wieder schmackhaft zu machen, ihnen zu zeigen, dass sich Enthusiasmus und Idealismus lohnen, dass Querdenken und Vordenken in der Gesellschaft gefragt ist und nicht - wie so häufig auch innerhalb der etablierten Parteien - als (...) störend empfunden wird, als eine Form von Renitenz, die man sofort zerschlagen und vernichten muss, um den geregelten Gang der Dinge nicht zu gefährden.

Wie soll Eigenverantwortung bei jungen Bürgern - übrigens auch bei älteren - ent-stehen, wenn diese Eigenverantwortung abgemahnt und abgestraft wird? Eines der wesentlichen Merkmale der amerikanischen und auch der französischen Demokratie ist, dass sich der Bürger als Teil des Staates versteht und die Politiker nicht als allmächtige Herrscher ansieht, sondern als eine Art seinesgleichen, denen man für kurze Zeit ein Mandat gibt und es ihnen durchaus auch wieder schnell entziehen kann. Dieses Gefühl, dieses Wissen um die eigene Verantwortung, um die eigene Macht muss in Deutschland, vor allem im Osten, weiter gefördert werden. Dazu werden Millionen von Euro gebraucht; doch es liegt im ureigenen Interesse der Republik, dass die Bundesregierung solche Gelder bereitstellt. Dieses Geld ist eine entscheidende und unverzichtbare Investition in die Zukunft.

Eine weitere entscheidende Frage spielt die gesellschaftliche und öffentliche Ächtung antisemitischer und fremdenfeindlicher Äußerungen und Aktivitäten sowie deren Überprüfung durch Polizei und Justiz und in den Reihen der Bundeswehr. Hier gehören rechtsextremistische Vorfälle mittlerweile zum Alltag, ähnlich sieht es bei der Polizei aus. Ich spreche hier nicht von einigen schwarzen Schafen, die es überall gibt und die man nie ganz loswerden kann. Ich meine eine strukturelle Problematik, die nicht mit dem nötigen Ernst wahrgenommen und nur widerwillig bekämpft wird.

VI.

Es ist wahr: Polizei und Bundeswehr repräsentieren einen Querschnitt durch die Gesellschaft, warum also glaubt man, dass ausgerechnet sie gegen die Pest des Antisemitismus immun sein können? Ich beklage allerdings die oft beobachtete Neigung von verantwortlichen Politikern und der entsprechenden Bürokratie, Geschehnisse zu verharmlosen. So werden zwar bei besonders krassen Fällen Untersuchungskommissionen gebildet, es kommt sogar hier und da zu Berufsverboten, Ausschlüssen aus der Armee und so weiter. Doch mehr noch herrscht ein Geist der Vertuschung und Vernebelung, immer aus Angst, dass eine als antisemitisch angesehene deutsche Polizei oder Bundeswehr eine extrem schlechte Publicity für den Export-Weltmeister Deutschland bedeuten würde. Ich hingegen halte es gerade für ein Zeichen demokratischer Stabilität und Stärke, antidemokratische Strukturen mit aller Macht zu bekämpfen, sie öffentlich zu brandmarken und so zu verhindern.

Auch hier erwarte ich von der Politik ein massives Umdenken und Umschwenken. Eine neue Form demokratischen Selbstbewusstseins muss her, eine neue Form von Transparenz bei Vorfällen, die wir alle nicht tolerieren können.

Ebenso entscheidend ist die Rolle, die die Justiz hier spielt. Wir wissen, dass die bundesdeutschen Gerichte in den fünfziger Jahren zahlreiche Nazi-Richter in ihren Reihen hatten, die schlagartig mit dem Ende des Krieges von Faschisten zu Demokraten wurden. (...)

Wenngleich die heutigen Richter und Staatsanwälte lange nach der Nazizeit ausgebildet wurden, ist doch bei etlichen eine mir unverständliche Nachsicht mit rechtsextremistischen Tätern und ihren Taten zu beobachten. Ein versuchter Mord (wenn ein Brandsatz in ein bewohntes Haus geworfen wird) mutiert dann schnell zur Brandstiftung, ein versuchter Mord (wenn eine Gruppe von Skinheads sich über einen wehrlosen Menschen hermacht) wird dann schnell zur Körperverletzung. Aus einem Mord wird eben ein Totschlag, der sehr viel geringer bestraft wird. Nach meiner Beobachtung steckt in allzu vielen Richter- und Staatsanwaltsköpfen die Vorstellung von "Dummen-Jungen-Streichen" und von "jugend-typischen Straftaten". (...)

VII.

Schließlich und endlich möchte ich auf den so genannten "deutsch-jüdischen Dialog" eingehen. Einmal abgesehen davon, dass mich die Bezeichnung "deutsch-jüdisch" gewaltig stört, denn auch Juden sind Deutsche, ist der Dialog zwischen Juden und Nichtjuden eine Notwendigkeit für beide Seiten. Für Juden in Deutschland, weil sie sich erst in den letzten beiden Jahrzehnten nach der Shoa zur deutschen Gesellschaft bekennen wollen und sollen. Bis in die sechziger, ja, siebziger Jahre hinein spielte bei den meisten die Frage eine große Rolle: "Gehen oder bleiben?". Viele von uns lernen erst jetzt, sich dem deutschen Umfeld zu öffnen und ihre Bedürfnisse, ihre emotionalen Befindlichkeiten und ihre Ängste zu formulieren.

Nichtjuden hingegen haben oft eine große Befangenheit gegenüber Juden, sie wis-sen nicht so recht, wie sie uns ansprechen sollen, um nichts verkehrt zu machen. Wir wünschen uns, dass sie diese Hemmungen abbauen und begreifen, dass wir weder exotisch noch besser oder schlechter sind als andere Menschen. Allerdings - die Mehrheitsgesellschaft sollte lernen, auf die Minderheiten zu hören. Es kann nicht angehen, dass Nichtjuden uns Juden immer wieder erklären wollen, was antisemitisch ist und was nicht. Es kann nicht angehen, dass wir in unserer häufig negativen Wahrnehmung von Ereignissen als "übersensibel" oder "übertrieben" abgekanzelt werden. Das ist eine arrogante und dumme Bevormundung. (...)

Die nichtjüdische Mehrheit sollte begreifen, dass wir wirklich übersensibel sind, und das wahrlich nicht ohne Grund. Wir haben für viele Entwicklungen sensiblere Antennen als andere, weil wir diese Fähigkeit entwickeln mussten, um zu überleben. Daher sollten unsere Reaktionen ernst genommen werden, sie sollten zumindest als Warnsignal dienen, als Chance, eigene Einschätzungen und Beurteilungen von Ereignissen zumindest in Frage zu stellen. Da können Nichtjuden von uns Juden vielleicht mehr lernen als umgekehrt. (...)

Copyright © Frankfurter Rundschau, 07.09.2001

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