Antiziganismus als Phänomen der bürgerlichen Gesellschaft

von Udo Engbring-Romang

Der Geschichte der Verfolgung der Sinti und Roma in der hessischen Region sollen einige grundsätzliche Überlegungen zum Begriff und zur Geschichte des Antiziganismus vorangestellt werden.

Dass der Antisemitismus eine - aber nicht die einzige - der Voraussetzungen für die spätere Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten gegen die Juden gewesen ist, wird von niemandem ernsthaft bezweifelt. Gestritten wird darüber, wie stark und tief dieser Antisemitismus in der europäischen und speziell in der deutschen Gesellschaft verwurzelt war oder warum er zu einem "eliminatorischen" Antisemitismus werden konnte. Es wurde und wird in der Wissenschaft und der Öffentlichkeit dabei debattiert, ob die deutsche Bevölkerung eine besondere Art des Antisemitismus vertrat, die den Holocaust fast historisch notwendig erscheinen lässt. Man streitet auch darüber, ob der Antisemitismus im Deutschland der Nachkriegsjahre zu- oder abgenommen hat.

Auch dass Antijudaismus und Antisemitismus nur wenig über die wirklichen Juden aussagen, sondern fast ausschließlich Bilder herstellen oder nutzen, die zwar immer reale Juden zum Ausgangspunkt haben oder nehmen, gilt bei vielen als gesichert. Ohne diese realen jüdischen Menschen, deren Taten oder Untaten, ohne deren Leben, seien sie auch verzerrt dargestellt oder kolportiert, würden der Antijudaismus und der Antisemitismus nicht funktionieren und auch nicht ohne die Projektion eines Verhaltens oder einer Eigenschaft, die man - in diesem Fall - den Juden zutraut.

Dass Antijudaismus und Antisemitismus sehr viele Aussagen über den Zustand einer Gesellschaft ermöglichen, die diese Ideologien zulässt, ist heute auch weitgehend Gemeingut in der Diskussion. So gehören in eine Geschichte der Juden des Antijudaismus und der Antisemitismus zur Lebenswirklichkeit der Minderheit. In einer Geschichte des Antijudaismus oder Antisemitismus werden Ideologien oder Mentalitäten, die in der Mehrheitsgesellschaft vorhanden sind und dort mehr oder minder stark wirken, dargestellt, gegebenenfalls auf ihre Ursachen und Folgen hin analysiert. Diese Ideologien und Mentalitäten wirken natürlich auch auf die Minderheit, deren Mitglieder im Einzelfall selbst die Vorurteilsstrukturen übernehmen oder variieren oder sich mit ihnen auseinandersetzen.

SHULAMIT VOLKOV bringt einen weiteren Aspekt in die Debatten, wenn sie den Antisemitismus als Teil des kulturellen Codes bürgerlich-europäischer Gesellschaften interpretiert. Ohne die Verbürgerlichung der Gesellschaft wäre der Antisemitismus in seiner modernen Gestalt nicht vorstellbar, und dies lässt sich sicher auch auf den Antiziganismus übertragen.

Soweit einige kurze Ausführungen zum Antisemitismus, die helfen können, den Antiziganismus als eine Art Form der Ausgrenzung und Diskriminierung, auch als Ideologie oder Weltanschauung zu erklären. Über den Antiziganismus wurde bis jetzt noch von wenigen Historikern oder Politologen nachgedacht, damit auch wenig publiziert. Selbst der Begriff ist relativ neu, denn man benutzt ihn erst seit den 1970er Jahren. Darüber hinaus wird der Begriff in der wissenschaftlichen Diskussion noch nicht immer eindeutig gebraucht. Selbst die Schreibweise in der deutschen Sprache ist nicht einheitlich: sie wechselt zwischen "Antitsiganismus" oder "Antiziganismus". Diejenigen, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, sind die Antiziganismusforscher, die von ihrem wissenschaftlichen - und auch gesellschaftspolitischen Ansatz - von den sogenannten Tsiganologen zu unterscheiden sind. Letztere wollen nicht die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft gegen die Minderheit untersuchen, sondern in der Regel die Minderheit als Untersuchungsobjekt betrachten. Auch bei dieser Forschungsrichtung wurde über die Geschichte und die Tradition der Vorurteile herstellenden oder zementierenden "Zigeunerforschung" reflektiert. Aber letztendlich bleibt es bei dem "fremden Blick" auf die Minderheit, so dass die Mehrheit als Verursacher und Nutznießer von antiziganistischen Vorurteilen aus dem Blickfeld verschwindet. Hier ist zum Beispiel an die "Gießener Schule" zu denken, die in den späten 70er und frühen 80er Jahren eine größere Anzahl von Büchern, Aufsätze, sogar eine eigene Zeitschrift verbreitete.

Wissenschaftler, seien es Historiker, Politologen oder Literaturwissenschaftler, die mehr über die Vorurteilsstrukturen der Mehrheitsbevölkerung ermitteln wollten und die die negative Haltung gegenüber den Menschen, die als "Zigeuner" bezeichnet wurden, untersuchten, gingen andere Wege. H.Heuß hatte nach einigen Vorarbeiten im Jahre 1995 noch einmal versucht, statt des Begriffs "Antiziganismus" den Begriff des "Zigeunerressentiments" in die Diskussion einzuführen. Angesichts einer fast nicht vorhandenen Rezeption wurde dieser Versuch nur bedingt weiterverfolgt, nicht zuletzt auch weil er weit enger als der unpräzisere Begriff "Antiziganismus" war. W. WIPPERMANN lehnte ihn ab, weil Sinti und Roma sich nicht als "Zigeuner" bezeichnen lassen wollen. Wenn Ressentiment aber ein grundsätzliches Vorurteil gegenüber den Sinti und Roma bedeuten soll, ist der Begriff durchaus einsetzbar, weil in ihm das Bild vom "Zigeuner", nicht die realen Sinti und Roma, aufgenommen ist. Da der Begriff "Antiziganismus" sich bei den wenigen an der Diskussion beteiligten Autoren durchgesetzt hat, wie einhundert Jahre zuvor "Antisemitismus", ohne dass es einen "Semitismus" gibt, so soll er hier benutzt werden.

Antiziganismus ist im Zusammenhang dieser Arbeit als eine Denkweise definiert, die diese Menschen als "fremd", "müßiggängerisch" und "frei" kennzeichnet, um nur einige Merkmale zu nennen. Sie richtet sich · erstens gegen ein "unbotmäßiges" Verhalten von Menschen aus der Mehrheit, · zweitens gegen eine ethnische Minderheit, der ein solches Verhalten als unveränderliche Wesensart unterstellt wird.

Generellen Annahmen zur Folge stand die zweite Gruppe im Gegensatz zum gesellschaftlichen Wertekodex, der "Arbeitsamkeit um ihrer selbst willen" und "Gebundenheit" verlangte. Daraus resultierte unter anderem, dass Menschen durch die Stigmatisierung ausgegrenzt und zu "Fremden per se" gemacht werden konnten. Gleichzeitig konnten die Angehörigen der ersten Gruppe darauf hingewiesen werden, was ihnen geschehen könnte, sollten sie "frei" und "müßiggängerisch", das heißt "zigeunerähnlich", sein wollen.

Wie oben schon angedeutet lässt sich auch der Antiziganismus als Teil des kulturellen Codes der deutschen Gesellschaft deuten: Eine Gesellschaft, die Arbeit in Abhängigkeit für den größeren Teil der Bevölkerung in den Mittelpunkt ihrer Existenz stellt, kann keine Menschen dulden, denen man unterstellt, dass ihnen - als Gruppe - diese Arbeit fremd ist oder erscheint, denen Freiheit wichtiger zu sein scheint als andere neue Werte.

Die Geschichte des Antiziganismus ist somit beinahe genau so alt wie die Geschichte der Sinti und Roma in Europa. Dabei ist es notwendig, zwischen dem alten Antiziganismus, der sich gegen die offensichtlich Fremden richtete, und dem rassistisch geprägten Antiziganismus zu unterscheiden. Ersterer ist mit dem Antijudaismus vergleichbar, der die Religion zum Ausgangspunkt seiner Unterscheidung nahm. Den Juden wurde fast immer die Möglichkeit gegeben, in die christliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden, wenn die Abkehr vom Judentum durch die Taufe und Übernahme der Sitten und Gebräuche der aufnehmenden Mehrheit vollzogen wurde.

Bei den Sinti, die im 14. und 15. Jahrhundert nach Mitteleuropa kamen, dominierte das neue Fremde - Juden waren seit Jahrhunderten Außenständische geblieben. Die Sinti unterschieden sich, als sie in den deutschen Sprachraum kamen, von den Einheimischen in ihren kulturellen Traditionen und in der Sprache. Die Beschreibung als "Heiden", "Tartern", "Ägypter" in den verschiedenen Chroniken ist ein Hinweis für diese Annahme. F. REICHERT folgend taucht in den Quellen interessanterweise nur ein einziges Mal, im Jahre 1384, die Eigenbezeichnung auf. Ab dem 14./15. Jahrhundert werden sie "Cingari" oder "Volk des Pharaos" genannt, ins Deutsche übertragen als "Zigeuner".

Einer Aufnahme dieser neuen Fremden in die ständische Gesellschaft hätte vor allem deren Offenheit bei gleichzeitiger Prosperität bedurft. Bedingungen, die gerade in den Jahren des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit nicht gegeben waren. Es hat sich gezeigt, dass fast ausschließlich reiche Gesellschaften mit einem Bevölkerungsmangel in der Lage waren, "Fremde" zu integrieren. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert wurden eher immer mehr Menschen ausgegrenzt, randständig gelassen oder außerständisch gemacht. Dies stand im Kontext der sich neu formierenden Gesellschaft, die sich vor allem über abhängige, fremdbestimmte Erwerbsarbeit, Fleiß und Disziplin, die von außen bestimmt wurden, definierte. Darüber haben schon viele nachgedacht und geforscht im Gefolge der grundsätzlichen Überlegungen zum Geist des Kapitalismus und der protestantischen Ethik von MAX WEBER.

Ob sich die Sinti der neuen gesellschaftlichen Norm verweigerten oder ob ihnen die Integration von außen ausschließlich verweigert wurde, kann hier nicht diskutiert werden und wird angesichts fehlender Quellen nur schwer zu beantworten sein. Aber es erscheint unwahrscheinlich, dass alle Angehörigen einer Gruppe - unabhängig von der Gruppe Sinti und Roma -, der durchaus einige Partikular- oder Autonomierechte gewährt worden waren, diese zugunsten einer ungesicherten, gegebenenfalls sogar rechtlich schlechteren Stellung aufgegeben hätten.

Wenn man der These zustimmt, dass das Christentum dem einzelnen Juden die Taufe möglich machte, aber in der Regel das Judentum als "abschreckendes Beispiel" eines verstockten Teils der Menschheit für die eigene Gemeinde brauchte, so wäre es sicher mehr als einen Gedanken wert, dies auch für die eingewanderten Sinti und Roma anzunehmen. Sinti und Roma, die nach Europa eingewandert waren, sollten als Teil der am Rande stehenden Bevölkerung erhalten bleiben, um der "Mehrheitsuntertanenschaft" ein Beispiel für eine nicht mehr erlaubte, nicht mehr gewünschte Lebensart zu bieten.

Überspitzt ausgedrückt: Die spätmittelalterliche beziehungsweise frühneuzeitliche Gesellschaft hatte überhaupt kein Interesse, diese Minderheit zu integrieren. Vielmehr konnte durch die Nichtintegration dieser Gruppe der größere Teil der Mehrheitsbevölkerung integriert werden, bis die moderne Gesellschaft formiert war. Wie das Christentum zur eigenen Festigung die Juden benötigte, so brauchte die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft die "Zigeuner", um sich zu etablieren. Dabei gilt es natürlich festzuhalten, dass der "Zigeuner" hier nicht unbedingt wiederum mit den Sinti oder Roma identisch ist oder war. Soweit zum Antiziganismus der vormodernen Welt.

So betrachtet wurden aus den Sinti und Roma, die aus Indien kamen, die "Zigeuner" gemacht, von denen man wenig wusste, die aber als "seltsam", als "unchristlich", als "gefährlich" oder als "unordentlich", noch schlimmer als "kriminell" galten. Gleichzeitig war die dauernde Diskriminierung eine Möglichkeit, eine eigene Identität zu bewahren oder zu schaffen. Wie den Juden eine weitgehend selbstbestimmte Lebensweise in kultureller Hinsicht nur im Getto, nicht in der Gesellschaft, möglich war, so blieb den Sinti und Roma ihre allumfassende Identität nur innerhalb der eigenen Gruppe, und ebenfalls nicht in der Gesellschaft, von der sie nur einzelne Worte und Begriffe in ihre eigene Sprache integrierten.

Neben dem traditionellen Antiziganismus gibt es noch einen modernen Antiziganismus, der weder autoritär, religiös noch emotional begründet wurde, sondern "wissenschaftlich". In seiner zweiten Bedeutung richtete und richtet er sich gegen Sinti und Roma und beinhaltet seit seinem Aufkommen im 18. Jahrhundert immer die These von der vererbten "rassisch" bedingten Minderwertigkeit und Unverbesserlichkeit der Minderheit. W. WIPPERMANN sieht dieses rassistische Element oder die "rassistische Färbung" schon vor dem rassistischen Antijudaismus entstehen und erkennt darin eine der Ursachen, die eine umfassende "Emanzipation der Sinti und Roma verhindert(e)". Das heißt, wer als "Zigeuner" bezeichnet wurde und Teil der Minderheit war, galt als "unverbesserlich" in Richtung der Brauchbarkeit für die bürgerliche Gesellschaft. Weder Erziehung noch Zwang konnten aus Sicht der Antiziganisten eingesetzt werden, um die "Zigeuner" in die Gesellschaft einzugliedern. Eine Integration der Minderheit wurde damit systematisch verhindert, führt W. WIPPERMANN aus, weil die anscheinend homogene Gruppe bzw. die über sie entworfenen Bilder als Sündenböcke bzw. als Elemente des Nichtbürgerlichen in der bürgerlichen Welt funktional eingesetzt werden konnten. Integration heißt in diesem Zusammenhang gemäß der soziologischen Definition Aufnehmen einer Minderheit in die Mehrheitsgesellschaft, ohne dass diese Minderheit dabei ihre Identität - völlig - verliert. Damit ist ausdrücklich nicht Assimilierung, fast bedingungslose Anpassung der Minderheit an die Mehrheit gemeint, die schon im 18. Jahrhundert von sogenannten aufgeklärten, absoluten Herrschern unternommen und die auch von Aufklärern immer verlangt wurde. Das lässt sofort die Frage aufkommen, was mit "Zigeunern" zu geschehen hätte: Beseitigung durch Vertreibung oder Ausrottung oder doch Beseitigung der eigenen Identität durch permanenten Zwang zur Assimilierung?

Ein Assimilierungsversuch lässt sich zum Beispiel bei einem Teil der deutschen Juden gegen Ende des 19. Jahrhunderts beobachten, eine Anpassung an die kaiserliche Gesellschaft und die Reduzierung des Judentums auf eine Konfession. Anpassung und Assimilierung haben aber den Antisemitismus nicht verhindert, weil die Mehrheitsgesellschaft oder Teile der Mehrheitsgesellschaft nicht bereit waren, selbst die Form der Quasi-Selbstaufgabe zu akzeptieren.

Versuche zur Integration über die Zwangsassimilation der Sinti und Roma im Zeitalter und unter dem Banner der Aufklärung scheiterten zum Teil völlig, unter anderem weil Familien auseinandergerissen und die Muttersprache verboten wurden. Wie schon ausgeführt war die Ausgrenzung und nicht die Integration an der Tagesordnung. Aber vielleicht entzogen sich -einzelne - Sinti diesen Lebensbedingungen in Eigenbestimmung, weil ihnen die künftige Lebensperspektive in Kenntnis des Antiziganismus unsicherer erschien als das oft schwierige Leben in der alten Ordnung. Unabhängig von dieser Eventualität wirkten sich Antiziganismus und Verfolgungsmaßnahmen unmittelbar noch in zwei weiteren Aspekten auf die Minderheit aus: Zum einen wurde die Kommunikation der Minderheit mit der Mehrheitsbevölkerung in der Regel auf ein Minimum reduziert, und zum anderen wurde gleichzeitig das Zusammengehörigkeitsgefühl der Minderheit gestärkt beziehungsweise notwendig, um als Gruppe überleben zu können.

Assimilation im Einzelfall um den Preis der völligen Aufgabe der eigenen Identität und die Trennung von den übrigen Mitgliedern der Minderheit hat es gegeben, waren aber die Ausnahme. Auch Ansiedlungsprojekte gab es, die aus der Sicht der kolonisierenden Fürsten erfolgreich waren, weil hier Sinti die ihnen zugesprochene Funktion als Polizeihilfskräfte, Soldaten, Zolleintreiber oder Aushilfsarbeitskräfte - in den meisten Fällen gegen den Willen und die Renitenz der unterdrückten Mehrheitsbevölkerung - erfüllten. Auch das wäre ein Beispiel für eine eher fragwürdige Integration. Dieser Sachverhalt könnte wiederum ein Hinweis auf die Verankerung negativer Vorstellungen über die "Zigeuner" - darunter auch Sinti, in großen Teilen der ländlichen Bevölkerung sein. Die "Zigeuner", die ihnen gegenübertraten, waren Steuereintreiber, Soldaten, Hilfspolizisten, vertraten also die zum Teil gehasste Obrigkeit oder waren Gewerbetreibende oder Musiker, die "frei" waren. Diese "Freiheit" hatten viele Landbewohner nicht.

Wesentlicher für die weitere Entwicklung des Antiziganismus waren aber die "Zigeunerbilder", die erstellt wurden. Da gab es zum Beispiel das Bild der "müßiggängerischen" Menschen, denen unterstellt wurde, bettelnd und frei, auch von Schutz, umherzuziehen, eben als "Zigeuner". Diese Menschen sollten zur Sesshaftigkeit und in abhängige Arbeitsverhältnisse gezwungen werden. Diese "Zigeuner" wurden aber gleichzeitig wegen der ihnen unterstellten Freiheit und Unabhängigkeit von staatlichem Zwang und täglicher, abhängiger Erwerbsarbeit auch beneidet.

Im gesamtgesellschaftlichen Kontext wurden zudem immer wieder Gruppen wie die Sinti beziehungsweise die "Zigeuner" als Sündenböcke benötigt, um von allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Missständen ablenken zu können. Außerdem wurde damit den Individuen aus der Mehrheitsbevölkerung die Möglichkeit eröffnet, sich über Mitglieder einer anderen Gruppe zu erheben. Gleichzeitig setzte bei diesen ein Verdrängungsmechanismus ein, weil wegen der veränderten gesellschaftlichen Situation das ehemals Gelebte nicht mehr gelebt werden konnte. Das ehemals "Eigene" musste zum "eigenen Fremden" verändert werden.

Daneben gab es das Bild der "kriminellen Zigeuner", bei dem immer auf historische Räuberbanden des 17. und 18. Jahrhunderts verwiesen werden konnte. Dabei ist es nicht relevant, ob einzelne Sinti mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, wesentlich ist, wie die Taten Einzelner genutzt wurden. Das Faktum, dass tatsächlich einzelne Sinti Straftaten begangen hatten, soll in unserer Betrachtung nicht in den Mittelpunkt gestellt werden, sondern dass mit den spektakulären Kriminalfällen die Minderheit als solche kriminalisiert wurde. Nach dem volkstümlichen Motto "Kennt man einen, kennt man alle" wurde die Merkmalsbeschreibung um einen weiteren Aspekt erweitert. Im Zeitalter einer beginnenden Charakterisierung der Völker und Volksgruppen hatte dies die fatale Wirkung, dass den "Zigeunern" nun auch die Kriminalität als Charakterzug zugeschrieben wurde. Ähnliche Verallgemeinerungen lassen sich auch aus der jüdischen Verfolgungsgeschichte zeigen.

Liest man die ausführlichen Berichte über diese Straftaten, vor allem wenn sie um 1800 geschrieben wurden, spürt man gleichzeitig die geheime Bewunderung für diese Gesetzesbrecher, für ihren Mut und ihre Tollkühnheit, natürlich auch die Abscheu vor dem Verbrechen. Romantisierend wird aber im Prinzip nicht zwischen einem "Großen Galanto" - Offizier in dem einen Staat und Räuberhauptmann im anderen Kleinstaat - und etwa einem "Schinderhannes" - Freund der kleinen Leute und Raubmörder an - jüdischen - Handlungsreisenden -unterschieden.

Zumindest das gelehrte Publikum glaubte auch schon ohne die realen Räuberbanden zu wissen, dass Sinti als "Zigeuner" Diebe und Hellseher sind und "ihr Leben [...] aus Betteln, Stehlen, Betrügen und Rauben' bestehe, so der Erzbischof des gesamten Ostens, Johannes von Soldanien, zu Beginn des 15. Jahrhunderts. Diese Topoi wurden von Staat, Kirche und Kulturschaffenden immer wiederholt, bis durch die Räuber - und ihre spektakulären Hinrichtungen - auch im gemeinen Volk die "Kriminalität der Zigeuner" als Wesensmerkmal verwurzelt war.

Im gesellschaftlichen Kontext scheint dabei ein Widerspruch zu bestehen; denn die Gruppe der "Zigeuner" lebte weiterhin in den europäischen Gesellschaften, konkret in den deutschen Staaten. Obwohl die antiziganistischen Vorurteilsstrukturen nachhaltig wirkten, lebten Sinti und Roma innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft - oft am Rande oder in den unteren Schichten -, als Teil dieser Gesellschaft, sei es als Handwerker, Händler oder Künstler, sei aber auch als einfacher Arbeiter. Aber jegliche Form von Teilnahme an dieser Gesellschaft durchbrach nicht das Grundraster des vorhandenen Antiziganismus, ähnlich wie auch der Antisemitismus nicht durch angepasste Juden beseitigt werden konnte, denn Literatur, Presse und Politik bemühten immer wieder die Zigeunerbilder, um zu unterhalten oder bewusst, um bestimmte politische Positionen durchzusetzen.

Deshalb ist im gesamtgesellschaftlichen Kontext die Funktion der Sinti und Roma beziehungsweise der "Zigeuner" zu beleuchten. Als "Sündenböcke" wurden sie benötigt und eingesetzt, um von Missständen in der gesellschaftlichen Ordnung abzulenken. Gleichzeitig wurde jedem Mitglied der Mehrheitsgesellschaft die Möglichkeit eröffnet, sich über eine Gruppe von Menschen zu stellen. Damit wurden die Mitglieder der Minderheit entindividualisiert.

aus: Udo Engbring-Romang, Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, hrsg. von Adam Strauß, Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Hessen, 1. Aufl. 2001, 508 Seiten, © Brandes & Apsel Verlag GmbH; mit freundlicher Genehmigung

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