Vergeltung ist auf beiden Seiten das Zauberwort

Eine Analyse und Vorschläge für eine Zwischenlösung

von Margret Johannsen

Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern scheint einem neuen Höhepunkt zuzutreiben, und die Gewaltspirale scheint sich immer weiter zu drehen. Eine grundsätzliche Lösung sieht Margret Johannsen deshalb im Moment nicht. Aber sie macht Vorschläge, wie unterhalb einer Friedenslösung die Situation in kleinen Schritten verbessert werden könnte. Wir dokumentieren ihren Beitrag aus der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik, Blätterverlagsgesellschaft, Bonn, Heft 2/2002, im Wortlaut, aber gekürzt um den Fußnotenapparat. Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik (ISSH) der Universität Hamburg.

Mit Terror machte die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) erstmals vor 30 Jahren weltweit von sich reden. Ein achtköpfiges Kommando des "Schwarzen September" überfiel in München die israelische Olympiamannschaft, tötete zwei Sportler und nahm weitere neun als Geiseln. Die Forderungen: Freilassung von 243 palästinensischen Fedajin aus israelischen Gefängnissen sowie Entlassung von Ulrike Meinhof und Andreas Baader aus deutscher Haft. Die PLO brachte mit dieser Aktion den Palästinakonflikt gewissermaßen "zurück" nach Europa, von wo er einst mit der jüdischen Einwanderung in das "Land der Väter" seinen Ausgang genommen hatte.

Bei dem Versuch der gewaltsamen Geiselbefreiung starben alle neun Geiseln, fünf der Terroristen und ein Polizeibeamter. 21 Jahre später erklärte der PLO-Vorsitzende Yassir Arafat für die palästinensische Nationalbewegung den Verzicht auf Gewalt im Befreiungskampf und bekannte sich zu einer Verhandlungslösung im Konflikt um Palästina. Doch sieben Jahre "Friedensprozess" bescherten den Palästinensern nur eine Teilautonomie im Westjordanland und Gaza-Streifen. Seit dem provokativen Gang Ariel Scharons auf den Jerusalemer Tempelberg / Haram al-Scharif sprechen im Konflikt um Palästina wieder die Waffen.

In der zweiten Intifada, auch Al-Aqsa-Intifada genannt, finden sich, wie einst in den 70er Jahren, verschiedene Gewaltformen: militärische Aktionen irregulärer Kommandos gegen israelische Armeeposten ebenso wie kriminelle Massenmorde an Zivilisten im israelischen Kernland. Die israelische Regierung nennt das eine wie das andere Terror. Sie antwortet mit scharfen Schüssen auf bewaffnete Kommandos und unbewaffnete Zivilisten, gezielten Exekutionen palästinensischer Aktivisten, Bombardierung der palästinensischen Infrastruktur, Belagerung der Städte und Zerstörung von Häusern. (. . .)

1. Ethnisierung und Militarisierung des Konflikts
Angesichts des geradezu reflexhaft anmutenden Gewalteinsatzes auf beiden Seiten breitet sich unter Beobachtern zunehmend Ratlosigkeit aus. Manche warnen vor einer Re-Ethnisierung des Konflikts. Der seinem Ursprung und Charakter nach politische Interessenkonflikt zwischen Juden und Arabern, in dem es um Landbesitz und Herrschaft ging, hatte sich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts durch religiöse Überhöhung ethnisiert und gegen Interessenausgleich immunisiert. In den 70er Jahren setzte ein Prozess ein, in dem die Kontrahenten schließlich die nationalen Ziele der Gegenseite grundsätzlich anerkannten, so dass der Konflikt Kompromissen zugänglich wurde.

Doch seit Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada prägen sich erneut seine ethnischen Züge unter Beimengung religiöser Elemente aus. Wenn sich diese Transformation fortsetzt und nicht mehr nur die Ablösung der Hypothek von 1967 auf der Tagesordnung steht, dann geht es erneut um das Ganze. Ob dieser Prozess zu stoppen ist, entscheidet sich nicht nur im Gegeneinander der Konfliktparteien. Hier wie dort wetteifern verschiedene Strömungen um Steuerung des Konfliktverlaufs.

Mit der Auseinandersetzung zwischen beiden Völkern verknüpft sich immer auch die gesellschaftliche Konkurrenz um ein Mehr oder Weniger von Machtanteilen. Um die Konfliktdynamik, die in diesem komplexen Zusammenwirken von Innen und Außen entsteht, geht es im Folgenden.
2. Der Spagat der Palästinensischen Autorität
Die Palästinensische Autorität (PA) wird von der alten Führungsriege der palästinensischen Nationalbewegung beherrscht, die 1994 aus dem Exil zurückkehrte. Der "Prinzipienerklärung über vorübergehende Selbstverwaltung" ging am 9. September 1993 ein Gewaltverzicht des PLO-Vorsitzenden voraus. Als Produkt des Oslo-Vertragswerks ist die PA an Arafats Erklärung gebunden. Dieser übernahm die Verantwortung dafür, dass alle PLO-Gruppen sich an den Gewaltverzicht halten. Solange er im Rahmen des Oslo-Prozesses die Einlösung der israelischen Verpflichtungen einklagt, steht ihm keine Alternative zur Konfliktlösung durch Verhandlungen offen.

Sollte er die Verhandlungsoption aufkündigen und seine über 30 000 Mann starken Sicherheitskräfte als reguläre Armee einsetzen, würde sich das israelische Militär vermutlich nicht länger auf selektive Schläge beschränken. Anders als die reguläre palästinensische Polizei stehen die paramilitärischen Tansim der Fatah und ihre Al-Aqsa-Brigaden nicht unter der Zentralgewalt der PA. Sie sind lokal organisiert. Ihre Führer entstammen der jungen Garde der palästinensischen Nationalbewegung, die ihre "Feuertaufe" in der ersten Intifada 1987 ff. bestand.

Die Tansim haben nach dem Abbruch der Verhandlungen im Januar 2001 die militärische Option gewählt. Bestärkt wurden sie darin durch die Erfolge der ersten Intifada. Damals hatten sie die Initiative ergriffen, sich Respekt unter der lokalen Bevölkerung verschafft und das israelisch- palästinensische Kräfteverhältnis mit Hilfe der internationalen Medien zu ihren Gunsten verändert. Zudem deuten die Tansim den Rückzug Israels aus dem Südlibanon im Mai 2000 als Sieg der libanesischen Hisbollah-Milizen und weiteren Beleg dafür, dass Israel nur die Sprache der Gewalt versteht. Führungspersönlichkeiten wie Marwan Barghouti, Generalsekretär der Fatah im Westjordanland und prominentester Führer der Tansim, genießen unter den Palästinensern hohes Ansehen.

Hamas und Islamischer Dschihad sind nicht Teil der PLO. Sie haben die Oslo-Verträge stets abgelehnt und für die Gewaltlösung optiert. Ihr "Markenzeichen" sind vor allem Bombenanschläge so genannter Selbstmordattentäter gegen Ziele im israelischen Kernland, denen unterschiedslos Soldaten und Zivilisten zum Opfer fallen.

Die Strategie des Terrors macht die Islamisten jedoch keineswegs zu blindwütigen Amokläufern. Vielmehr folgen die Attentate kühler Berechnung; wenn die Rahmenbedingungen nicht "stimmen", werden Anschläge schon einmal für längere Zeit "ausgesetzt".

Das Verhältnis der PA zu den Fatah-Tansim und den Islamisten ist alles andere als unkompliziert. Indem die Islamisten das Gewaltmonopol der PA in Frage stellen, untergraben sie deren Glaubwürdigkeit als Verhandlungspartnerin Israels und schwächen die konzessionsbereiten Kräfte in der politischen Klasse des jüdischen Staates. Wenn sie israelische Vergeltung provozieren, wächst ihre Anhängerschaft unter den Palästinensern, die nicht mehr an politische Verhandlungen glauben. Angesichts der Popularität der Intifada "braucht" Arafat die Militanten "seiner" Fatah. Denn ohne die palästinensischen Milizen wäre die säkulare Nationalbewegung jeder militärischen Option beraubt und würde das Feld des bewaffneten Kampfes den Islamisten überlassen müssen. Dieses Dilemma Arafats könnte erklären, warum der alte Präsident, der durchaus über die Machtmittel verfügen dürfte, der jungen Konkurrenz das Handwerk zu legen, die Milizen gewähren lässt. Die gelegentliche Teilnahme regulärer palästinensischer Polizisten an den bewaffneten Auseinandersetzungen lässt sich nicht zur Gänze mit praktischen Kontrollproblemen erklären. Sie folgt wohl auch aus der Überlegung, dass später einmal, wenn die Waffen schweigen sollen, nur solche Sicherheitskräfte, die aktiv an den Kämpfen teilgenommen haben, die erforderliche Legitimation besitzen, diese Entscheidung gegen die weiterhin zum Kampf Entschlossenen auch durchzusetzen.

Dies werden vor allem die Islamisten sein. Sie sind gegenüber der PA in der Gewaltfrage allenfalls zu taktischen Zugeständnissen bereit. Der von Hamas am 21. Dezember 2001 angekündigten Suspendierung aller Selbstmordanschläge in Israel liegt neben dem Selbsterhaltungsinteresse auch die berechtigte Furcht vor einem palästinensischen "Bruderkrieg" zu Grunde. Mit dem Angebot war die Ankündigung verbunden, auf palästinensischem Territorium weiter gewaltsam gegen die israelische Besatzung vorzugehen. Damit unterstrichen die Islamisten, dass sie sich nicht auf soziale Dienstleistungsunternehmen reduzieren lassen und ihre Chance auf eine politische Rolle in einem künftigen Staat Palästina wahren wollen.

Die Ableitung des Anspruchs auf politische Macht aus der Teilnahme am bewaffneten Kampf haben sie mit den Militanten der säkularen Fatah gemein, mit denen sie trotz taktischer Allianzen und gelegentlichen gemeinsamen Operationen so genannter Cocktail-Zellen um Einfluss konkurrieren.

Seit Ausbruch der zweiten Intifada betreibt der israelische Regierungschef die Delegitimierung des aus einer demokratischen Wahl hervorgegangenen Palästinenser-Präsidenten. Das bevorzugte Mittel dazu ist das Militär, das gezielt die Infrastruktur und den Machtapparat der PA zerstört. Wiederholt rückte die Armee in die autonomen Gebiete ein. Einen makabren Höhepunkt erreichte diese Politik mit der Demütigung Arafats im Dezember 2001, als dieser in Ramallah unter panzerbewachten Hausarrest gestellt wurde und nicht zur Weihnachtsmesse nach Bethlehem reisen durfte.

3. Breite Zustimmung in Israel zur Gewaltstrategie der Regierung Scharon
In Israel findet Ariel Scharons Gewaltstrategie breite Zustimmung. Nach jüngsten Umfragen würden die Wähler sie mit 32 (von 120) Parlamentssitzen für die Likud-Partei honorieren. Die Arbeitspartei, Teil von Scharons großer Koalition, käme auf nur 18 Mandate. Insbesondere die Terroranschläge auf israelischem Territorium sind dazu angetan, den Schulterschluss der Israelis gegen die kämpfenden Palästinenser zu festigen. Denn nach dem Scheitern von Camp David II war es dem damaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak und seinem Außenminister Schlomo Ben Ami gelungen, einen alt-neuen Mythos zu kreieren: die palästinensische Friedensunfähigkeit. Sie überzeugten die Israelis davon, dass die Palästinenser die beispiellosen Angebote Baraks abgelehnt hätten, weil letztendlich die Zerstörung Israels ihr Ziel sei. Vor allem das Rückkehrrecht der Flüchtlinge wurde in der Presse mit Horrorszenarien einer Flut von Hunderttausenden, ja Millionen zurückkehrender Palästinenser assoziiert, die den jüdischen Staat zerstören würden. Es nimmt in diesem Kontext nicht Wunder, dass die Selbstmordanschläge in Israel die Wahrnehmung der Bürger verstärken, es gehe ums Ganze. Die Bomben explodieren schließlich auf dem Boden des so genannten israelischen Kernlandes. Damit stellen sie die Grenzlinien, so wie sie 1948 der israelische Unabhängigkeitskrieg zog, in Frage und das heißt: den Bestand des Staates.

Die Strategen des Bombenterrors mögen darauf setzen, dass er den Gegner zermürbt, und dieser sich schließlich nolens volens mit einem lebensfähigen Staat Palästina abfindet. Dem Mann auf der Straße vermitteln Bomben in Tel Aviv, Netanya und Haifa indes eine ganz andere Botschaft: In dessen Augen geht es den Palästinensern nicht um ein Ende der Besatzung. Was sie wollen, ist das gesamte Land zwischen Jordan und Mittelmeer. Und dagegen hilft nur eines: um des eigenen Überlebens willen den zweiten Aufstand der Palästinenser niederschlagen. Der Krieg zwischen Israel und den Palästinensern mit seinen zum Jahresende 2001 drei Toten pro Tag heißt im Jargon der Militärstrategen low intensity conflict. "Vergeltung" ist in den Kommuniqués beider Seiten das Zauberwort, das die Verantwortung für Tod und Zerstörung dem Gegner aufbürdet. Vergeltung hält den Teufelskreis der Gewalt aufrecht. Immer weniger Menschen glauben an die reale Möglichkeit einer politischen Lösung. Ein Blick auf die Einstellungen der Palästinenser zum bewaffneten Kampf und zur Wiederaufnahme von Verhandlungen kann dies verdeutlichen. Noch immer hält eine klare Mehrheit den bewaffneten Kampf für ein geeignetes Mittel im Dienste ihrer nationalen Ziele. Zwar sprechen sich viele für die sofortige und umfassende Waffenruhe aus, zu der Arafat am 17. Dezember 2001 aufgerufen hatte, und wollen die sofortige Aufnahme von Verhandlungen. Doch nur ein Fünftel der Befragten glaubt daran, dass die Waffenruhe hält und die Parteien tatsächlich wieder an den Verhandlungstisch zurückkehren.

Vermutlich ist dies der Grund dafür, dass die meisten die Verhaftung von Islamisten und anderen Militanten durch die palästinensischen Sicherheitsdienste ablehnen. Dies unter dem Druck Israels und der USA trotzdem durchzusetzen, dürfte Arafat schwer fallen. Er hat in der Bevölkerung seit dem Scheitern von Camp David deutlich an Respekt verloren. Dazu haben vermutlich nicht nur die israelischen Attacken gegen die regulären Sicherheitskräfte der PA, insbesondere die Präsidentengarde, beigetragen, sondern auch die Verluste, die den Israelis von palästinensischen Militanten zugefügt wurden.

Arafats Popularität hat seit Juli 2000 um mehr als ein Fünftel abgenommen und betrug im Dezember 2001 nur noch 36 Prozent. Welch ein Einbruch gegenüber 1996, als die Palästinenser ihn mit 70 Prozent der Stimmen zum Präsidenten wählten!

Wenn die neuen Führer aus der Intifada-Generation Israels kollektive Vergeltung herausfordern, tragen sie damit zur Marginalisierung Arafats bei und wahren ihre Chance, einen Machtwechsel in der palästinensischen Nationalbewegung herbeizuführen. Sie könnten die alte Führungsriege schwerlich im Kontext eines Verhandlungsfriedens ablösen. Eine Fortsetzung des gegenwärtigen Konflikts dürfte darum die Kluft zwischen der alten PLO-Führungsschicht und den Militanten der Fatah vertiefen. Welche Rolle spielen die Islamisten in diesem Machtkampf? Sie haben in den bewaffneten Auseinandersetzungen seit Oktober 2000 deutlich auf Kosten der Säkularen an Boden gewonnen. Zwischen Juli 2000 und Dezember 2001 stieg ihre Popularität um 47 Prozent! Wenn die verschiedenen Strömungen in der palästinensischen Nationalbewegung ihre Konkurrenz aktiv austragen sollten - beispielsweise indem Arafat Militante aus der Fatah verhaften lässt oder Tansim-Milizen sich weigern, ihre illegalen Waffen abzugeben - könnten die lachenden Dritten die Islamisten sein. Es sind vermutlich nicht die 1000 Toten der Intifada, die General Anthony Zinni seine neue Rolle als US-Sondergesandter in Sachen Nahost bescherten. Eher dürften die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die Identifizierung des Palästinakonflikts als ein den islamistischen Terror begünstigender Faktor dazu geführt haben, dass die USA aus der Rolle des abwartenden Beobachters erneut in die des Vermittlers geschlüpft sind.

Kurzfristig besteht Zinnis Mission darin, die Parteien zur Einhaltung der längst beschlossenen Waffenruhe zu bringen, damit wieder über politische Lösungen verhandelt werden kann. Die PA hat ihr politisches Schicksal an die Verhandlungsoption geknüpft. Und nur sie hätte vermutlich, solange Arafat an ihrer Spitze steht, die Legitimation, schmerzhafte Kompromisse bei den Palästinensern durchzusetzen. Noch führt der Palästinenser-Präsident in der Popularitätsskala mit 36 Prozent deutlich vor Scheich Yassin von Hamas (14 Prozent) und dem Fatah-Chef Barghouti sowie dem unabhängigen Oppositionellen Haidar Abdul Schafi (11 Prozent).

Mit einer akzeptablen Verhandlungslösung könnte die alte Führungselite vorerst politisch überleben. Doch was heißt akzeptabel? Die Mehrheit der Bevölkerung ist zwar für die sofortige Wiederaufnahme von Verhandlungen. Doch bedeutet das nicht, dass sie jedem Kompromiss zustimmen würde. Nach dem Scheitern des Camp-David-II-Gipfels herrschte die Meinung vor, dass Arafat bei wichtigen Streitfragen - Jerusalem, Staatsgrenzen, Siedlungen, Sicherheitsarrangements - bereits zu viel Kompromissbereitschaft gezeigt habe.

Mit der jetzigen israelischen Regierung lassen sich kaum Lösungen finden, die es der palästinensischen Führung erlauben würden, den Konflikt für beendet zu erklären. Verhandlungen mit dem Ziel, dies zu ermöglichen, hätten an dem Gesprächsstand von Taba im Januar 2001 anzuknüpfen, als die beiden Delegationen in wesentlichen Punkten einer einvernehmlichen Lösung nahe schienen.

Die politischen Mehrheiten, die hierfür im Februar 2001 fehlten, sind allerdings auch heute nicht in Sicht. Gleichwohl gibt es unterhalb einer förmlichen Beendigung des Konflikts Möglichkeiten, eine verhandelte Konfliktlösung voranzutreiben. Wenn die Empfehlungen der Mitchell-Kommission 14 vom 30. April 2001 umgesetzt würden, lägen wesentliche Voraussetzungen vor, um an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Dazu gehören: eine Waffenruhe ohne Vorbedingungen; ein energisches Vorgehen der PA gegen Terror; Einfrieren aller jüdischen Siedlungsaktivitäten in den besetzten Gebieten sowie die Rückkehr der israelischen Armee in ihre Stellungen vor Ausbruch der Intifada. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich Zwischenlösungen finden, die für Israel wie für die PA verkraftbar wären, weil sie vorerst keiner Seite zumuten, Essentials aufzugeben. Wesentliche Bestandteile einer Zwischenlösung, die den Namen verdiente, wären: eine vollständige Räumung des Gaza-Streifens; ein weiterer israelischer Truppenrückzug vom Westjordanland mit dem Ergebnis, dass die Palästinenser hier ein zusammenhängendes Territorium erhielten; damit verbunden wäre die Aufgabe einiger Siedlungen; schließlich die Proklamation eines palästinensischen Staates.

Die "stille Diplomatie" zwischen Außenminister Schimon Peres und dem stellvertretenden PLO-Vorsitzenden und palästinensischen Parlamentspräsidenten Abu Ala im Dezember 2001, bei der laut über einen palästinensischen Ministaat nachgedacht wurde, lässt sich als Indiz deuten, dass Zwischenlösungen nicht gänzlich ausgeschlossen sind. Wenn es der PA gelingt, der eigenen Klientel eine Zwischenlösung als Implementierung bereits früher eingegangener Verpflichtungen Israels schmackhaft zu machen, die weitere Verhandlungen mit ehrgeizigeren Zielen nicht ausschließt, sondern im Gegenteil erst ermöglicht, kann sie hoffen, dass eine kriegsmüde Bevölkerung ihr die Zustimmung nicht versagt. Dies würde den militanten Aktivisten der palästinensischen Nationalbewegung die Opposition erschweren. Um sie zum Stillhalten zu bewegen oder gar ihre Zustimmung zu erlangen, könnte Arafat sich entscheiden, die nächste Generation in die Institutionen der PA stärker einzubinden als bisher.

Die Bereitschaft zu politischen Reformen (mehr Demokratie und Rechtstaatlichkeit, weniger Korruption und Willkür) würde der Intifada-Generation die Integration in den Machtapparat erleichtern und der PA eine neue Legitimation gegenüber der Bevölkerung verschaffen. Gewinner eines solchen Prozesses wäre die säkulare palästinensische Nationalbewegung, Verlierer wären die Islamisten.

4. Minipalästina hinter Mauer und Stacheldraht
Was auf dem Wege einer verhandelten Zwischenlösung entstehen könnte, ist auch als Ergebnis eines einseitigen Rückzugs Israels aus einem Teil der Palästinensergebiete vorstellbar. Seitdem Yitzhak Rabin 1995 seinen Plan einer vollständigen Trennung zwischen dem israelischen Staatsgebiet, Jerusalem und den selbstverwalteten palästinensischen Gebieten durch einen "Anti-Terror-Schutzwall" vorstellte, wird in Israel eine unilaterale Trennung Israels von den Palästinensern diskutiert. Die Option ist populär.

Die Formel dafür lautet: "Gute Zäune machen gute Nachbarn." Es wäre eine Scheinlösung. Denn unter den gegenwärtigen Verhältnissen würden Westjordanland und Gaza-Streifen nicht in vollem Umfang von Israel abgesperrt - und mit Selbstschussanlagen umgeben?

Wie umfangreich das von den Truppen geräumte und den Palästinensern überlassene Gebiet vor allem im Westjordanland ausfallen könnte, ist eine Frage der Spekulation. Jede Zahl zwischen 41 Prozent (wo sich die palästinensische Zivilverwaltung etabliert hat) und 55 Prozent (eine von der Netanjahu-Regierung 1997 vorgelegte Karte operierte damit) scheint plausibel.

In den "restlichen" Gebieten würde die Besatzung andauern. Ihr würde auch weiterhin der Kampf der Militanten gelten, der bei der Mehrheit der Bevölkerung Unterstützung fände. Denn der unilaterale Abzug der Israelis ließe sich in Analogie zum Truppenabzug aus der südlibanesischen "Sicherheitszone" als Sieg der bewaffneten Intifada feiern. Vor allem aber ginge es in diesem Kampf nicht nur um territorialen Zugewinn für die bereits "befreiten" Gebiete. Zwar leben in den zivil verwalteten Zonen 98 Prozent der Palästinenser. Doch diese Gebiete besitzen keine territoriale Kontinuität; sie sind durchschnitten von israelischen Militäreinrichtungen, jüdischen Siedlungen und Umgehungsstraßen. Diese liegen auf Land, das sich Israel im Laufe der Besatzung per Enteignungsverfahren als Staatsland angeeignet hat. Mit den hiervon ausgesparten palästinensischen Gebieten ließe sich schwerlich "Staat machen", und das tägliche Leben der Palästinenser, insbesondere ihre Bewegungsfreiheit, wäre massiv eingeschränkt. Vor allem bliebe der Zugang zu Ost-Jerusalem, zentraler Verkehrsknotenpunkt des Westjordanlands, außerordentlich erschwert. In einem Guerillakrieg gegen die Besatzungsmacht dürften die Militanten der Fatah und der Islamisten ihr gegenwärtiges Zweckbündnis fortsetzen. Wenn es den säkularen Milizen gelingt, sich den Teilrückzug Israels als Sieg an die eigenen Fahnen zu heften, kommt die Intifada-Generation ihrem Ziel, die Führung in der palästinensischen Nationalbewegung zu übernehmen, einen bedeutenden Schritt näher. Damit entstünden den Islamisten auf einem anderen Feld starke Konkurrenten. Sie haben, was Lebensstil und Umgang mit fremdem Geld angeht, einen untadeligen Ruf. Anders die PA: Drei Viertel der Palästinenser halten sie für korrupt. Die säkularen Führer der Intifada greifen diese Kritik auf und fordern good governance. Wenn sie Führungspositionen übernehmen, könnte die säkulare palästinensische Nationalbewegung gegenüber den Islamisten Boden wieder gutmachen, den sie seit Beginn der Intifada verlor. Der bewaffnete Kampf gegen die Besatzung wirft die Frage nach der Rolle der arabischen Staaten in diesem Konflikt auf. Die Palästinenser beklagen sich über deren mangelnde Unterstützung. Könnten sich arabische Regierungen genötigt sehen, militärisch einzugreifen? Die arabischen Staaten haben in vier großen Kriegen gegen Israel zwischen 1948 und 1973 erfahren müssen, dass ihre zahlenmäßige Überlegenheit an Soldaten und Waffen die militärischen Auseinandersetzungen nicht zu ihren Gunsten entscheiden konnte. Heute ist Israel in der Region die militärische Supermacht.

Die arabische Staatengemeinschaft verfolgt gegenüber dem jüdischen Staat eine durch und durch pragmatische Politik. Israel ist prinzipiell als Teil des regionalen Staatensystems akzeptiert. Daran hat auch die Intifada grundsätzlich nichts geändert. Dennoch macht die Eskalation der Gewalt im Palästinakonflikt vor allem den Herrschern in Kairo, Amman und Riad zu schaffen. Ein Teil der arabischen Staaten ist nach der strategischen Entscheidung für die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten auf deren Schutz und Unterstützung angewiesen. Ein militärisches Eingreifen in den Gewaltkonflikt um Palästina verbietet sich diesen Staaten aus eigenem Interesse.

Gleichwohl birgt die brutale Antwort Israels auf die Intifada für die arabischen Staaten Risiken. Die saudische Monarchie zum Beispiel kann als Hüterin der heiligen Stätten Mekka und Medina, aus denen sie ihre Führungsrolle in der islamischen Welt ableitet, die religiös- symbolischen Anteile des Palästinakonflikts nicht ignorieren. Sie hat zudem auf ihre eigene konservative Öffentlichkeit Rücksicht zu nehmen, die Anstoß nimmt an der Partnerschaft mit den USA. Die antiamerikanischen Gefühle, die sich auf den Straßen in Parolen wie "Tod für Amerika" entladen, sind innenpolitisch unberechenbar. Denn hier könnte letzten Endes die strategische Partnerschaft mit den USA in Frage gestellt werden - und damit die Legitimität der Regime selbst. Die Allianz mit den USA bei deren "Krieg gegen den Terror" hat überdeutlich gemacht, welchen Spagat diese Regime vollführen müssen. Die arabischen Staaten dringen darum seit dem 11. September 2001 darauf, dass die USA sich energischer als bisher für eine politische Lösung im Palästinakonflikt engagieren und dabei den Eindruck einer allzu deutlichen Schlagseite zu Gunsten Israels vermeiden. Es scheint indes, dass der Hebel, den sie auf Grund ihrer Mitgliedschaft in der "Anti-Terror-Koalition" zu besitzen glaubten, durch den Sieg der USA über die afghanischen Taliban an Wirksamkeit eingebüßt hat. Bei einem Andauern der Intifada wird sich das arabische Umfeld gewiss auch weiterhin in rhetorischer Unterstützung, Hilfeleistung für die Verwundeten, Versprechen von Finanzhilfe sowie diplomatischen Initiativen üben - vor allem aber in Geduld.

Für die Sache der Palästinenser ziehen zwar arabische Volksmassen durch die Straßen. Aber in den Krieg ziehen arabische Regierungen für Palästina nicht mehr.

zitiert nach: Frankfurter Rundschau, 21.02.2002

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