"Man richtet nicht einen Menschen in der Zeit seiner Trauer."

von Ulrich Schwemer

Der Vorstand des "Evangelischen Arbeitskreises Kirche und Israel in Hessen und Nassau" unter Leitung von Pfarrer Ulrich Schwemer, Heppenheim, besuchte vom 2. bis 9. April 2002 Israel. Dem Vorstand gehören an: Pfarrerin Silke Alves, Pfarrer Rudolf Weber, beide Frankfurt, Pfarrer Otto Schenk, Wiebelsbach und Studienrat Hans-Georg Vorndran, Büttelborn. Der folgende Bericht von U. Schwemer gibt die Eindrücke des Vorstands wieder.

Ich sitze auf dem Balkon eines Hotels in Jerusalem. Der Blick ist phantastisch. Ich schaue hinüber nach Bethlehem. Schön liegt es in der Abendsonne - friedlich, so scheint es. Doch im Tal direkt unter mir stehen die Panzer, die auf ihren Einsatz warten. Von Bethlehem herüber hörte ich in den frühen Morgenstunden Maschinengewehrsalven. Ich weiß, da haben Palästinenser in der Geburtskirche Schutz gesucht - oder haben sie sie besetzt? In den Nachrichten heißt es später, dass ein Grenzpolizist schwer, einer leicht verwundet worden ist.

Ich sitze auf dem Balkon des Hotels. Bilder werden wach. Eben bin ich quer durch Jerusalem gefahren. Mich starrten die aufgerissenen Schaufenster des Supermarktes wie tote Zeugen an. Letzten Freitag, als viele Menschen für den Schabat einkauften, sprengte sich hier eine Palästinenserin in die Luft. Cafe MomentAm Cafe "Moment" bauen sie schon, die Wunden des Anschlags sollen schnell geschlossen werden. Doch ein Plakat erzählt anderes: "Wir weinen, wir weinen, wir weinen... - aber wir machen weiter - Cafe Moment". Der neue Propst von Jerusalem, Martin Reyer, nannte diese Erfahrung in einem Gespräch den "Kreuzweg der Attentate"; es ist ein Schreckensweg.Cafe Moment

Ich sitze auf dem Balkon des Hotels, in dem wir vom Vorstand des "Arbeitskreises Kirche und Israel in Hessen und Nassau" wohnen. Eigentlich wollten wir hier nach anstrengenden Begegnungen und Gesprächen etwas Ruhe finden im Gästehaus des Kibbutz Ramat Rachel am Rande von Jerusalem, in der Idylle am Rande der judäischen Wüste, mit dem Blick auf den markanten Berg des Herodion, mit dem Blick auf Bethlehem. Doch der Konflikt lässt uns nicht los, nicht hier auf dem Balkon - eben wurde gerade wieder geschossen - nicht in all den Gesprächen, die wir geführt haben.

Als wir in Deutschland aufbrachen, wussten wir, dass wir in ein aufgewühltes Land fahren. Nicht ohne Grund hatten wir geplante Gruppenfahrten abgesagt. Denn mit gutem Gewissen konnten wir nicht die sonst üblichen Sätze zu besorgten Touristen sagen, es sei gegenwärtig nicht gefährlicher als sonst, und in Deutschland im Straßenverkehr sei es noch gefährlicher oder etwas Ähnliches. Das konnten wir nicht sagen und das hätten unsere Gesprächspartner in Israel auch nicht verstanden.

Wir wissen, dass Gruppen im Land sind, die meinen ihre Solidarität mit Israel ausdrücken zu sollen, indem sie in einer jüdischen Siedlung in den besetzten Gebieten wohnen, indem sie unbesehen die Ideologie der Siedlerbewegung aufnehmen - während in Israel längst die Überzeugung um sich greift, dass die meisten Siedlungen aufzugeben sind und ein palästinensischer Staat entstehen sollte, selbst wenn augenblicklich die meisten Israelis die Militäraktionen nach den Selbstmordattentaten für richtig halten. Die Zustimmung zu dieser Aktion würde wohl erst schwinden, wenn der israelische Ministerpräsident Scharon die Gebiete auf Dauer wieder besetzen wollte.

Wir sind nach Israel gekommen, um unsere Verbundenheit mit den Menschen hier auszudrücken, mit den jüdischen Menschen, mit den arabischen Menschen. Wir waren in Sorge, ob unsere jüdischen und arabischen Freunde in Israel noch Kontakt miteinander hätten und wurden überaus positiv überrascht. Alle gemeinsamen Projekte, ob in Akko oder in Haifa, ob in Jerusalem oder in Tel Aviv-Jafo sind lebendig und arbeiten weiter. Natürlich waren alle Gespräche überschattet von den Ereignissen.
Todesanzeige für Edi Schiran Im Leo-Baeck-Erziehungszentrum in Haifa beklagt man den Tod der achtzehnjährigen Schülerin Edi Schiran, die mit ihren Eltern im Cafe eines arabischen Besitzers in Haifa gesessen hatte, auf das wenige Tage zuvor ein Selbstmordanschlag verübt wurde. Ihre Mutter, eine Lehrerin der Leo-Baeck-Schule, und ihr Vater wurden lebensgefährlich verletzt. Und die Zahl der Toten vom Selbstmordanschlag am Sederabend in Netanja wächst und wächst, inzwischen sind 27 Menschen umgekommen. Und während der Militäraktion in den autonomen Gebieten, von deren Autonomie nur noch wenig übrig geblieben ist, wächst die Zahl der Opfer. Wieviele es sind, erfährt man nicht. Die Palästinenser sprechen von Massakern. Die Kämpfe sind an einigen Orten schwer. Nahezu täglich wird auch von gefallenen Soldaten berichtet. Und dennoch versuchen so viele Menschen Perspektiven für eine Zeit nach dem Konflikt lebendig zu halten.

Denn eine Zeit danach wird kommen. Die innerisraelischen Spannungen werden wieder hervortreten. Unsere arabischen Gesprächspartner beklagen die noch immer vorhandene Diskriminierung als Minderheit innerhalb der israelischen Gesellschaft. Zugleich spüren wir ein wachsendes Selbstbewusstsein der israelischen Araber, die ihre Forderung nach Gleichberechtigung heute eindeutiger benennen.

Allerdings ist ihnen wie den jüdischen Israelis auch die Gefährdung des Gemeinwesens aus Juden und Arabern bewusst. Als die Intifada auch auf Galiläa überzugreifen drohte, lebten beide Seiten in Furcht vor Übergriffen der jeweils anderen. Die einen fürchteten eine Radikalisierung der Araber, die anderen sahen eine Pogromstimmung gegen israelische Araber entstehen. Doch trotz aller Differenzen versuchen sie, den Alltag miteinander zu meistern, miteinander und jede und jeder in seiner eigenen Gesellschaft.

In dieser schwierigen Zeit mit ihrer Ausweglosigkeit, in der für viele nur noch die fatale Hoffnung gilt, "schlimmer kann es nicht werden, jetzt kann es nur noch besser werden"; in dieser Zeit finden wir Oasen des Friedens. Wir freuen uns an arabischen Kindern, mit denen in Akko engagierte Erzieherinnen fröhlich und mit viel Phantasie Fragen des Unmweltschutzes lebendig werden lassen.Wir freuen uns am unverdrossenen Fortgang von Planungen zu jüdisch-arabischen Sommerlagern. Wir freuen uns aber auch an der Graswurzelarbeit des religiösen Stadtkibbuz Reschit in dem einstmals heruntergekommenen Stadtteil Jerusalems, Ir Ganim, der von Kriminaltiät und Drogenhandel geprägt war, in dem diese engagierten Menschen desorientierten Jugendlichen und Erwachsenen neue Werte und Ziele gegeben haben.

Westmauer und FelsendomSolche Erfahrungen sind so etwas wie ein Augenblick des Durchatmens und manchmal auch des Träumens, denn all das geschieht vor der Wirklichkeit einer bedrohlichen Zeit. Selbst aus der ehrlichen Freude unserer Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, dass wir überhaupt gekommen sind, schwingt das Leid der Zeit mit. Alle Gespräche kehren zu diesem Punkt zurück, auch mit denen, die als Ausländer hier leben. Studienprogramme wie "Studium in Israel" müssen sich der Situation stellen. Nur noch wenige werden ihre Studien im Land zu Ende führen. Ob das neue Studienjahr begonnen werden kann, ist noch offen. Die Freiwiligen von "Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste" entscheiden sich augenblicklich fast alle für das Bleiben. Sie sind eingebunden in ihre Projekte, und es würde ihnen schwer fallen, die Menschen in ihren Einsatzstellen zu verlassen. Hoffentlich zwingt sie die Situation nicht doch eines Tages, sich anders zu entscheiden.

Am Sonntag besuchten wir den Gottesdienst in der Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt. Hier, wo sonst Sonntag für Sonntag viele Touristen, Pilger und Gemeindeglieder sich zum Gottesdienst versammeln, ist auch die Gemeinde vor Ort auf sich selber zurückgeworfen. Wenig mehr als 25 Menschen versammelten sich zum Gebet. Es ist die "Kerngemeinde" von Menschen, die in Israel und in den Autonomen Gebieten arbeiten, die gemeinsam Stärkung im Gottesdienst finden, dessen Botschaft auch nicht an der Wirklichkeit vorbei gehen kann, zumal zur gleichen Zeit in Bethlehem oder Beit Jala oder Ramalla keine Gottesdienste stattfinden können.

Man könnte glauben, dass sich das Bild abrunden ließe im Gespräch mit Journalistinnen und Journalisten, die für deutsche Zeitungen berichten. Deutlich wird aber vor allem, dass es gegenwärtig kein Bild gibt, das tatsächlich die augenblickliche Wirklichkeit wiedergibt. Jeder sammelt seine Informationen, ohne zu wissen, welchen Informationswert und Wahrheitsgehalt sie haben. Es bleiben Momentaufnahmen einer Wirklichkeit, die sich stündlich ändern kann. Es bleiben Bilder, die sich morgen schon als Trugbilder herausstellen können. Ich bin es nicht, der ein Urteil fällen könnte. Mir fällt ein Wort aus dem Gespräch in der Leo-Baeck-Schule ein: "Man richtet nicht einen Menschen in der Zeit seiner Trauer." Dies Wort gilt für alle, die hier leiden und trauern.

Blick auf Bethlehem
Ich sitze auf dem Balkon des Hotels. Der Blick ist phantastisch. Ich schaue hinüber nach Bethlehem. Schön liegt es da - inzwischen liegt die Morgensonne auf der Stadt - friedlich, so scheint es, liegt es da. Die Nacht war wohl ruhig, doch was sagt das schon! Gleich kann das Bild voller Schönheit zerrissen werden durch Gewehrsalven oder durch ein neues Attentat. Es bleibt mir nur der sehnliche Wunsch, dass Frieden werde in diesem Land und in der Welt.

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Evangelischer Arbeitskreis Kirche und Israel in Hessen und Nassau
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