Eine sterbende Hoffnung

Marokko: Regelmäßigen Minjan gibt es nur noch in Casablanca und Marrakesch

von Philipp Gessler

Das Judentum Marokkos gehört zu den ältesten der Welt. Seit der Antike, seit knapp zweitausend Jahren existieren zwischen Atlas, Mittelmeer und Atlantik Jüdische Gemeinden. Sie gehörten zu den größten und stolzesten in der arabischen Welt.

Noch in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die Zahl der Juden in diesem nordafrikanischen Staat auf bis zu vierhunderttausend Mitglieder geschätzt. Heute soll es nur noch knapp zehntausend Marokkaner jüdischen Glaubens im uralten Königreich geben. Geht eine große jüdische Tradition zu Ende?

Wer Jacques Zafrani im ein wenig zu voll gestellten Büro seines Honda-Autohauses im modernen Stadtteil Marrakeschs, dem Viertel Guéliz, besucht, kann sich dieses Eindrucks nicht erwehren. Der graumelierte Herr im Business-Anzug ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde einer Stadt, die noch vor etwa fünfzig Jahren über zwanzigtausend Mitglieder zählte - und heute gerade mal zweihundertvierzig Seelen vereint, wie Zafrani ohne Umschweife mitteilt. Etwa hundertzwanzig jüdische Familien lebten hier noch, erzählt er, jeder kenne jeden. Man treffe sich vor allem in den drei noch betriebenen Synagogen der Stadt. Bis auf Ausnahmen bekomme man an jedem Schabbat einen Minjan zusammen. Dafür, sagt Zafrani, sorgten auch die Verantwortlichen der Synagoge, daß nie zu wenig Männer zum Gebet erschienen.

Ein bißchen wie das Pfeifen im Winde klingen diese beruhigenden Töne, denn der Niedergang ist nicht nur in Marrakesch zu beobachten. Wo es einst blühende Jüdische Gemeinden gab, etwa in Tanger, Meknes und Fes, verwaltet man heute im besten Fall den Mangel. Diese Gemeinden, das ist den Verantwortlichen klar, sind zu klein geworden, um die eigenen Einrichtungen für längere Zeit noch unterhalten zu können.

Und das ist die Lage in den noch größeren Städten. In den kleineren ist die Situation schlicht desaströs. Gab es etwa, so wird berichtet, in Essaouira vor knapp einhundert Jahren noch eine jüdische Bevölkerungsmehrheit mit stolzen über dreißig Synagogen, ist die Zahl der Gemeindemitglieder heute auf ein knappes Dutzend gesunken. Die letzte Synagoge ist längst geschlossen. Wer beten will, muß nach Casablanca oder Marrakesch fahren. Im Wüstenwind verweht sind die Gemeinden in Oasen am Rande der Sahara oder auf dem Lande - Gemeinschaften, die teilweise eine Jahrhunderte alte Tradition nachzuweisen hatten. An sie erinnern nur noch manche Namen, Reste jüdischer Friedhöfe oder Grabmäler von Rabbinern, die noch in Ehren gehalten werden.

Dabei ist die Geschichte Marokkos untrennbar mit der ihrer jüdischen Minderheit verbunden, und zwar schon vor der zeitgleichen Vertreibung von Mauren und Juden aus dem "Paradies" Andalusiens im Zuge der Reconquista bis 1492: Schon seitdem die islamische Heere 683 das Gebiet des heutigen Marokko erreichten, verband sich die Islamisierung der dortigen Stämme mit der Einigung unter einem Herrscher - der zugleich den Rechtsstatus des "Dhimmi" etablierte. Das bedeutete soviel wie "Beschützer" und stellte ein Rechtsinstitut dar, das alle Untertanen nicht-muslimischer, aber monotheistischer Religion erhielten: also die Juden und Christen in Marokko.

Dieser halbfreie "Dhimmi"-Status bestimmte das Leben der Juden Marokkos über Jahrhunderte. Im zwanzigsten Jahrhundert verlor er an Bedeutung - und erst 1957, unter König Mohammed V., wurde das Verbot für Juden aufgehoben, öffentliche Ämter zu bekleiden, sie wurden ihren muslimischen Mitbürgern rechtlich gleichgestellt. Gut vier Jahrzehnte zuvor, 1912, als Marokko unter französischem Protektorat stand, erhielten Juden das Recht, dort zu wohnen, wo sie wollten. Zuvor hatten sie in der "Mellah" leben müssen, einem jüdischen Viertel, das aber mehr war als das übliche Ghetto europäischer Prägung.

Der "Mellah" fehlte in der Regel der Muff und die Enge, die etwa die Frankfurter Judengasse des Mittelalters so schwer erträglich machte. Meist in der Nähe des Palastes angesiedelt, gewährte die "Mellah" nicht zuletzt Schutz vor Pogromen, die es auch in der Geschichte Marokkos gab. Allerdings erreichten sie nie das schreckliche Ausmaß der Judenverfolgungen, unter denen die Juden Europas über Jahrhunderte zu leiden hatten. Die Juden Marokkos, so kann man es sehen, lebten ingesamt besser als ihre Glaubensschwestern und -brüder im Okzident.

Wahrscheinlich ist es diese relativ günstige Geschichte, die die Juden Marokkos so positiv über ihr Leben im Königreich sprechen läßt. Zafrani etwa redet, mit offenkundiger Lust am Klang der Worte, von einer "cohabitation multiconfessionelle", einem multikonfessionellen Zusammenleben: "Man sagt nicht: der Jude. Nein: der Marokkaner. Ich bin Marokkaner jüdischer Religion", verkündet er stolz. Im Hotel verlange man nicht Auskunft über seine Religion, sondern nur über seine Nationalität, und da sei er eben Marokkaner wie die anderen Marokkaner auch: mit den gleichen Rechten, aber auch den gleichen Pflichten.

Im Büro Zafranis wird dieser Patriotismus mehr als deutlich durch viele Fotos an den Wänden, die den Gemeindevorsitzenden beim Handschlag mit Hassan II, dem Vater des jetzigen Königs Mohammed VI., zeigen: Vor allem ein Foto hat es Zafrani angetan, weswegen er es erläutert: Hier sehe man den König Hassan II. wenige Monate vor dessen Tod beim Gespräch mit ihm, Zafrani. Das Besondere an dem Bild sei, daß es zeige, auf welche Weise der König ihm die Hand gegeben habe: Des Monarchen Linke halte die Rechte des Juden, während sich der König mit seiner Rechten in einer alten Geste ans Herz fasse: ein Zeichen besonderer Zuneigung.

So liegt es wohl nicht nur am autokratischen Charakter des nordafrikanischen Staates, daß Zafrani betont: Die marokkanischen Juden hätten das Königtum immer akzeptiert. Es gebe eine "absolute Kontinuität" in der positiven Behandlung der Juden unter Mohammed V. über Hassan II. bis zum jetzigen König - "Gott sei Dank", seufzt Zafrani. Auch wenn es unter der im Durchschnitt sehr jungen Bevölkerung Marokkos immer weniger Wissen über die große jüdische Vergangenheit gebe, sei man sich doch auch in den nichtintellektuellen Kreisen des Volkes dieser Tradition bewußt. Es gebe eine Tendenz der Zuneigung gegenüber den Juden. Man spreche dann oft von "guter Nachbarschaft", betont der erfolgreiche Autohändler jüdischen Glaubens.

Serge Berdugo, früherer Tourismusminister Marokkos, erklärte vor drei Jahren: Das Judentum seines Landes habe eine historische Aufgabe, nämlich die, der Welt zu zeigen, daß Juden und Araber im Alltag ohne größere Probleme zusammenleben könnten: "Wir haben eine jahrhundertealte Erfahrung, die wir für die Lösung des Nahostkonflikts fruchtbar machen möchten." Auch Zafrani sieht in der marokkanischen Koexistenz von Juden und Muslimen ein Beispiel für die ganze Welt. Selbst angesichts der Zunahme der Kämpfe zwischen Israelis und Palästinensern sei man sich mit den Muslimen Marokkos einig: "Der Krieg löst keine Probleme."

Zafrani war lange Zeit im marokkanischen Fußball aktiv - ein Foto seines Freudentanzes beim Gewinn des Africa-Cups 1976 durch die marokkanische Équipe schmückt eine Wand in seinem Büro. Es gebe keine Aggressivität gegenüber Juden, auch heute nicht, betont er: "Schauen Sie: Ich bin hier von muslimischen Freunden umgeben", sagt er mit einer Handbewegung in Richtung der Fotos von ihm mit marokkanischen Offiziellen.

Am Ende des Gesprächs aber mischen sich dann doch Zweifel über die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft in Marokko. Wie wird es in "zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren" sein, fragt sich Zafrani. Werde es noch Jungen geben, die die Barmizwa machen? Könne man auch in Zukunft noch jüdische Hochzeiten feiern? Sei nicht die Rückkehr der emigrierten Juden die "einzige Hoffnung", die es noch gebe? Noch sei in der jüdischen Jugend keine Erneuerung zu registrieren, die Gemeinschaft werde immer älter. Man müsse Vorsorge treffen, sagt Zafrani, daß die jüdische Kultur und die Synagogen erhalten blieben. Und dennoch: "Ich habe Hoffnung für die Zukunft." Es ist eine sterbende Hoffnung.

Jüdische Allgemeine, 12.4.2002

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