Es wird Zeit für Urlaub

Briefwechsel zwischen Navid Kermani (Köln und Berlin) und Natan Sznaider (Haifa) über die Situation in Israel

7. Februar 2002

Lieber Herr Sznaider,
es war gut, mit Ihnen durch Haifa zu gehen. Das Hummus in der Altstadt war das beste, das ich je gegessen habe. Und das ausgerechnet in Israel! Ihr Land ist viel schöner und schrecklicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Herzlich grüßt Sie
Ihr Navid Kermani

4. März

Lieber Herr Kermani,
nicht einmal ich selbst kann mich entziehen. Und ich glaube, dass die Veränderung, die ich an mir selbst beobachte, in den letzten Wochen bei vielen Israelis, auch aus meinem engeren Freundeskreis, eingetreten ist. Wir sind praktisch gezwungen worden, die Position des Beobachters aufzugeben und sind zu Teilnehmern geworden, was exakt die Absicht der Terroristen ist. Die letzten Anschläge sind einfach in "meine Welt" eingedrungen, ob es sich um das Restaurant in Tel Aviv handelte, wo ich oft esse, oder um Café Kafit in Jerusalem, wo ich eigentlich immer bin, oder der Anschlag in Netanja, der neben der Wohnung meines Vaters stattfand. Es war mir einfach nicht mehr möglich, die Situation der Palästinenser zu verstehen, ihr Leiden in meine Überlegungen einzubeziehen. So selbstlos kann ich leider nicht sein, wenn plötzlich die eigene Existenz auf dem Spiel steht. Ich habe mir ihre Rahmenbedingungen aufdrücken lassen, it's either us or them.
Und plötzlich wurde aus "mir" ein "uns", und ich war erfüllt von einer Mischung aus Hass und Angst. Sie hörten damit einfach auf, unschuldige Opfer zu sein, sie wurden zu schuldigen Tätern. Natürlich "verdienen" die Palästinenser ihren eigenen Staat, wie alle anderen Menschen auch: Sollen sie ruhig von den Mitgliedern ihrer eigene Ethnie unterdrückt werden. Das nennt man dann Freiheit.
Aber wie kann denn so ein Palästina innerhalb von Gaza und Westbank mit Israel dazwischen wirklich funktionieren? Wie sollen sie denn in einem solchen Staatsgebilde leben? Aber darüber macht sich wirklich keiner Gedanken, und man leiert lieber das Mantra des Selbstbestimmungsrechts herrunter, ohne sich über die Konsequenzen Rechenschaft abzugeben. Dass die Siedlungen weg müssen, ist natürlich klar, nicht nur Leuten wie mir. Dass sie nicht weg kommen werden, ist ebenfalls klar. Was soll ich sagen? Ein einziges Desaster hier, und mein persönliches Problem ist, dass ich mich in diesem Land wohl fühle und auf die Dauer eigentlich nirgendwo anders leben will und das Leben in Deutschland und in den USA nur dann gut finden kann, wenn ich weiß, dass ich wieder zurückkommen kann.
Ihr Natan Sznaider

14. März

Lieber Herr Sznaider,
Ihre Zeilen sind sehr berührend. Was soll ich Ihnen denn sagen? Soll ich Ihnen von außen zurufen, nicht das Paradigma von It's us zu übernehmen? Nicht die Ursachen zu vergessen? Wenn in Ihrem Café eine Bombe hochgeht. Ja, wahrscheinlich muss ich das tun, obwohl ich verstehe, dass Sie nicht mehr die Kraft dazu aufbringen, wenn Ihr Vater sich vor den Kugeln der Terroristen verstecken muss. Ich muss es tun, einfach weil ich nur zwei Möglichkeiten sehe, die - vielleicht - dazu führen könnten, dass Sie sicher in einem Café sitzen und Ihr Vater sicher leben kann: Das Ende der Besatzung oder die Vertreibung der Palästinenser. Solange es gleichzeitig Besatzung und Palästinenser gibt, wird es Gewalt geben. Darüber mögen Sie als Unbeteiligter, als Friedenswilliger, als Kritiker der israelischen Politik, als Israeli wütend sein, aber Sie wissen, dass es so ist. Und Sie täuschen sich: die Palästinenser haben sich längst mit Israel abgefunden. Dieser Eindruck, den ich auf meiner Reise gewonnen habe, ist sehr stark; selbst die Extremisten haben sich damit abgefunden, mögen sie anderes schreien. Das reicht vielleicht nicht für Versöhnung, aber es würde für einen Frieden reichen. Die Versöhnung kommt dann vielleicht später einmal sukzessive, nach ein paar Jahrzehnten. Dass ein palästinensisches Homeland nicht lebensfähig ist, ist klar; aber zumindest würde es die Lage zunächst deeskalieren, es würde ein noch größeres Blutvergießen in der ganzen Region vielleicht fürs erste verhindern. Man muss sich nur die alternativen Szenarios ausmalen, um sich für schlechte, nicht praktikable Lösungen zu erwärmen. Es ist gut, dass Sie den Wandel präzise benennen. Aber der Wandel ist nicht gut, mögen mir seine Ursachen offenkundig und sehr verständlich sein. Mit herzlichen Grüßen und nochmaligem Dank bin ich
Ihr Navid Kermani

15. März

Lieber Herr Kermani,
ich weiß ja, dass Sie Recht haben und die Besatzung aufhören muss. Aber wer sagt, dass dann der Terror tatsächlich aufhören würde? Und solange es Terror geben wird, solange werden die Siedler sich "sicher" fühlen können, und solange die Siedler sich sicher fühlen können, solange wird es Terror geben. Es wird Zeit für Urlaub. Danke nochmals für den reality-check. Wir haben uns jahrelang der Illusion hingegeben, dass es nur um die Gebiete geht, die 1967 erobert wurden. Vielen von uns war gar nicht klar, dass das Leben diesseits der grünen Linie für viele der anderen Seite auch nicht legitim war. Solange der Terror sich "nur" in den Besetzten Gebieten abspielte, konnte man sich weiterhin dieser Illusion hingeben. Dagegen die israelische Rechte hat immer schon argumentiert, dass es nicht um die besetzten Gebiete von 1967 geht, sondern um alles, um Eretz Israel. Dass es keinen Unterschied zwischen Haifa und Hebron gibt. Und als die Bomben eine nach der anderen im Landeskern hochgingen, als es auch bei uns immer unsicherer wurde, fingen die Leute an, die Dinge anders zu betrachten, so wie die Rechten es immer schon getan hatten. Wer sagt denn, dass das Ende der Besatzung auch das Ende des Terrors bedeutet? Und wenn nicht?
Ihr Natan Sznaider

5. April

Lieber Herr Sznaider,
nun ist alles so, wie Sie es für den Fall vorausgesehen haben, dass der Terror weitergeht. Offenbar muss man sich immer nur an das worst case scenario halten, dann weiß man, was die Zukunft bringen wird. Ein freundschaftlicher Gruß von
Ihrem Navid Kermani

15.4.

Lieber Herr Kermani,
ich weiß nicht mehr, wo es war, oben auf dem Berg oder unten am Strand, als ich Ihnen von der Kraft des Terrors erzählte, die hier alles ändern wird. Ich bin mir aller Kausalitäten bewusst, der jahrelangen Unterdrückung und Besatzung, die Angst, die Scharon bei der anderen Seite erzeugt, die Kompromisslosigkeit und die institutionalisierte Grausamkeit unserer Seite. Und dennoch: Trotz Armee, trotz aller Kraft, hat der Terror es geschafft, die Machtverhältnisse auszugleichen. Die Interviews mit den Selbstmörderinnen lassen doch wirklich keine Hoffnung aufkommen. Sie sagen: "Ihr weint, wenn Ihr sterbt, und wir feiern". Glauben Sie, dass mir nicht klar ist, dass solche Feinde kaum zu besiegen sind? Nun bin ich in der privilegierten Position, einer globalen Elite anzugehören. Mein frame of reference sind die Menschenrechte, ist die Gerechtigkeit, und als mehrsprachiger Akademiker kann ich sogar weggehen, wenn wirklich alle Stricke reißen. Für über neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung ist das keine Option. In ihrem Bewusstsein geht es um das einzige Zuhause, geht es darum, dass die Kinder sicher aus der Schule kommen, dass man sich sicher, verdammt noch mal: wenigstens nur sicher fühlen kann, wenn man auf die Straße geht. Die Rechnung des Terrors ging in der Hinsicht nicht auf; ich bin überzeugt, dass die Terroristen kühl und zynisch damit rechneten, die Israelis weichklopfen zu können, sie so mürbe zu machen, bis sie zu den gewünschten Konzessionen bereit sind. Das Gegenteil ist eingetreten. "Wir" sind grausamer geworden, noch kompromissloser, noch viel mehr bereit, der anderen Seite zu beweisen, dass wir der Grausamere sind. Nur so ist die Grausamkeit der israelischen Armee bei diesen Vorstoß zu erklären, die ganz bewusst die globale Sympathie aufs Spiel setzt als Taktik, als Gegenterror. Was wird es bringen? Ist noch überhaupt nicht abzusehen. Die eigentliche Tragödie ist die Fehleinschätzung der Palästinenser, die andere Seite "weichklopfen" zu können. Wenn man also der Meinung ist, dass die Palästinenser keine andere Wahl als die des Terrors haben, muss man das der anderen Seite auch zugestehen. Ich persönlich bin ganz verzweifelt. Sehe im Moment jenseits des Krieges keine Lösung und glaube nicht mehr an die Kompromissbereitschaft der anderen Seite. Ich gestehe zu, dass wir genug getan haben, um genau diesen Zustand herbeizufuehren, aber was jetzt? Und glauben Sie mir, es ist nicht so, dass Scharon sein Volk ins Verderben fuhrt, sondern dass sein Volk von Scharon erwartet, unnachgiebig zu sein. Ihr Natan Sznaider 15. April Lieber Herr Sznaider, Sie haben recht, mit dem einzigen und katastrophalen Zusatz: dass das Gegenteil ebenso stimmt und sich genau deswegen überhaupt kein Ausweg auftun will: dass die Israelis ebenfalls gelaubt hatten, die Gegenseite durch Besatzung und Terror "weichklopfen" zu können; dass die Bereitschaft der Palästinenser, die israelischen Opfer zu sehen, mit ihnen zu fühlen, aus Gründen, die mir erschreckend verständlich sind, praktisch nicht existiert. Wenn ich Ihr Nachbar wäre, würde ich wohl genauso denken wie Sie, und wenn ich in Ramallah lebte, würde ich mich vielleicht über eben jenen Anschlag freuen oder ihn zumindest mit Achselzucken zur Kenntnis nehmen, der Ihnen das Leben kosten könnte. Automatic Pilot. Aber wie kommen Sie da raus? Bitte stellen Sie sich diese Frage immer wieder und nach jedem Anschlag neu. Täter und Opfer sind in diesem Konflikt keineswegs eindeutig voneinander unterschieden, aber etwas dagegen sehr wohl, und da muss jede nach wie vor jede Lösung ansetzen: Besatzer und Besatzte. Das ist ein politischer Unterschied, nicht zwingend ein moralischer. Was mich an Ihren E-mails erschüttert, ist gerade, dass ich an dem Prozess, den Sie in Ihrer vorletzten Mail benennen, teilhaben durfte, dass ich ihn - wie politisch falsch und verheerend ich ihn finden muss von hieraus - auch verstehe. Ich habe Sie in Haifa erlebt, und ich spüre, dass etwas seitdem mit Ihnen geschehen ist. Mir selbst würde es womöglich sehr ähnlich ergehen. Gerade weil ich es Ihnen nicht vorwerfe, macht es mir Angst. Wie immer herzlich bin ich
Ihr Navid Kermani.


Der Islamwissenschaftler Navid Kermani, Jahrgang 1967, ist zur Zeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Natan Sznaider, Jahrgang 1954, ist Dozent für Soziologie und Kulturwissenschaften am Academic College in Tel Aviv.
In der Juni-Ausgabe von "Lettre international" wird dieser Briefwechsel (per E-mail) in einer erheblich erweiterten und aktualisierten Form erscheinen. FR

Frankfurter Rundschau, 18.5.2002

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