"Die Sehnsucht, Opfer zu sein"

Fragen an Günther Bernd Ginzel von Britta Baas

PUBLIK-FORUM: Herr Ginzel, haben Sie Verständnis für die Politik Ariel Scharons?

GÜNTHER BERND GINZEL: Ich weiß, warum Scharon so handelt, wie er handelt. Aber ich halte dieses Handeln und die dahinter stehende politische Philosophie für eine Katastrophe. PUBLIK-FORUM: Warum?

GINZEL: Sie wird zwangsläufig weder Israel noch den Palästinensern den Frieden bringen. Sie ist genauso kontraproduktiv wie der Einmarsch in den Libanon 1983. Gleichzeitig ist nachvollziehbar, dass Scharon handeln musste: Das war er seinem Ruf und seiner Wählerklientel schuldig. Ich habe vor einem Jahr schon den Verdacht geäußert, dass die Politik von Arafat darauf abzielt, dass die Israelis die Gebiete wieder besetzen. Arafat und Scharon bedingen einander. Scharon wäre nicht israelischer Ministerpräsident ohne Arafat und Arafats Politik des Terrors.

PUBLIK-FORUM: Das heißt: Ein Frieden im Nahen Osten ist nur möglich, wenn es keinen Arafat und keinen Scharon mehr in Führungspositionen gibt?

GINZEL: Es ist zu kurz gegriffen, wenn man sich einbildet, durch das Auswechseln von Personen einen grundsätzlichen Wandel herbeiführen zu können. Denn beide Politiker sind durch den Willen der Mehrheit ihrer jeweiligen Bevölkerung an der Spitze. Und beide haben ihre Klientel mehr im Auge als das Wohl und Wehe des Nahen Ostens.

PUBLIK-FORUM: Wenn jeweils eine Mehrheit der Bevölkerung hinter diesen Männern steht - die eine Politik betreiben, die vom Trauma der Gewalt geprägt ist; muss das bedeuten: Auch die Bevölkerung ist traumatisiert. Unheilbar?

GINZEL: Zumindest ohne Zweifel traumatisiert. Und zwar bis zu einem Punkt, dass sie vollkommen irreal, politisch unsinnig reagiert, nur noch der Emotion folgt. Das gilt für beide Seiten! Beide leben mit einem Opfertrauma. Vor allem aber: Sie leben auch davon.

PUBLIK-FORUM: Sie leben davon?

GINZEL: Sie leben davon, sich selbst als Opfer darzustellen. Letztendlich können sie sich überhaupt keine andere Politik vorstellen als die, als Opfer zu reagieren. Das macht es ja so schwer! Ich gehe so weit zu sagen: Palästinenser wie Israelis haben eine geradezu tragische Sehnsucht danach, Opfer zu sein - und nur in der Opferrolle die eigene Identität bestätigt zu finden. Zum Beispiel die Israelis: Sie sehen im Moment - völlig verzweifelt - definitiv ihre Existenz gefährdet. Und sie haben dafür durchaus Argumente: dass nämlich ein Teil der arabischen Staaten und ein Teil der Palästinenser Israel vernichten wollen. Dass man sich auf die Europäer genauso wenig verlassen kann wie die Juden zur Zeit der Schoa. Dass die Welt die Juden - sprich Israel - erneut verraten wird und hinterher große Krokodilstränen geweint werden, wenn wieder ein paar Millionen Juden umgekommen sind. Und dementsprechend sagen sie: Lasst die Europäer brüllen, schreien, toben! Es interessiert uns nicht, was die Welt sagt. Wir mache deutlich: Mit dem Staat Israel ist ein neues Moment in die Geschichte gekommen; wir sind zum letzten Mal in Auschwitz "freiwillig" zur Schlachtbank gegangen. Jetzt werden wir uns mit allen Mitteln wehren.

PUBLIK-FORUM: Der Nahostkonflikt hat also mit dem Holocaust zu tun.

GINZEL: Nicht unmittelbar. Aber er beeinfluss das gesamte Tun und Denken auch der nachgeborenen Generationen. Zum einen sehr positiv: in den Menschenrechtsorganisationen, in den Bürgerinitiativen, die sehr bewusst die Verbrechen der Besatzung aufdecken. Und die dafür gesorgt haben, das israelische Soldaten ein Widerstandsrecht gegen unmenschliche Befehle haben. Aber im Negativen wirkt sich die Vergangenheit auch aus. Nach dem Motto: Jetzt müssen wir zusammenstehen! Wir Juden waren zur Zeit der Schoa zerrissen, haben uns Machtkämpfe geleistet und waren nicht solidarisch untereinander. Diesen Fehler dürfen wir nicht noch einmal machen.

PUBLIK-FORUM: Dass in der jüdischen deutschen Öffentlichkeit beständig »uneingeschränkte« bis »kritische Solidarität« mit Israel eingefordert wird, hängt damit zusammen?

GINZEL: Ja. Und das hängt natürlich auch damit zusammen, dass man den einfachen Weg wählt. Den der fast schon blinden Solidarität mit der einen Seite. Wie im Übrigen auch islamischerseits. Das aber ist kontraproduktiv.

PUBLIK-FORUM: Was wäre produktiv?

GINZEL: Produktiv wäre ein Aufruf zum Frieden insgesamt. Ein Aufruf zum Stoppen des Tötens an alle Seiten. Und entscheidend wäre: das Gespräch zu suchen mit Palästinensern, mit Arabern, mit Muslimen, um mit ihnen gemeinsam für einen Frieden zu demonstrieren.

PUBLIK-FORUM: Was müsste sich ändern, um so etwas in die Wege zu leiten?

GINZEL: In Deutschland zum Beispiel müssten wir schleunigst wegkommen von einer gespenstischen Pseudo-Diskussion, in der es in Wirklichkeit um deutsche Befindlichkeiten geht, um die eigene Geschichte und die Frage: Inwieweit haben wir uns von Auschwitz befreit? So ist die Liebe, die derzeit zu den Palästinensern grassiert, überwiegend Heuchelei und hat eher etwas damit zu tun, deutsche Schuld zu verdrängen, als die Palästinenser ernstlich zu unterstützen. Denn das Entscheidende ist, dass Israel der Feind ist. Ohne die Juden, ohne Israel als Feind wären den meisten Leuten, die heute für Palästina schreien, die Palästinenser genauso gleichgültig wie etwa die Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika oder Asien.

PUBLIK-FORUM: Woraus schließen Sie das?

GINZEL: Daraus, dass offenbar ausschließlich die Palästinenser einem großen Teil der Menschen am Herzen liegen - und nicht all die anderen Völker, die bedroht werden. Für die geht man ja nicht auf die Straße.

PUBLIK-FORUM: Was ist mit jüdischen Kreisen weltweit? Ziehen viele nicht mindestens ebenso irrationale Schlüsse aus der Geschichte?

GINZEL: Ja. Wenn französische rechte Juden mit Messern und Knüppeln auf jüdische Friedensaktivisten losgehen, dann sehen wir, wie tief die Spaltung ist. Und wir müssen vor allem erkennen, dass die jüdische Gesellschaft nicht davor gefeit ist, Rechtsextremisten hervorzubringen- die sich unter dem Deckmantel des Kampfes für das Existenzrecht Israels einmischen.

PUBLIK-FORUM: Haben Sie angesichts dieser Lage Hoffnung auf einen Frieden im Nahen Osten

GINZEL: Vorläufig nicht, und das lässt mich zutiefst verzweifeln. Denn die Traumatisierung auf beiden Seiten führt zu einer paranoiden Stimmung, die kaum aufzulösen ist. Kritiker in der eigenen Bevölkerung - seien es Juden, seien es Palästinenser - werden zu Verrätern gestempelt. Und wenn es doch einmal nach Frieden aussehen sollte, wenn Verhandlungen in Gang kommen oder man auch nur einen Waffenstillstand vereinbart, haben Selbstmordattentate Konjunktur. Dann massieren sich die Angriffe, die Überfälle auf jüdische Zivilisten. Nur das erklärt die Unterstützung der israelischen Bevölkerung für Scharon. Das ist mir ganz wichtig zu sagen! Die Kräfte, die dafür verantwortlich sind - ich denke vor allem an die Hamas, derer Arafat sich auch bedient-, haben bewirkt, dass Israelis, die nicht militant sind, Scharon mindestens gewähren lassen, weil sie sagen: Irgendwas müssen wir tun. Da wirkt das Trauma! Das letzte Mal, dass Juden beim Seder ermordet wurden, war beim Aufstand des Warschauer Gettos. Wenn die Palästinenser unbedingt in diese Fußstapfen treten wollen - psychologisch -, dann haben sie jetzt die Rechnung. Und ich beklage dies zutiefst!

Publik-Forum, 8/2002

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